Melmun Bajarchuu
Wider die koloniale Amnesie

Die Dramaturgin und Kuratorin Melmun Bajarchuu will die Theaterwelt zugänglicher und gerechter machen.
Die Dramaturgin und Kuratorin Melmun Bajarchuu will die Theaterwelt zugänglicher und gerechter machen. | Foto (Detail): © Ithgekhui Gangaamaa

Die Kulturlandschaft muss diskriminierungsfrei, nachhaltig, diverser – kurz: zeitgemäßer – werden, davon ist Melmun Bajarchuu überzeugt. Als Teil der „Initiative für Solidarität am Theater“ will sie die Theaterwelt zugänglicher und gerechter machen.
 

Von Ceyda Nurtsch und Melmun Bajarchuu

Da, wo Kunst, Theorie und Politik aufeinandertreffen, bringt Melmun Bajarchuu sich ein: Wie kann eine gleichberechtigte Theaterwelt entstehen? Wie können Debatten um Sexismus und Rassismus am Theater, popularisiert durch die Hashtags #metoo und #BlackLivesMatter, zusammengedacht werden mit Kämpfen für Zugänge und Barrierefreiheit aus anti-ableistischer und anti-klassistischer Perspektive, um gemeinsam für ein besseres Theater einzutreten? Was hat das alles mit einem kapitalistisch geprägten, leistungsorientierten Kulturbetrieb zu tun? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Dramaturgin und Kuratorin unter anderem in ihrer kulturpolitischen Arbeit bei der AG Zugänge und Transformation des Bundesverbands Freie Darstellende Künste (BFDK), in der Initiative für Solidarität am Theater (ISaT), bei der produktionsbande – netzwerk performing arts producers, in ihrer Tätigkeit als Jurymitglied in Hamburg und Berlin sowie als Peer-to-Peer-Beraterin im Bereich Antidiskriminierung beim Performing Arts Programm Berlin.

Das Problem ist das koloniale Erbe

„Das Theater in Deutschland ist zum Glück steuerfinanziert und hat einen Bildungsauftrag. Nämlich, eine Zivilgesellschaft zu formen, die sich auch in politischen Kontexten auskennt und sich engagiert“, so Bajarchuu, die Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft in Hamburg studiert hat. „Diese Aufgabe kann das Theater in dieser Form, die es jetzt hat, nämlich sehr feudale Strukturen, die wir eigentlich in unserer Gesellschaft abgeschafft haben, einfach nicht schaffen.“

Um das zu ändern, gründete sie gemeinsam mit Mitstreiter*innen 2017 die „Initiative für Solidarität am Theater“ (ISaT). Diese versteht sich als intersektional agierendes Bündnis, das auf bestehende Ungleichverhältnisse und hierarchische Machtstrukturen im Theater aufmerksam machen und Strategien dagegen entwickeln möchte. Denn für die Engagierten in der ISaT sind die separat geführten Debatten um Themen wie Rassismus und Sexismus nur fragmentarische Auseinandersetzungen mit dem eigentlichen Problem: dem kolonialen Erbe der Dominanzgesellschaft. Das zeige sich nach wie vor in der Ausbildungs-, Arbeits- und Kurationspraxis und darin, dass Menschen in privilegierten Positionen entschieden, wer wie am Kunstprozess beteiligt sei, welche Themen behandelt würden und an wen sich das Ergebnis richte.

Komplexe Biografien anerkennen

Damit die Perspektiven und Wissensproduktionen marginalisierter Menschen sichtbarer werden, hat Bajarchuu gemeinsam mit weiteren post*migrantischen und jüdischen Kulturpraktiker*innen den Podcast Lose Fäden produziert. Darin erzählen Zeitzeug*innen, Akademiker*innen und Aktivist*innen über ihren Widerstand gegen die Normalisierung von strukturellem Rassismus und rassistischer Gewalt seit dem Mauerfall. In ihrer kuratorischen Praxis interessiert sie sich für die Schaffung von Räumen und Formaten der künstlerischen Zusammenkunft minorisierter Positionen und forscht zu Dekolonisierungspraktiken im Kulturbetrieb, aktuell in dem vom Fonds Darstellende Künste geförderten Recherchevorhaben „UNSER*deutsch – Unlearning Mehrheitsgesellschaft“.

Für einen Perspektivwechsel in der Kulturlandschaft fordert Bajarchuu: Marginalisierte Menschen sollten nicht auf singuläre Identitätsmarker wie „Schwarz“, „mit Fluchterfahrung“, „behindert“ oder „klassismuserfahrend“ reduziert, sondern ihre komplexen Biografien anerkannt werden. Sie sind mehr als das, was eine vermeintliche Mehrheitsgesellschaft auf sie projiziert. Ausschreibungstexte und Bewerbungsprozesse sollen inklusiver und Jurybesetzungen diverser gestaltet werden. Zum einen werde so die Kulturpolitik gleichberechtigter. Und zum anderen, sagt Bajarchuu, komme die Pluralität der Gesellschaft damit auch in der Theater- und Kulturlandschaft zum Ausdruck.

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