Yom HaShoah
Wie kann ich der Menschheit je wieder vertrauen?
Der israelische Fotograf und alternative Künstler Idan Golko hat im Dezember 2024 in Dresden seine Wandinstallation “Die Gleichung” erstmals auf deutschem Boden ausgestellt. Als Enkel eines Shoah-Überlebenden beschäftigt er sich in seiner künstlerischen Praxis mit der Aufarbeitung von transgenerationalem Trauma. Zum Yom HaShoah haben wir ihn um einen Erfahrungsbericht gebeten.
Von Idan Golko
Ende 2022 stellte ich in Haifa zum ersten Mal meine Solo-Ausstellung P.T.SS.D Generation 3.0, kuratiert von Shahar Dor, aus.
Die Ausstellung konzentrierte sich auf meine persönliche Auseinandersetzung mit der Bewältigung von transgenerationalem Trauma in der dritten Generation nach der Shoah. In meinen Arbeiten kombinierte ich verschiedene Medien, darunter Fotografie, plastische Kunst, Leuchtkörper und andere. Eine zentrale Arbeit der Ausstellung war die Wandinstallation „Die Gleichung". Diese Installation, die optisch einer Detektivwand nachempfunden ist, untersucht einen Zeitraum von neun Monaten, in dem mein Großvater, damals 13-14 Jahre alt, in Auschwitz-Birkenau war.
Im Rahmen einer sorgfältigen Recherche versuchte ich zu enthüllen, wer von Mai 1944 bis Januar 1945 im Lager Dienst hatte. Dazu gehörten Männer und Frauen, hochrangige Offiziere und einfache Wachleute sowie Ärzte, darunter Dr. Mengele persönlich. Durch die Betrachtung dieser Personen wollte ich die Komplexität der menschlichen Natur und die Fähigkeit des Menschen, Gräueltaten zu begehen, besser verstehen. Gleichzeitig war mir bewusst, dass der künstlerische Prozess mir auch die Möglichkeit bot, eine Verbindung zu meinem Großvater und seinen Erfahrungen herzustellen. Er starb wenige Monate nach meiner Geburt bei einem Arbeitsunfall und hatte auch kaum von seinen Erfahrungen im Lager erzählt, daher wuchs ich lediglich mit Bruchstücken von Geschichten und unzusammenhängenden Details auf.
Mein obsessives Interesse an dieser Zeit begann im Alter von 13 Jahren, als ich meine Arbeit über die familiären Wurzeln unserer Familie für die Schule schrieb. (Anm. d. Redaktion: Dieses Projekt gehört zum Lehrplan an israelischen Schulen und bezieht häufig die ganze Familie mit ein). Seitdem hat dieses Interesse nur zugenommen und ist zu einem festen Bestandteil meiner Identität und meiner mentalen DNA geworden.
Während meiner Recherche für „Die Gleichung“ stieß ich auf weitere Informationen über meinen Großvater und die Menschen im Lager. Mir war sofort klar, dass die Arbeit im Stil einer Detektivwand gestaltet sein muss, mit Stecknadeln und roten Fäden, die Bilder, Namen und Fakten miteinander verbinden.
Als ich die Arbeit zum ersten Mal installierte, fühlte ich, dass noch etwas fehlte. Die Wand war voller Fotos der Nazis, die im Lager dienten, viele von ihnen mit einer direkten Verbindungslinie zu meinem Großvater. Nach wiederholtem Betrachten der Bilder kam ich zu der Erkenntnis, dass ich eine Ergänzung vornehmen musste – eine Gleichung. Also platzierte ich links von der Wand, neben all den Gesichtern und Informationen, das mathematische Zeichen „ist gleich“ und daneben ein historisches Foto, auf dem ein deutscher Soldat eine Mutter mit ihrem Baby erschießt. Unter das Bild schrieb ich: „Wie kann ich der Menschheit je wieder vertrauen?“ Rechts von der Wand brachte ich ein Farbfoto meiner kleinen Tochter an und daneben das Zeichen „größer als“. Für mich war das eine öffentliche Erklärung, das Leben zu wählen.
Wie kann man ein Kind in eine Welt setzen, die sich weigert, aus ihren Fehlern zu lernen und sie stattdessen immer und immer wieder wiederholt?
