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Maria Stefanopoulou
Festrede am 12. Oktober 2022

Maria Stefanopoulou © Vangelis Patsialos

Geschichte und Literatur: Epos und Elegie (12. Oktober 2022)

Sehr geehrte Frau Präsidentin des Goethe-Instituts, sehr geehrter Herr Staatssekretär, sehr geehrter Herr Bürgermeister, sehr geehrter Herr Botschafter, sehr geehrte Damen und Herren!

Die Einladung, bei dieser Jubiläumsveranstaltung zu sprechen, war eine Überraschung für mich und eine große Ehre, stürzte mich aber auch in Verlegenheit. Ich bin keine Historikerin oder Politikerin noch habe ich einen Posten im Kulturbetrieb inne, ich habe weder in Deutschland studiert noch kann ich Deutsch. Warum ich heute Abend vor Ihnen stehe, ist weil ich einen Roman geschrieben habe, der ins Deutsche und ins Französische übersetzt wurde und den Titel „Athos der Förster“ trägt. Der erste Satz des Buches lautet: „Jahrelang habe ich den Mund gehalten.“ Mit Fünfzig – zu diesem Zeitpunkt war die Zeit offenbar reif - habe ich einen Roman geschrieben, der kein historischer Roman ist, sich aber auf tatsächliche historische Ereignisse stützt. Er ist auch kein autobiografischer Roman, bezieht sich aber auf persönliche Erlebnisse, genauer gesagt auf das, was die Familie meiner Mutter 1943 in Kalavryta im Zuge der Massenerschießung der männlichen Einwohner durch Wehrmachtsoldaten erlebt hat. Hier kann man die erste Spur meiner Beziehung zu Deutschland zurückverfolgen. Was meine persönliche Erfahrung mit diesen Ereignissen betrifft, ja, so gehöre ich, geboren 1958, zur dritten Nachkriegsgeneration. Ich bin weit genug von diesen Ereignissen entfernt, um eine intellektuelle Distanz dazu zu gewinnen, aber auch nah genug dran, da mich in Athen eine schwarz gekleidete, verwitwete Großmutter aufgezogen hat, die - wie es hieß - ein „Opfer von Kalavryta“ war. Weit genug von den Ereignissen entfernt war ich auch deshalb, weil meine Familie nicht aus Kalavryta stammt und mein Großvater einfach nur auf den Posten des Provinzförsters berufen wurde. Es fällt mir nicht leicht, von mir selbst zu erzählen, aber hier und heute muss ich näher auf meine Herkunft eingehen. Ich glaube an Paul Celans Worte: „Niemand zeugt für den Zeugen.“ Aus diesem Grund will ich erläutern, warum ich glaube, dazu berechtigt zu sein. Ich bin mit dem quälenden Gedanken herangewachsen, ich sollte darüber sprechen können, was mein Großvater, der Förster, und seine Familie erlebt haben. Vielleicht hat mich auch genau das am Heranwachsen gehindert. Zugleich wollte ich es verheimlichen, denn deutsche Vergeltungsmaßnahmen waren ja eine kollektive Erfahrung der Zivilbevölkerung - nicht nur in Griechenland, sondern in allen von den Nationalsozialisten besetzten Ländern.

