Neue Bilderbücher
Zwischen Fantasie und Realität

Bilderbücher können trösten, wenn Oma stirbt, zum Nachdenken über unsere Herkunft anregen oder eine Fluchtgeschichte mit einer Meerprinzessin verbinden. Und manche sind ganz große Kunst!

Von Holger Moos

Friemel / Jacky Gleich: Oma Erbse © © Hanser Friemel / Jacky Gleich: Oma Erbse © Hanser
Leonors Oma liegt im Krankenhaus. Es sieht gar nicht gut aus. Ihre Enkelin besucht sie, doch über den Tod mag Oma nicht reden. „Oma“, meint Leonor, „so schlimm ist es nicht, wenn du stirbst. Wir legen dich auf den Kompost, und sobald die Würmer dich gefressen haben, machen wir Erbsen aus dir.“ Da lacht Oma sich halb tot, obwohl sie schon im Sterben liegt, und meint, Erdbeeren wären auch nicht schlecht – oder vielleicht eine Karotte? Die kann Leonor an ein Pferd verfüttern, welches dann davon galoppiert, das würde ihr gut gefallen. Micha Friemels Oma Erbse, eine herzzerreißende, wunderbare Mischung aus Komik und kindlichem Pragmatismus, fängt die Trauer um den Tod der Großmutter auf. Und dazu passt sehr gut der schon fast klassische, einfache Zeichenstrich von Jacky Gleich.

Heidelbach: Marina © © Beltz & Gelberg Heidelbach: Marina © Beltz & Gelberg
In seiner ungewöhnlichen Bildsprache voller surrealistischer Elemente erzählt Nikolaus Heidelbach in Marina die Geschichte eines dunkelhäutigen Mädchens, das zwei Brüder am Meer finden und mit nach Hause nehmen. Als sie beginnt, von ihrem Leben als Meerprinzessin unter Wasser zu erzählen, wird sie vom großen Bruder verspottet und verschwindet. Eine mehrdeutig zu interpretierende, mysteriöse Geschichte, deren Bildervielfalt zum Nachdenken auffordert. Wo hört die Fantasie auf, wo fängt die Wirklichkeit an?

Woher kommen und wohin gehen wir?

Schaible: Es war einmal und wird noch lange sein © © Hanser Schaible: Es war einmal und wird noch lange sein © Hanser
Johanna Schaible ist mit ihrem Bilderbuchdebüt Es war einmal und wird noch lange sein ein außergewöhnliches Werk gelungen, das sehr originell gestaltet ist. Es ist eine Reise durch die Zeit und macht dabei Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit kleiner und größer werdenden Seiten unmittelbar begreifbar. Zunächst wird die Entstehung der Erde erzählt, dann besiedeln Dinosaurier den Planeten, Menschen ziehen durch Wüsten und über Berge, werden sesshaft und bauen so spektakuläre Dinge wie die Pyramiden. Schließlich kommen wir der Gegenwart immer näher, jede Seite schrumpft in Länge und Breite um etwa einen Zentimeter. Ab der Mitte des Buches geht es Richtung Zukunft – bis hin zu den Fragen „Was wünschst du dir für die Zukunft?“ und „Woran wirst du dich erinnern, wenn du alt bist?“ Es wundert nicht, dass Schaibles Bilderbuch für den Deutschen Jugendbuchpreis 2022 nominiert wurde – mit dieser Begründung durch die Jury: „Das Bilderbuch versetzt durch die perfekte Übereinstimmung von Inhalt und Form in Erstaunen. Ein ausgeklügeltes Konzept von Seitengrößen und -formaten rahmt die Reise in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. ... Die Bilder in Aquarell und Acryl, vielfältig gestaltet, collagiert und geschichtet, faszinieren durch das gekonnte Zusammenspiel von Farben, Flächen und Strukturen. Das ist Bilderbuchkunst, die alle Möglichkeiten auf das Feinste ausschöpft“

Schubiger / Berner: Eines Nachts im Paradies © © Peter Hammer Schubiger / Berner: Eines Nachts im Paradies © Peter Hammer
In Jürg Schubigers Nachlass wurde eine kurze Erzählung gefunden, die Rotraut Susanne Berner nun illustriert und als Bilderbuch herausgegeben hat. Auch Eines Nachts im Paradies beginnt am Anfang unserer Geschichte, bei Adam und Eva, und das im wörtlichen Sinne. Die beiden liegen anfangs auf einem Polster aus Moos und betrachten den Sternenhimmel. Während Adam sich damit zufrieden gibt, dass es unzählige Sterne gibt, will Eva es genau wissen und die Sterne am liebsten zählen. Sie beginnt nachzudenken und Fragen zu stellen, über die Ewigkeit und das Paradies. Eva ist ihren Wohnort sogar leid: „Ewig dieses Paradies, diese Kängurus, diese Gnus und Kakadus. Wir leben ja wie in einem zoologischen Garten.“ Daraufhin beschimpft sie ein wütender Adam als undankbar und bringt sie zum Weinen. Aber als er entdeckt, wie er Eva trösten kann, beginnt die eigentliche Liebesgeschichte der beiden. Rotraut Susanne Berner malt zu der Geschichte von Jürg Schubiger ihre naturgetreuen farbkräftigen Bilder. Die Tierwelt Afrikas wandert durch dieses wunderbare und philosophische Bilderbuch, das sich nicht nur an Kinder richtet.

Ein Kunstwerk von einem Bilderbuch

Prischedko: Was macht ihr denn da © © Edition Bracklo Prischedko: Was macht ihr denn da © Edition Bracklo
„Heute will ich in den Zoo gehen. Leuchtende Wegweiser zeigen mir, wo es lang geht“, lässt die 1989 in Zitomir in der Ukraine geborene Künstlerin Alexandra Prischedko, die schon lange in Deutschland lebt, die kleine Sophie sagen. Und während Sophie voller Vorfreude durch die Stadt wandert, sieht sie zahllose Bilder, die in bunten Wasserfarben alles Grau überdecken. Plötzlich ist die ganze Stadt ein Zoo. Zwei Pandabären sitzen etwa an einem Café-Tisch und wundern sich, warum die junge Frau neben ihnen in den kleinen flachen Gegenstand in ihrer Hand starrt und ihre Tischnachbarn gar nicht bemerkt. Prischedko ist mit Was macht ihr denn da? ein echtes Kunstwerk von einem Bilderbuch gelungen, in dem Fantasie und Realität in einander übergehen.
 
Rosinenpicker © © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank
Micha Friemel / Jacky Gleich (Ill.): Oma Erbse
München: Hanser, 2022. 26 S.
ISBN: 978-3-446-27257-6

Nikolaus Heidelbach: Marina
Weinheim: Beltz & Gelberg, 2022. 32 S.
ISBN 978-3-407-75632-9

Alexandra Prischedko: Was macht ihr denn da
Birkenwerder: Edition Bracklo, 2022. 28 S.
ISBN: 978-3-946986-13-3

Johanna Schaible: Es war einmal und wird noch lange sein
München: Hanser, 2021. 56 S.
ISBN: 978-3-446-26981-1

Jürg Schubiger / Rotraut Susanne Berner (Ill.): Eines Nachts im Paradies
Wuppertal: Peter Hammer, 2022. 22 S.
ISBN: 978-3-7795-0675-1

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