Ich war lange unsicher, ob ich Kinder haben möchte. Zu groß war die Angst vor der Wiederholung des Schreckens und vor der Schwere der Geschichten. Aber vor 12 Jahren traf ich Roni, meine Frau, und die Entscheidung, neues Leben in die Welt zu setzen, wurde greifbar. Als ich mit 40 Jahren Vater wurde, fand ich mich mit neuen Ängsten konfrontiert und erkannte, dass ich ihnen künstlerisch Ausdruck verleihen muss. Das ist meine Art, mich selbst und die Welt zu begreifen. So entstand das Projekt.
Diese Entscheidung für das Leben, ist für mich nicht selbstverständlich. Wie kann man ein Kind in eine Welt setzen, die sich weigert, aus ihren Fehlern zu lernen und sie stattdessen immer und immer wieder wiederholt? Meine Antwort darauf ist die Durchsetzungskraft des Lebens: Mein Großvater, der im Lager neun lange Monate Tag für Tag überlebte, wollte unbedingt leben. Ich fühle eine moralische Verpflichtung, seinen Weg weiterzugehen.
Meine Ausstellung in Haifa führte zu vielen Begegnungen mit Besucher*innen – sowohl jüngeren als auch älteren. Alle Reaktionen hatten eines gemeinsam: Das Verständnis dafür, wie wichtig die Auseinandersetzung mit transgenerationalem Trauma ist und dass Kunst ein Instrument zur Heilung sein kann. Mir wurde klar, dass das Projekt weitergehen muss. Es geht um etwas größeres als nur um mich.
Als ich das begriffen hatte, nahm ich mir Deutschland als nächstes Ziel für die Ausstellung vor. Aus logistischen Gründen entschied ich, mich auf die Wandinstallation „Die Gleichung" zu konzentrieren, weil sie in einem Koffer transportiert und innerhalb von zwei Tagen an einer 8-10 Meter langen Wand aufgehängt werden kann. Ich nahm mit verschiedenen Institutionen Kontakt auf, bevor ich nach einem Jahr auf die „BlaueFABRIK“ stieß, einem Zentrum für Kultur und zeitgenössische Kunst in Dresden. Der dortige Leiter war begeistert von meiner Arbeit und lud mich ein, sie auszustellen.
Als Zeuge und Initiator der seelischen Evolution
Die Einladung kam durch die Verbindung mit dem Goethe-Institut in Israel zustande, das die Idee unterstützte und einen Kontakt mit dem Institut in Dresden herstellte. Die Stadt hat eine besondere Bedeutung für mich, da meine Großmutter dort geboren und – bis zu ihrer Flucht 1933 – aufgewachsen ist.Die Reise nach Dresden und die Ausstellung meiner Arbeit dort waren von großer Bedeutung für mich. Abgesehen davon, dass sich hier ein Kreis zu meiner Großmutter väterlicherseits und meinem Großvater mütterlicherseits schloss, spürte ich, dass meine Arbeit Gesprächsbedarf auslöst und zum Nachdenken anregt. Sie verursachte Unbehagen bei den Menschen vor Ort, ich sah, dass es ihnen schwerfiel, den Blick auf die Augen der Nazi-Verbrecher zu richten. Ich denke, sie konnten auch nicht so recht glauben, dass dieses Thema bei einem Angehörigen der dritten Generation immer noch so stark präsent ist. Aber es entstand auch ein wichtiger Austausch, was für mich schon Teil des Heilungsprozesses ist. Allein die Tatsache, dass ich über so ein Thema offen mit Deutschen sprechen kann, ist für mich essenziell wichtig und gibt mir Hoffnung in dieser gefährlichen Welt.
Tochter Abigail beim Ausschneiden der Fotos | © Idan Golko
Ein weiterer Aspekt ist folgender: Bei der Vorbereitung der Arbeit, beim Drucken und Ausschneiden der Fotos, half mir meine Tochter Abigail, die seelenruhig Fotos von Rudolf Hess (Kommandant von Auschwitz-Birkenau), Dr. Mengele und anderen ausschnitt. Ich spürte in diesem Moment, dass ich die Richtung der mentalen DNA ändere und dass sie, als vierte Generation, die Erinnerung auf andere Art tragen wird.
Die Erfahrung in Dresden hat meinen Wunsch, die Arbeit in Deutschland zu zeigen, nur weiter verstärkt. Ich möchte, dass mehr Deutsche mein Werk sehen, mit ihnen ins Gespräch kommen und ihnen begegnen. Ich will mich weiter in die transgenerationale Traumaforschung vertiefen und untersuchen, wie Kunst unsere mentale DNA beeinflussen kann. Mein Anliegen ist es, Zeuge und Initiator der seelischen Evolution zu sein – in Echtzeit.