Aber es geht hier nicht nur um den Roman über den Förster. In der Vorbereitungs- und Schreibphase habe ich mir immer wieder überlegt, welche zentrale Rolle Deutschland schon früh in meinem Leben gespielt hat, und diese Frage beschäftigt mich immer noch. Dem Goethe-Institut war das bestimmt nicht klar, als man mich zu der heutigen Rede einlud. Mit Achtzehn habe ich mein Studium in Rom begonnen und danach in Paris fortgesetzt, wo ich lange gelebt habe. Aber es war Deutschland, das ich immer im Sinn hatte. Ich las deutsche und österreichische Prosaautoren und Dichter in italienischer, französischer und griechischer Übersetzung, immer wieder wurde ich auf Arbeiten deutscher Regisseure aufmerksam und suchte überall nach Filmen über den Zweiten Weltkrieg. Ich war ein Kind des zwanzigsten Jahrhunderts und ein Kind des Krieges, auch wenn ich ihn selbst nicht mitgemacht habe. Für mich dauerte der Zweite Weltkrieg so lange, wie die Berliner Mauer stand. Danach brachen neue Kriege aus. Mich interessierte vor allem die Haltung der deutschsprachigen Schriftsteller zum Nationalsozialismus, aber auch die Frage, wie jede deutsche Generation im Lauf der Jahrzehnte den Krieg wahrgenommen hat. Täter und Opfer zu sein, war in meinen Augen ein gemeinsames Schicksal. Zum einen sah ich die Deutschen nicht nur als Täter und zum anderen bedauerte ich, dass die Griechen andächtig das unerschütterliche heilige Bild des Opfers kultivierten und dahinter eine ihnen zustehende Gerechtigkeit suchten. Die vollständige Zerstörung Deutschlands als gerechtfertigte Strafe für die begangenen Verbrechen anzusehen, reichte mir als Antwort nicht. Schon als Kind war dieses Land für mich ein Rätsel. „Was ist deutsch?“, fragte ich mich. Den Hass der schweigenden „Witwe von Kalavryta“ verwandelte ich, älter werdend, in Ehrfurcht und Verwunderung. Mit dem Schmerz und der Trauer war ich vertraut. Doch ich musste sowohl die Griechen als auch die Deutschen tiefer begreifen. Überall suchte ich nach den Spuren deutschen Widerstands gegen die Hitlerdiktatur. Ich glaubte, dass es sie gab - neben der Barbarei der Skrupellosen und mitten im schuld- und schamhaften Schweigen der Unbeteiligten.

Mein heutiger Gegenstand scheint der Krieg zu sein, aber ich spreche in friedlicher Weise. Der Krieg, ob nationaler Befreiungskrieg oder Bürgerkrieg, ist ein Dreh- und Angelpunkt im Leben der Menschen. Das kommt, weil wir immer an den ersehnten Frieden denken. Im Krieg wird das Epos und das Drama geschrieben. Was die Zivilbevölkerung und die Überlebenden hingegen erleben, ist eine einsame Elegie. Im Verhältnis zwischen Geschichte und Literatur hat die Literatur die Position der moralischen Erfahrung inne. Der deutsche Schriftsteller Winfried Georg Sebald hat im selbst gewählten Exil treffend formuliert, dass die Erinnerung das moralische Rückgrat der Literatur bildet, und mit seinem Werk hat er es bewiesen. 1952 – vor siebzig Jahren, im Gründungsjahr des Goethe-Instituts Athen – publizierte Heinrich Böll seinen berühmten Essay „Bekenntnis zur Trümmerliteratur“, in dem er sagt, dass die Autoren über die Wunden des Krieges, über die in den Trümmern Lebenden, über Flüchtlinge und Heimatlose sprechen sollten. Das Bekenntnis blieb auf dem Papier. Sein Buch „Der Engel schwieg“, das er in diesem Geist 1949 geschrieben hatte, wurde erst 1992 posthum veröffentlicht. 1952 mussten die Menschen ihre Häuser und ihre Städte wieder aufbauen, sie wollten keine Trümmerliteratur lesen.
Vierzig Jahre später begann mit Sebald in den Neunziger-Jahren die Literatur der Überlebenden, wie ich sie nennen würde. Städte und Gebäude waren neu errichtet, aber die durch den Krieg zerstörten Leben der Menschen - und oft auch noch die ihrer Nachkommen - lagen immer noch in Trümmern. Die Überlebenden mussten sich dem Gespenst der unauslöschlichen Erinnerung stellen. Die Erinnerung ist nur dann per definitionem gerecht, wenn derjenige, der sich erinnert, derjenige ist, dem Unrecht zugefügt wurde. Derjenige, dem Schmerz zugefügt wurde, vergisst sein Leid nie. Der ungerechte, skrupellose Täter hingegen vergisst, und dank des Vergessens spricht er sich selbst frei und kann bequem weitere Straftaten begehen. Doch die - im moralischen Sinne - gerechte Erinnerung reicht nicht aus. Sie muss aufgrund ihres historischen Verständnisses gerecht sein, im Sinne der Shakespear’schen Forderung, die Dinge im Detail so zu erzählen, wie sie geschehen sind. Doch das ist nicht immer eindeutig. Ohne das historische Verständnis erinnern wir uns nur diffus an das Unrecht, und so bestehen weiter Mythen, Lügen, verfälschte Ereignisse, Trägheit und unerfüllte Trauer. Der Verstand untermauert das Gefühl, und der menschliche Schmerz wird politisch ausgebeutet. Griechenland, ein Land der Opfer, leidet immer noch unter dem Mangel einer gerechten historischen Erinnerung, obwohl mittlerweile offiziell viele Mythen von ihrem Sockel gestürzt sind. Deutschland, das Land der Täter, bemühte sich erfolgreich und hat es durch die Nachkriegsgenerationen zumindest geschafft, das Verbrechen in eine moralische Realität zu verwandeln.

