Mariagiulia Serantoni & Andrea Parolin
Colère (and care) – a counterfigure named hope

Mariagiulia Serantoni & Andrea Parolin: „Colère (and care) – a counterfigure named hope“
Mariagiulia Serantoni & Andrea Parolin: „Colère (and care) – a counterfigure named hope“ | © Andrea Parolin

Im Rahmen einer Kooperationsvereinbarung zwischen dem Conseil des arts et des lettres du Québec, dem Goethe-Institut Montreal und der fabrik Potsdam – Internationales Zentrum für Tanz und Bewegungskunst erhalten die Künstler*innen Mariagiulia Serantoni und Andrea Parolin eine Forschungs- und Schaffensresidenz in den Studios des Circuit-Est centre chorégraphique. Mariagiulia und Andrea erzählen uns hier von ihrer Arbeit und ihren Erfahrungen in Montreal. 

Von Caroline Gagnon

(...) diese Arbeit (zielt) darauf ab, die Geschichten der Wut (von) Frauen aus verschiedenen Generationen zu integrieren.
Mariagiulia Serantoni
Erzählt doch ein wenig über euch. Wie seid ihr zum Tanz und zur Musik gekommen? Und warum habt ihr euch in Deutschland niedergelassen? 

Mariagiulia: Nachdem ich verschiedene Sportarten ausprobiert hatte, meldete mich meine Mutter in einer Tanzschule in Bologna an. Ich war damals neun Jahre alt. Ich habe mich in den Tanz verliebt und seitdem nie wieder aufgehört zu tanzen. Anschließend habe ich drei Jahre lang an der Paolo-Grassi-Schule für darstellende Künste in Mailand studiert. Als ich später als zeitgenössische Tänzerin zu arbeiten begann, nahm ich an Workshops in verschiedenen europäischen Städten teil und verbrachte einige Zeit in Berlin, um Kurse zu besuchen und das kulturelle Leben zu genießen. Dort sah ich Dinge, die meinen Interessen besser entsprachen: Es gab Improvisation und völlig ausgefallene Performances, die mir im Gedächtnis blieben und mich lange beschäftigten. Also beschloss ich, mich in Berlin niederzulassen. Zunächst arbeitete ich als Tänzerin, dann schuf ich meine eigenen Werke. Das erste heißt Eutropia und ist vom Buch Die unsichtbaren Städte des Autors Italo Calvino inspiriert. Darin verbinde ich Bewegung und Klang. Anschließend schrieb ich mich für den Masterstudiengang Choreografie und Forschung in Montpellier ein und kehrte dann nach Berlin zurück. In dieser Zeit begann ich, meine Praxis des elektrischen Körpers zu entwickeln.

Andrea: „Ich habe mich schon immer für Technik interessiert. Mit elf Jahren begann ich, klassischen Gitarrenunterricht zu nehmen. Ich habe mir viel selbst beigebracht, bis ich schließlich Ton- und Videotechnik an einer Filmschule in Mailand studierte. Besonders interessierte ich mich für Sounddesign. In dieser Zeit lernte ich Mariagiulia kennen. Als ich nach Berlin zog, begann ich als Tontechnikerin zu arbeiten. Ich war fasziniert von den vielen Möglichkeiten und Chancen, die die Stadt bot. Ich fand ein ideales Umfeld, um meine Kreativität mit Klang zu erkunden, wie ich es in Mailand nicht hatte. 

Eine Wut, die von Mutter zu Tochter weitergegeben wurde

Seit einigen Jahren entwickelt ihr eine Praxis für Körper und Stimme, die ihr „Le Corps Électrique“ (der elektrische Körper) genannt habt. Das Projekt, an dem ihr im Rahmen der Residenz arbeitet, trägt den Titel „Colère (and care) – a counterfigure named hope”. Könnt ihr uns etwas über dieses Projekt erzählen und darüber, wie euch die Praxis des „elektrischen Körpers” dabei hilft, dieses Thema zu untersuchen? 

Mariagiulia: Die Idee zu diesem Projekt entstand aus einem Gefühl, einem Instinkt heraus: dem Gefühl, dass meine Wut von meiner Mutter auf mich übertragen wurde und dass vielleicht auch ihre Wut von ihrer Mutter auf sie übertragen wurde – eine Wut, die von Mutter zu Tochter weitergegeben wurde. In der Praxis des elektrischen Körpers erzeugt das Vibrieren des Körpers Energie. Diese Energie weckt Emotionen, und diese Emotionen erzeugen wiederum Energie. Durch das wiederholte Erkunden dieser Zyklen können sich Emotionen verändern und transformieren. In diesem Fall ermöglicht mir dieser Prozess, Wut zu erforschen und sie in etwas anderes zu verwandeln – vielleicht in Fürsorge und Hoffnung. 

Die Arbeit am elektrischen Körper hat mich dazu gebracht, eine Technik namens AGiTA zu entwickeln. Der Begriff stammt aus dem Italienischen und bedeutet „zittern” sowie „berührt werden”. Schwingungen und Zittern durchströmen den Körper und ermöglichen es ihm, Emotionen durch Stimme und Bewegung auszudrücken. Bei meinem aktuellen Projekt geht es weniger darum, Wut als solche darzustellen, sondern vielmehr darum, eine evokative Landschaft zu schaffen, die uns mitreißt, eine Landschaft, in der Wut, „Fürsorge” und Hoffnung Wurzeln schlagen können.

