Eine Einführung
Reggae in Deutschland
Ob Stars wie Gentleman, international renommierte Sound Systems wie Pow Pow oder weltweit bekannte Festivals wie Summerjam – längst ist Reggae in Deutschland eine Selbstverständlichkeit geworden. In nur drei Dekaden hat sich eine am jamaikanischen Vorbild orientierte Reggae-Kultur in Deutschland etabliert – aber auch unterschiedlichste Abweichungen und Sonderwege.
Bei Hippies als entspannte Musik der „Dritten Welt“ willkommen, bei den Punks als Rebel Music verklärt, beim Schlagerpublikum als karibischer Exotismus gefeiert – zwischen diesen drei Polen spielte sich Reggae in Deutschland Ende der 1970er-Jahre ab.
Aktivisten der Achtziger
Manifestationen einer eigenen Reggae-Kultur waren nicht vorhanden: keine Artists, Produzenten, Sound Systems- also mobile DJ-Teams mit eigener Anlage, Plattenläden und kaum Journalisten, die wirklich Bescheid wussten. Wie hätte das auch anders sein können? Es waren eben nicht karibische Einwanderer, sondern weiße Mittelstands-Kinder, die sich Reggae über die Medien und Tonträger aneigneten und für ihre meist gegenkulturellen Identitätsentwürfe nutzten. Reggae zu spielen – aktiv als Musiker oder passiv mit Schallplatten – konnte nur aus einer Fan-Haltung heraus geschehen.Zum Glück gab es einige Journalisten und Musiker, die es genau wissen wollten und durch Reisen nach Jamaika oder England Einblick in die Reggae-Kultur gewannen. Diese Aktivisten sollten im Verlauf der 1980er-Jahre dazu beitragen, dass sich erste Ansätze einer Reggae-Kultur in Deutschland etablierten: Bands wie The Vision (Hannover), Herbman Band (Varel) oder Dub Invaders (München), DJ Artists wie Natty U (Dortmund) oder der bajuwarische Rebell Hans Söllner (Bad Reichenhall), Sound Systems wie Conquering Sound (Hannover), Festivals wie Summerjam (Köln), erste Plattenläden und Vertriebe wie Irie Records (Münster) oder Fotofon (Aachen).
Generation Gentleman
Neben musikalischem Talent und seiner Beharrlichkeit verdankt sich der erst regionale, dann nationale und schließlich internationale Erfolg Gentlemans vor allem seinem Streben nach Authentizität. Den „original style“ aus Jamaika nicht bloß zu kopieren, sondern zu verinnerlichen, war von Anfang an das Ziel. Seine Glaubwürdigkeit beruht auf der perfekten Beherrschung der symbolischen Codes der Reggae-Kultur, die er sich bei langjährigen Jamaika-Aufenthalten angeeignet hat.
Die bedingungslose Identifikation mit jamaikanischer Musikkultur wurde von den meisten Weggefährten Gentlemans geteilt und schließlich zum Modell für weite Teile der deutschen Reggae-Szene. So unterschiedliche Artists wie Dr. Ring-Ding, Martin Jondo, Jahcoustix oder Cornadoor, Sound Systems wie Soundquake, Supersonic oder Sentinel, Produzenten wie Ingo Rheinbay (Pow Pow) und Pionear (Germaican Records) haben sich bis heute auf den „original style“ zwischen Roots und Dancehall eingeschworen.
Breites Spektrum
So gewinnen Seeed und vorübergehend auch Jan Delay oder D-Flame um die Jahrtausendwende mit deutschsprachigen Texten, Humor und fettem Sound eine neue Generation von Hörern. Reggae auf Deutsch löst vor allem das Verständnisproblemvon Patois-Lyrics [Patois ist neben dem offiziellen Englisch die Sprache der Jamaikaner: Ein Gemisch aus afrikanischen Dialekten, versetzt mit portugiesischen, spanischen und englischen Ausdrücken] und bringt demnach die Inhalte der Texte deutlicher zum Vorschein. In der Folge von Seeed und Jan Delay reflektieren nun Artists wie Nosliw, Mono & Nikitaman, Maxim (alle auf Rootdown Records), Ganjaman oder Ronny Trettmann in ihren Texten vor allem deutsche Realitäten und gegenkulturelle Lebensentwürfe. Sie nähern sich dabei dem thematischen Spektrum „normaler“ Pop-Songs an, ohne den musikalischen Code von Reggae zu vernachlässigen. Reggae in Deutschland hat sich in alle Richtungen ausgebreitet.