Im dialogischen Verhältnis zwischen Geschichte und Literatur registriert die Geschichte die Ereignisse genau, wie sie geschehen sind. Die Literatur hingegen übersteigt und offenbart die Wirklichkeit, indem sie die Ereignisse zeigt, wie sie hätten sein können. Hierzu tragen die Vorstellungskraft und das poetische Element bei. Die Literatur enthält eine größere Wahrheit als die Geschichte. Sie umfasst auch die menschliche existenzielle Wahrheit. Genauso ist es mit in der dialogischen Beziehung zwischen Philosophie und Literatur: Die Philosophie lehrt dich, was du nicht bist (du bist kein animalisches Wesen, sondern ein mit Verstand begabtes Wesen). Die Literatur offenbart dir, wer du bist. Die Geschichte wird in der Literatur zum dramatischen Raum, der die individuellen Schicksale bündelt. Das ist das historische Empfinden. Darin werden nicht nur die Ereignisse, sondern auch die menschlichen Träume, Fantasien, Widersprüche, Wünsche, das Schicksal und das Aufbegehren dagegen aufgezeichnet. Im Gerichtshof der Geschichte werden die Ereignisse beschrieben, das harte Urteil und die Strafen für die Schuldigen verkündet. Doch die dortige Wahrheit ist nicht immer vollständig. Die Enkelin des Försters, die das Zeugnis des Großvaters aufschreibt, erzählt von Bruchstücken, von winzigen Körnchen dieses historischen Empfindens. Obwohl sie an sich schon realistisch sind, enthalten sie ein noch größeres Begehren nach Wahrheit und ein noch größeres Sehnen nach Wirklichkeit. Der Roman, den sie schreiben will, ist aufrichtig, da sie sich bemüht, eine Brücke über die Abgründe und Widersprüche der historischen Ereignisse hinweg und auch zwischen den Menschen, die sie erlebt haben, zu schlagen. Gleichzeitig räumt sie aber auch die Unmöglichkeit dieses Brückenschlags ein, zusammen mit der unausweichlichen Erkenntnis, selbst ein Opfer zu sein. Die Geschichte des Försters ist demnach ein Anti-Epos und die Hauptfigur Athos ein Anti-Held. Die Wahrheit wird hier in moralischer und therapeutischer Weise verinnerlicht. Die historischen Splitter bleiben, als Teil einer Naturkatastrophe, schrecklich und verwerflich, aber sie sind nicht mehr bedrohlich. Die Wälder mit den zu Menschen gewordenen Bäumen und die persönliche Schattenwelt, die die Enkelin errichtet hat, halten eine purifizierte Erinnerung lebendig, die die folgende Generation, der die Zukunft gehört, nicht mehr bedroht.

Aber woraus besteht diese Schattenwelt? Schatten ist für mich ein anderes Wort für Denken. Er bildet die ideale Waagschale, in der die Gegensätze ins Gleichgewicht kommen. Er ist aus der brüderlichen Beziehung der Gegensätze gemacht. Das Licht spendet Leben, aber wenn das Leben krank wird, sucht es seinen Bruder, den Schatten. Um welche Gegensätze geht es hier? Licht/Dunkelheit, Leben/Tod, Feuer/Schnee, Recht/Unrecht, Opfer/Täter. Doch auch die Trauer durchleben wir im Schatten. In der Geschichte ist die Trauer eine öffentliche Angelegenheit. In der Literatur hingegen ist die Koexistenz von Toten und Lebenden eine persönliche Wahrheit, jeder hat das Recht, mit dem ihm zugehörigen Schmerz zu leben. Der Tod wird im privaten Dasein nicht idealisiert. Es ist Teil der Natur. Die Natur idealisiert nicht wie der Mensch. Die Witwe von Kalavryta, die Tochter und die Enkelin trauern friedlich und bescheiden. Die Elegie der Wälder ist nicht heroisch. Es ist die Elegie des Denkens, des Nachdenkens über den Krieg. Die Zivilisten idealisieren ihren Tod nicht. Der Förster gehört zur Gemeinschaft der Bäume, er gehört zu den großen Wäldern, die ihm seine bayerischen Lehrer wissenschaftlich nahegebracht haben. Seine Geschichte ist ein vielstimmiger Mythos über Geschöpfe der Erde, die einander nicht töten. Sie ist ein Mythos über die älteste Sache seit dem Beginn des Lebens: über das Leid.