Ich möchte einige Beispiele für die von mir verwendeten Quellen nennen. Ich habe zum Beispiel ein Interview mit meiner Mutter geführt. Unser Gespräch hat mir dabei geholfen, zwei Arten von Wut zu identifizieren: die vulkanische und die unterdrückte Wut. Letztere schafft, wie meine Mutter es treffend ausdrückt, Stille in der Küche. 
Mariagiulia Serantoni

Mariagiulia Serantoni | Raffaelo Rouge Rossini

Eine wichtige Inspirationsquelle für dieses Projekt war die Lektüre des Buches L’aggressività femminile von Marina Valcarenghi, das bei Bruno Mondadori erschienen ist. Die Autorin vergleicht Aggressivität darin mit dem Selbstverteidigungsinstinkt, der bei Frauen jahrhundertelang von der patriarchalischen Gesellschaft unterdrückt wurde. Indem Frauen ihr Recht auf Aggressivität, also auf Selbstverteidigung, zurückgewinnen, finden sie ihr Selbstwertgefühl wieder. Ein weiteres sehr inspirierendes Werk ist Rage Becomes Her (Die Macht der Wut der Frauen) von Soraya Chemaly, insbesondere, da es verdeutlicht, inwieweit Wut und ihre Ausdrucksformen von geschlechtsspezifischen Stereotypen geprägt sind. 

Auch die Arbeit der bildenden Künstlerin Germaine Richier übt eine starke Anziehungskraft auf mich aus. Ihre Skulpturen sind gleichzeitig stark und zerbrechlich und verkörpern meiner Meinung nach den elektrischen Körper perfekt. Ich nutze sie, um mich in andere Menschen hineinzuversetzen. Im Gegensatz zu AGiTA, einem rein persönlichen Prozess, in dem ich mich mit mir selbst auseinandersetzte, zielt diese Arbeit darauf ab, die Geschichten der Wut anderer Frauen aus verschiedenen Generationen zu integrieren. Deshalb ist es für mich in dieser Phase wichtig, mit „den Figuren anderer Menschen” zu arbeiten. 

Ausgehend von diesen Inspirationsquellen möchte ich einen Korpus von Bewegungen und stimmlichen Ausdrucksformen schaffen, den der elektrische Körper komponieren und dekomponieren wird. Die Stimme wird der Bewegung entsprechen. 
Andrea Parolin

Andrea Parolin | © Andrea Parolin

Andrea: In diesem Zusammenhang haben wir uns davon inspirieren lassen, wie eine Wutexplosion ausgelöst wird. Wir haben uns entschieden, mit einem Kontaktmikrofon zu arbeiten. Dieses wird auf dem Boden platziert und ermöglicht es dem Körper, vorab aufgezeichnete Töne auszulösen. Diese transformiere und mische ich dann mit Mariagiulias Stimme, um bestimmte Stimmungen zu erzeugen. Diese sind immer eng mit dem energetischen Zustand des Körpers verbunden. Dabei ist es wichtig, die verschiedenen Klänge auszugleichen und eine gleichmäßige und reaktive Interaktion zwischen Mariagiulia und mir aufrechtzuerhalten. Dazu hören wir einander zu, anstatt die Bewegungen mit musikalischen Motiven zu steuern.

Die Begriffe „Wut“ und „Care“ bringen wir normalerweise nicht miteinander in Verbindung. Aber gibt es einen Zusammenhang zwischen ihnen? 

Das Wort „Care“ stammt aus dem Altenglischen „caru“ und bedeutete ursprünglich „Kummer, Angst, Leid“. Heute bezieht es sich eher auf „Aufmerksamkeit, Fürsorge, Sorge“. Indem wir der Wut Aufmerksamkeit schenken, ermöglichen wir ihr, sich auszudrücken, und wertschätzen die Menschen, die hinter dieser Wut stehen. „Care“ wird die Verbindung zwischen der Wut und dem letzten Thema dieses Projekts, dem Begriff „Hope“, der Hoffnung, sein. 

Das Projekt befindet sich noch in der Anfangsphase. Können Sie uns etwas über die Recherchen erzählen, die Sie bisher in Montreal durchgeführt haben?

Abgesehen davon, dass wir uns hier in den Studios von Circuit-Est centre chorégraphique ganz auf dieses Projekt konzentrieren können, finden wir hier zusätzliche Inspirationsquellen. Seit unserer Ankunft hatten wir unter anderem die Gelegenheit, Musiker und Komponisten aus dem Bereich der Neuen Musik kennenzulernen. Wir besuchten die Ausstellung Voix autochtones d'aujourd'hui (Indigene Stimmen von heute) im McCord Stewart Museum und erlebten einen Abend mit Breakdance-Battles im Rahmen des internationalen Streetdance-Festivals J.O.A.T. Bei dieser Veranstaltung fanden wir einige der Themen wieder, mit denen wir uns in unserem Projekt beschäftigen.

Bald beginnt die Saison für zeitgenössischen Tanz, und wir freuen uns darauf, die Arbeit der hiesigen Künstler*innen zu entdecken. Die Grande Bibliothèque ist ebenfalls eine unerschöpfliche Informationsquelle. Wir haben für die Dauer unseres Aufenthalts Mitgliedskarten erhalten und nutzen sie bereits intensiv, um mit diesen und allen anderen neuen Einflüssen unsere Forschungsarbeit zu bereichern! 
 

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