Fremder werden oder Deutscher bleiben, vollständige Assimilation im Neuen oder Bindung an das Eigene, akzentfreie Fremdsprache oder beharrliche Muttersprache – in diesem Spannungsfeld haben sich viele der deutsch-jüdischen Intellektuellen zu positionieren, die zur Mitte des letzten Jahrhunderts vor den Nazi-Banden in die Vereinigten Staaten oder anderswohin fliehen. Den Gründervätern der Frankfurter Schule und Vertreter:innen einer kritischen Theorie wird diese Frage des Exils, in New York oder Los Angeles, zur Lebens- und zugleich zur Denkaufgabe: Ihre Analysen der alten wie der neuen Kultur und Sprache (oder: der Sprachen der Kultur) verlangen eine unabweisbare und doch immer unmögliche Stellungnahme zwischen Amerikas Verfassungsglauben und deutschem Geschichtswesen, zwischen Unterhaltungsindustrie und Geistesleben. Auch andere, jenem Kreis nahestehende Flüchtlinge erfahren und reflektieren jenen »Riss der Welt«, der genauso durch den Menschen geht: die politische Theoretikerin Hannah Arendt, der Kultur- und Filmexeget Siegfried Kracauer, der Geschichtsdenker Walter Benjamin (der Amerika nie erreichen soll).
Angesichts aktueller weltumfassender Migrationen will die Konferenz jene kulturellen, sprachlichen und politischen Entwürfe neuerlich aufsuchen um auszuloten, was die kritische Theorie in der Fremde gewesen ist und was sie uns heute, in »post-kapitalistischer«, »post-digitaler« und womöglich »post-humaner« Zeit, (noch) zu sagen hat. Inwiefern ist ihr Denken, das ohne die Migrationserfahrung kaum zu denken ist, relevant für eine Wirklichkeit, in der Migration zusehends zur Normalität wird? Wie weit reicht es über das bloß Historische hinaus? Aus solcher Perspektive wird sich die Konferenz vor allem um die gegenseitige Erhellung zweier Geschichtsschnitte oder Konzeptfelder bemühen, indem sie zeitgenössische Flucht und historische Migration als das zu verstehen sucht, was Benjamin eine »Konstellation« nennt: den schlaglichtartigen Sinnzusammenhang zweier Momente, der Einsicht gewährt im (und in den) gegenwärtigen »Augenblick der Gefahr«.
Das Programm der Tagung finden Sie hier:
PROGRAMM
(PDF)
Anlässlich der Konferenz präsentiert das Goethe-Institut das „Archiv der Flucht“, eine umfassende Dokumentation von Fluchtgeschichten in Videointerviews. Das groß angelegte Oral-History-Projekt lässt 41 Protagonist*innen, die zwischen 1945 und 2016 nach Deutschland kamen, zu Wort kommen.
Mit dem Archiv der Flucht entsteht ein digitaler Gedächtnisort, der an Flucht und Migration nach Deutschland im 20. und 21. Jahrhundert erinnert und zeigt, dass Flucht und Migration keine Ausnahmen oder krisenhaften Anomalien, sondern wesentlicher Bestandteil deutscher Geschichte waren und sind. Das Projekt des Hauses der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin wurde von Carolin Emcke initiiert und von ihr gemeinsam mit Manuela Bojadžijev kuratiert.
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