Die Literatur, die auf den Straßen der Erinnerung wandelt, bildet ein ganz anderes Universum als die sogenannte „Erinnerungskultur“. Sie ist eine ursprüngliche und urtümliche schöpferische Handlung des Menschen. Die Erinnerungskultur kommt erst danach. Es sind die Politiker, die Historiker, die Forscher der öffentlichen Geschichte, das Kulturministerium, die öffentliche Meinung in den sozialen Netzwerken und in der Presse, die über sie sprechen oder sie anwenden. Der Staat errichtet Denkmäler, stattet Museen aus, legt Gedenkveranstaltungen historischer Ereignisse fest, die Gemeinden montieren in den Straßen Gedenktafeln historischen oder kulturellen Inhalts. Ich würde sagen, das Goethe-Institut ist heute per definitionem eine Erinnerungsinstitution. Neben der Rolle als Kulturinstitution trägt es indirekt an der schweren Erinnerung an dasjenige Ereignis, welches das zwanzigste Jahrhundert erschüttert hat. Mit seiner Gründung und seiner Existenz ist daher auch die schöpferische Beziehung zwischen Vergangenheit und Zukunft verknüpft. Die Fotoausstellung der in Griechenland lebenden Deutschen Johanna Weber aus dem Jahr 1996, die den Titel „Gesichter aus dem griechischen Widerstand: Lebenserinnerungen – Todeserinnerungen“ trug, ist mir unvergesslich geblieben.

Es gibt die kollektive und die individuelle Erinnerung. Die kollektive Erinnerung kann, wie es in totalitären Regimen vorkommt, leicht gegängelt und durch interessengeleitete politische Propaganda geformt werden. Die individuelle Erinnerung entsteht von selbst, ist jedoch selektiv. Die ganze Nation kann des Zweiten Weltkriegs gedenken, aber ich (und es gibt viele Ichs) gedenke, weil ich die Erinnerung der Überlebenden aus meiner Familie in Gedanken fassen will, da ich die Ereignisse nicht selbst erlebt habe. Die Kraft der Literatur ist die gelungene Kombination aus der kollektiven Erinnerung und der grüblerischen persönlichen Erinnerung. Sie ist Epos und Elegie. Sie ist das Große und das Kleine. Sie ist das Wollen und das Erinnern und das Verstehen-Wollen. Was will sie verstehen? Dass im Krieg die Mächtigen das tun, was ihnen ihre Macht gestattet, und die Ohnmächtigen das, was ihnen ihr Durchhaltevermögen gestattet. Das heißt, die Ohnmächtigen weichen zurück und nehmen ihr Schicksal an, während sie gleichzeitig Widerstand leisten, da sie überleben müssen. Der Krieg hat uns den Hass der Nazis und den Hass der Witwe von Kalavryta gezeigt, aber auch menschliches Verständnis und menschliche Widerstandskraft gelehrt - das heißt, wie und warum wir uns heute hier befinden, 80 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus und 70 Jahre nach dem Beginn des Kalten Krieges.

Zurück zu Sebald: Er war der Erste, der 1995 über die schrecklichen Bombenangriffe der Alliierten gesprochen hat, welche die deutschen Städte dem Erdboden gleichgemacht und hunderttausende Zivilisten im Schlaf überrascht und getötet haben. Er hat gezeigt, dass die Deutschen selbst Opfer der nationalsozialistischen Diktatur und des von ihnen ausgelösten Krieges waren. Ein Satz, der sich mir eingeprägt hat, ist: „Die großen Ereignisse sind wahr, während die Details erfunden sind.“ Ich verstehe ihn folgendermaßen: Der Literat entwickelt einen Weg, um durch seine Dichtkunst über die Wahrheit zu sprechen, die sich im Detail verbirgt. Aber was ist das Detail? Es ist die individuelle Erinnerung, das menschliche Leid und die Traurigkeit, die einen im Schweigen gefangen hält. Es ist das Kleine, das die Wahrheit der großen Ereignisse enthüllt. Es ist sowohl die bescheidene Existenz des Einzelnen als auch die große Bestimmung der Nationen. Es ist das Kleine, welches das Große zum Vorschein bringt. Die Elegie war immer schon ein Ausweg aus der Sackgasse des epischen Schreibens. Die Tragödie eines einzigen Überlebenden kann vom Leiden eines ganzen Volkes erzählen. Das literarische Schreiben wird so zur moralischen Erfahrung (zum Anti-Epos oder zum Anti-Helden), aber es schützt auch die Erinnerungskultur vor der Lüge und der absichtlichen Fälschung durch Usurpatoren jeglicher Art.

