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Genre
Was sind Travelcomics?

Travelcomics oder Reisecomics sind ein Genre der grafischen Literatur, das in jüngster Zeit immer populärer wird.
Travelcomics oder Reisecomics sind ein Genre der grafischen Literatur, das in jüngster Zeit immer populärer wird. | Darja Solodova /diowooster)

Travelcomics oder Reisecomics sind ein Genre der grafischen Literatur, das in jüngster Zeit immer populärer wird.

Von Wladimir Lopatin

Was genau sind TravelComics?

Die Antwort ist sehr einfach. Das sind größtenteils lebendige, realitätsbasierte Geschichten und Abenteuer, die Autor*innen und Zeichner*innen auf ihren Reisen erleben. Travelbooks gibt es schon seit Längerem, an die hat man sich gewöhnt: Man schreibt darin seine Reiseabenteuer nieder, klebt Museumseintrittskarten oder auch einfach Fahrkarten ein, zeichnet darin Orte, an denen man gewesen ist, gebummelt und Kaffee getrunken hat. In den vergangenen Jahren wurden solche Sammlungen von Zeichnungen, Museumstickets und Fahrkarten immer öfter in vollständige Storys verwandelt. Manchmal sind es Straßenszenen, flüchtig in einem Café gezeichnet, lustige Dialoge oder Situationen. Manchmal wird aber auch ein ganzer Tag oder eine ganze Reise skizziert.

Lasst uns über Vor- und Nachteile dieses Formats sprechen.

Der größte Nachteil der Reisecomics ist meiner Meinung nach, dass ihnen oft durchdachte, ganzheitliche Sujets fehlen und die Story „fragmentiert“ erscheint. Solche Comics zeichnet man typischerweise unterwegs, wenn man etwas freie Zeit hat. Unter Bedingungen, die nicht gerade optimal sind: im Bus oder Bahn, in einem Café, in dem man einen schnellen Imbiss nimmt, oder vor dem Schlafengehen. Denn zu anderen Zeiten sind die Autor*innen ja gewöhnliche Tourist*innen. Sie spazieren durch die Stadt, tanken deren Geschichte, verbringen Zeit in Museen, unterhalten sich mit Menschen — zum Zeichnen bleibt also ziemlich wenig Zeit. Einige Autoren favorisieren bescheidenere Skizzen, die konkrete Situationen wiedergeben — so entsteht eine Art Drehscheibe der kleineren Ereignisse. Solche „Drehscheiben“ können nur mühsam als kohärente Geschichten wahrgenommen werden. Sie gleichen eher Collagen aus Ereignissen und Erlebnissen.

Reisecomic von Lena Mursina (Fragment) Reisecomic von Lena Mursina (Fragment)

Nach der Reise

Manche Autor*innen zeichnen nur, nachdem die Reise beendet ist. Damit gehen sie das Risiko ein, dass die Farben des ersten Eindruckes verblassen und einige Details verloren gehen: Sie zeichnet ja nach Erinnerungen und Fotos. Diese Vorgehensweise hat ihre Nachteile. Kein Gedächtnis ist imstande, einen gesamten Tag mit all seinen Details eine Woche lang zu speichern, insbesondere wenn der Tag sehr ereignisvoll war. Also beginnen die Autor*innen, sich Dialoge auszudenken; die Dynamik der Handlungen lässt nach. In dieser Situation können Reisenotizen, kurze Berichte und Skizzen hilfreich sein. Der große Vorteil dieser Vorgehensweise beim Zeichnen eines Travelcomics ist jedoch, dass man ein stimmigeres und ganzheitlicheres Sujet aufbauen und der Reise einen Hauptgedanken hinzufügen kann. Dieser bindet die ganze Story zusammen.

Ich glaube, es wird viel schwieriger, die Eindrücke so bunt und frisch wiederzugeben, wie sie waren, wenn man die Geschichte erst einige Zeit nach der Rückkehr anhand der Fotos und Notizen zusammenstellt. Die Aufgabe ist nicht einfach: Von einer Reise bringt man in seinem Gedächtnis enorm viele Ereignisse mit, die dann zu sortieren und zu strukturieren sind – wobei auch die Gefühle, Erlebnisse und Eindrücke nicht verloren gehen dürfen. In dieser Hinsicht ist die Strategie „Zeichnen während der Reise“ definitiv vorteilhaft.

Große Kunst

Travelcomics russischer Autor*innen sind normalerweise nicht besonders lang und umfassen meist eine bis zehn Seiten. Nur sehr selten entstehen kleine Bücher mit etwa 30 Seiten.
 
An dieser Stelle sind natürlich die größeren Graphic Novels zu erwähnen, in denen wir zusammen mit den Autor*innen auf die Reise gehen: Shenzhen oder Pyongyang von Guy Delisle (Alt Graph Verlag), Ruts & Gullies: Nine Days in Saint Petersburg von Philippe Girard (Boomkniga Verlag) und natürlich auch die Palästina von Joe Sacco, ein Reisecomic im Sinne des Comic-Journalismus (Boomkniga Verlag).

Leider haben russische Autor*innen bislang nichts derart Großes für den einheimischen Markt produziert.