Abschließend muss ich sagen, dass ich auf die Frage „Was ist deutsch?“, die mich von klein auf umtrieb, noch keine Antwort gefunden habe. Ich glaube, dass es keine gibt. Die Nationalsozialisten mit etwas „spezifisch Deutschem“ in Verbindung zu bringen, zeigt - nachdem sich so viele Historiker bemüht haben, derartigen Ideen den Boden zu entziehen, nachdem tonnenweise Papier bedruckt und gelesen wurde - allein nur Fanatismus, Unwissenheit und fehlende Bildung, vielleicht auch eine neue Barbarei. Kürzlich las ich irgendwo, dass Kant in seinem einsamen und kargen Leben einen einzigen guten Freund hatte, einen Förster namens Wobscher, der ihn zur Beschreibung des deutschen Menschentyps inspiriert haben soll. Wie dieser aussieht, weiß ich aber nicht. Dann habe ich mich gefragt, ob mein Förster mich den griechischen Menschentyp lehren könnte. Aber das bezweifle ich sehr. Der Grieche verfügt über Durchhaltevermögen, Glauben und Widerstandskraft, aber tief in seinem Inneren sitzt der Bürgerkrieg. Der griechische Bürgerkrieg, der dem Abzug der Deutschen folgte, war genauso verheerend wie der Befreiungskrieg. Denn dort, im Bruderkrieg, gibt es kein Anti-Epos und keine Elegie, die uns die Wahrheit erzählen könnten. Hier handelt es sich um blinde Finsternis.

Immer wieder kommt mir Thomas Mann im selbst gewählten Exil und sein kleines Buch „Meerfahrt mit Don Quijote“ in den Sinn. Es hat mich darin bestärkt, dass die umkämpfte Frage in der Tat unbeantwortet ist. 1934, als er mit der Lektüre des „Don Quijote“ den Ozean in Richtung Amerika überquerte, notierte er, wie willkürlich er die unscharfen Antworten auf die ewig offene Frage „Was ist deutsch?“ findet. Besonders die von Wagner, scherzt er, der das Andante für das eigentlich deutsche Tempo halte. „Der Wagnersche Spruch wäre glücklicher“, so schreibt er, „wenn er das Nationelle beiseite gelassen, das ihn sentimentalisiert, und sich an die sachliche Würde der Langsamkeit gehalten, wegen der ich ihm beistimme. Gut Ding will Weile haben.“ Auf dieser Ozeanreise, die in der Tat eine Weile dauerte, wird der konservative, antidemokratisch eingestellte Thomas Mann auf Distanz gehen, sich von der Nation abwenden und ein Staatenloser werden. Er wird seine bürgerliche Herkunft aus einem damals dekadenten Europa hinter sich lassen und überwinden. Ein Thomas Mann, der während des Ersten Weltkriegs noch die „Betrachtungen eines Unpolitischen“ geschrieben hatte, in denen er die westeuropäische Kultur angriff und sich „für die heilige deutsche Sache“ aussprach. Mitten auf dem Atlantik, wo er „mit dem Winde reist“, der eine Naturkraft sei wie die Dampfkraft, wie er sagt, befindet er sich schon bald in dem Zwiespalt, ein europäischer Intellektueller, aber auch ein deutscher Dichter zu sein. Es ist die Donquijottiade eines mittlerweile überzeugten Exilanten, der den technologischen Begriff der „Zivilisation“ mit der überlieferten deutschen „Kultur“ schließlich versöhnt. Das Gesindel, wie Mann es nennt, das 1933 in Deutschland die Macht übernommen hat, wird er, nach langem innerem Ringen, erst zwei Jahre später öffentlich aus den USA anklagen. Dabei hatte er sich bereits seit 1922 gegen den Nationalsozialismus und für die Weimarer Republik ausgesprochen und die Umwertung seines geliebten bürgerlichen Ideals durch die Nazis vorhergesehen.

Wir Angehörigen der dritten Nachkriegsgeneration wollen über das harte Jahrzehnt zwischen 1940 und 1950 sprechen, um die verlorenen Leben zu rechtfertigen, aber auch, um uns an die Seite der Überlebenden zu stellen, die ein vereintes, demokratisches Europa anstrebten. 1952, im Gründungsjahr des Athener Goethe-Instituts, wurden in Griechenland von den Siegern des Bürgerkriegs weiter Kommunisten hingerichtet oder nach Makronissos in die politische Verbannung geschickt. In Deutschland hingegen ließ die Verfolgung von Kriegsverbrechern langsam nach, ihre Taten verjährten und man übertrug ihnen Posten im neuen Staat. Vielleicht entstand genau damals, in den ersten Nachkriegsjahren, die Hoffnung, die Vision des dem George-Kreis nahestehenden Rudolf Fahrner in die Tat umzusetzen. Mitten im besetzten Athen hatte er seit 1941 für einige Jahre das Deutsche Wissenschaftliche geleitet, womöglich auch als Gegengewicht gedacht zum Deutschen Archäologischen Institut, das in die Hände der Nationalsozialisten gefallen war. Nach seiner Beurlaubung von der Universität Heidelberg lehrte der Germanist Fahrner 1939 an der Universität Athen. Das „mysteriöse“ Deutsche Wissenschaftliche Institut in der Rigillis-Straße, wie es der Regisseur Timon Koulmassis nennt, der es dem Publikum in seinem Film „Briefe aus Athen. Portrait des Vaters zu Zeiten des Krieges“ nahegebracht hat, nahm eine aristokratische Haltung zu den deutschen Besatzern ein: Dort gab es keine Hakenkreuzfahne, kein Hitlerbild an der Wand und auch kein Propagandamaterial, das wurde nämlich sofort nach dem Eintreffen im Keller verbrannt. Der Germanist und Philhellene Fahrner drückte seinem Institut den Stempel eines literarischen Aristokraten auf, während er hilfsbedürftige griechische Bürger und Widerstandskämpfer insgeheim unterstützte. 1944 wurde er nach Berlin beordert, nachdem die mit ihm befreundeten Brüder von Stauffenberg nach dem Hitler-Attentat festgenommen worden waren. Die beiden wurden hingerichtet und gingen als die Adeligen in die Geschichte ein, die das neue nationalsozialistische Bürgertum zur Rechenschaft ziehen wollten. Fahrner wurde festgenommen, später jedoch freigelassen, da man ihm keine Beteiligung am Attentat nachweisen konnte. Ab 1951 lehrte er an der Universität Ankara. In der Junta-Zeit nahm das Athener Goethe-Institut eine ähnliche - weniger aristokratisch, doch gewiss antidiktatorisch motivierte - Haltung wie Fahrner während der Besatzung ein.

Heute erleben wir einen nicht-erklärten Stellvertreterkrieg zwischen Russland und dem Westen, der außerhalb des Territoriums dieser Länder stattfindet und dessen Folgen vor allem Europa als Verbündeten der Ukraine betreffen. Der Satz von Clausewitz „Der Krieg ist ein Akt der Gewalt, und es gibt in der Anwendung derselben keine Grenzen“ bewahrheitet sich in der aktuellen Lage. Das bedeutet: Der Krieg entbehrt jeglichen Sinnes. Er hat keinen pragmatischen Wert und in seiner Ausführung gibt es keinen Moralkodex, nur den Militärischen Gehorsam des Soldaten, dessen Folgen jedoch unmoralisch sind. Die Moral, wie gesagt, benötigt Grenzen. Doch auch der Klimawandel, der mit der zerstörerischen Kraft eines Krieges auftritt, ist grenzüberschreitend. Grenzen setzt nur der Mensch oder die Institution, die Menschen in Dialog bringt und moralische Werte und humanistische Ideale hochhält. Dann schweigen die Waffen, und die Natur kann geschützt werden und auch uns schützen.
Ich wünsche dem Goethe-Institut, dass es seinen förderlichen Weg fortführen kann, den es unter großen Schwierigkeiten in den ersten, diffusen und widersprüchlichen Jahren des Kalten Krieges eingeschlagen hat.
Vielen Dank!

 
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