„Ruts & Gullies: Nine Days in Saint Petersburg“ von Philippe Girard (Boomkniga Verlag) „Ruts & Gullies: Nine Days in Saint Petersburg“ von Philippe Girard (Boomkniga Verlag)

Was ist denn so attraktiv an dieser Art der Comics? Das sind Emotionen pur, die Eindrücke der Autor*innen, lebhafte Fragmente der Reise und ungewöhnliche Situationen, die der Autor oder die Autorin erlebt haben und in Erinnerung behalten wollen. Aus demselben Grund nehmen wir auf eine Reise einen Fotoapparat mit: Wir wollen, dass wir uns an diese Reise mehrere Jahre lang erinnern. Dass wir fünf oder zehn Jahre später die Fotos sehen, uns in die Erinnerungen versenken und wiederholen: „Wie cool es damals war!“. Ein*e Zeichner*in schafft für sich selbst ähnliche Gedächtnisanker – nur nicht mithilfe von Fotos und Videos, sondern mithilfe von Zeichnungen und Comics. Damit verfügen Zeichner*innen natürlich über Möglichkeiten, die Foto- und Videokameras nicht haben: Unsere Zeichner*innen, die auf Reise gehen, können das dokumentieren, was nicht vor das Objektiv gerät: lustige Dialoge, Witze, Gedanken oder Ereignisse, die plötzlich passieren.

Geschichten eines Ortes

Das menschliche Gedächtnis darf nicht überschätzt werden: Unsere Reise, die so unglaublich farbenfroh und voll von Ereignissen schien, beginnt bereits nach einem oder zwei Monaten zu verblassen. Da kommen dann die während der Reise gezeichneten Comics zu Hilfe. Obwohl solche Comics ihre Nachteile haben und Autor*innen in ihnen viel mehr sehen als Leser*innen, hoffe ich dennoch, dass Zeichner*innen damit nicht aufhören.

Weiterhin sind solche Comics in der Hinsicht wertvoll, dass sie nicht nur die Geschichte der Reisenden, sondern auch die Geschichte des Ortes erzählen. Die Zeichnenden berichten von einem für sie neuen Land oder einer neuen Stadt. Sie möchten ihre Gedanken und Eindrücke von diesem Ort, was sie gesehen und über den Ort gelernt haben, mit anderen teilen, die weit weg und hier noch nie gewesen sind. So wird aus dem Comic eine kleine „Führung“, und die Zeichnenden werden zu Reiseführer*innen.

„Eine kleine Reise in die Vergangenheit“ von Wladimir Lopatin „Eine kleine Reise in die Vergangenheit“ von Wladimir Lopatin  

Was ist zu tun, um kurze Reisenotizen und emotionsgefüllte Skizzen zu großen, ganzheitlichen Geschichten über Reisen zu entwickeln?
 
Ich habe ein paar Tipps für Autor*innen, die eine interessante Geschichte in diesem Genre zeichnen wollen.
  1. Man reist am besten nicht allein, sondern in Gesellschaft anderer; bereits zu zweit wird die Reise viel lebendiger: Es sind Dialoge und Reaktionen auf verschiedene Situationen, die mehr Leben bringen. Und es ist einfach schöner, nicht allein zu sein.
  2. Nehmt einen Notizblock mit, zeichnet bei jeder Gelegenheit, versucht die Stimmung des Moments zu bewahren.
  3. Versucht im Laufe des Tages Notizen zu machen: Was Ihr hier und da erlebt habt. Etwas Lustiges. Etwas, das jemand gesagt hat. Interessante Situationen und Informationen. Denn schon am Abend wird es schwieriger, sich an den eindrucksreichen Tag präzise zu erinnern.
  4. Wenn sich im Laufe des Tages keine Möglichkeit zum Zeichnen ergab, zeichnet am Abend. Versucht, zumindest das Wichtigste und Wesentliche zu dokumentieren, solange die Emotionen und die Erinnerungen an den Tag noch frisch sind. Der nächste Tag wird neue Eindrücke bringen.
  5. Sammelt Museumstickets, interessante Werbeprospekte, Visitenkarten und andere Materialien auf Papier. Baut diese in die Geschichte ein: So wird der Comic lebendiger und realitätsnäher. Ihr als „Reiseführer*innen“ erzählt mit diesen Materialien mehr über den Ort. Straßenbahntickets teilen den Lesenden mit, was die Fahrt gekostet hat, Werbematerialien aus der Bar laden sie zum Besuch ein und so weiter.
  6. Wenn ihr unterwegs seid, macht Fotos. Viele Fotos! Vor allem davon, was ihr dann zeichnen wollt: Abfallbehälter, Verkehrszeichen, Menschen, Gebäude – also alles, was ihr eventuell braucht.
  7. Wenn ihr es nicht geschafft habt, während der Reise alles fertig zu zeichnen, schiebt diese Aufgabe nicht auf die lange Bank! Erledigt sie, solange die Emotionen noch da sind.
  8. Und jetzt schaut euch das Resultat an! Schaut das an, was ihr unterwegs gezeichnet habt, und euch wird klar: Es ist noch kein ganzheitliches Werk, sondern eine Grundlage dafür. Jetzt wird es Zeit, sich hinzusetzen und fleißig an die Arbeit für einen großen vollständigen Comic zu machen. Nachdem ihr euer Material kreativ überarbeitet, wird womöglich eine coole, interessante Story mit einem zusammenhängenden Sujet und einem Leitgedanken entstehen – ein in jeder Hinsicht toller Reisecomic, den alle mögen werden.
Reist, zeichnet und alles wird gut!

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