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 Lagos ist eine Stadt die an, auf und mit dem Wasser lebt. Teile von Lagos liegen sogar unter dem Meerespiegel. Experten rechnen damit, dass es in Zukunft immer mehr Stadtgebiete geben wird, die unter Wasser stehen.  © Sebastian Lörscher

Anna Voronkova über „Nigeria“
Wenn ich an Nigeria denke

Sebastian Lörschers grafisches Reisetagebuch aus Nigeria ist Teil einer ganzen Reihe von Reisezeichnungen. Erst vor kurzem veröffentlichte er ein Buch über eine Indienreise mit dem Titel Making friends in Bangalore. Im Jahr 2017 reiste Sebastian auf Einladung des Aké Arts & Book Festival nach Lagos. Dort traf er viele interessante Menschen, unter anderem auch aus dem Norden Nigerias, die ihn davon überzeugten, die Hektik der Stadt hinter sich zu lassen und ihrer Heimat einen Besuch abzustatten.

Während seines sechsmonatigen Aufenthalts in Nigeria erkundete Sebastian das Land von Nord nach Süd auf zahlreichen Reisen mit dem Zug und dem Minibus. Seine Skizzen entstanden während dieser Reisen und auf langen Zugfahrten. In diesem Fall sind es keine Portraits im eigentlichen Sinne, sondern farbenfrohe Bilder mit Silhouetten im Vordergrund, die die Emotionen des Augenblicks einfangen sollen. Die mit einem grauen Stift gezeichneten Menschen muten transparent an, und man kann Straßen, Autos und Häuser durch sie hindurch erkennen. Im Unterschied zu Sebastians übrigen Kunstprojekten gibt es keine Texte zu den Zeichnungen. Ursprünglich wollte er sie zusammen mit Gedichten veröffentlichen, die er nach seiner Rückkehr in Berlin für jeden einzelnen Moment geschrieben hatte – eine neue künstlerische Ader, die er während seiner Nigeriareise an sich entdeckt hatte.

Der Reisebericht aus Nigeria trägt den Titel Ballad for empty billboards. Es gibt nur eine Zeichnung zu diesem Thema: Sie zeigt Straßen sehen, an denen unzählige Gerippe dieser Werbetafeln stehen, die nur bei den Wahlen in Nigeria zum Einsatz kommen. Normalerweise sind sie leer oder zeigen auf einer riesigen weißen Leinwand nichts als eine Telefonnummer. Was für eine Vergeudung! Und doch tatsächlich ist dies ein Symbol für die aktuelle Situation des Landes: Das Potenzial ist beträchtlich – Nigeria verfügt über natürliche Ressourcen und unzählige talentierte Menschen, die in ihrer Jugend große Träume hatten und bereit waren, den Blick nach vorn in eine bessere Zukunft zu richten. Doch dann fehlt sogar das Geld für eine Werbetafel. Außerdem befand sich der Künstler an einem sehr persönlichen Punkt in seinem Leben, an dem er gewissermaßen wieder bei null anfing: „Das Leben pulsierte um mich herum, doch ich fühlte mich innerlich ganz leer...“, erinnert sich Sebastian und stellt eine Verbindung zwischen seinem Gemütszustand und den Werbetafeln her.

Ich fragte Sebastian nach den Geschichten hinter einigen seiner Zeichnungen. Am meisten faszinierte mich eine graue Bleistiftskizze barfüßiger Männer mit dem Titel Evening prayer (Abendgebet). Das Motiv stammt aus einer Moschee im Norden Nigerias. Die Skizze ist sehr einfach und gefühlvoll. Sebastian hat sie in zehn Minuten gezeichnet. Und wir wissen, wie ein Gebet unter Muslimen abläuft: Es gibt viel Bewegung. Die Menschen stehen auf, heben ihre Hände, verneigen sich, knien nieder und verneigen sich erneut. Diese Bewegungen sind auf der Zeichnung zu sehen, die glaubwürdig und realistisch und gleichzeitig auch surreal anmutet. Wir sehen nicht das Innere eines reich geschmückten Gotteshauses, sondern kahle Wände, an denen wahllos einfache Klimaanlagen aufgehängt wurden. Und wir können uns vorstellen, wie heiß es in einem so kleinen Raum mit so vielen Menschen sein muss.

Meine zweite Lieblingszeichnung stammt ebenfalls aus Zaria und trägt den Titel Jushi. Es ist eine Straßenansicht aus der Stadt mit ihren typischen Lehmhäusern. Durch die transparenten Silhouetten einer Frau und einer gespenstischen Gestalt, die sich im linken Vordergrund bewegen, wirken die Straßen noch leerer. Was man auf der Zeichnung nicht sehe, so Sebastian, seien die vierzig Kinder, die ganz still hinter ihm gestanden und ihm bei der Arbeit zugeschaut hätten. Darum mache das Bild einen so leeren Eindruck. In den Städten und Dörfern Nigerias sei immer etwas los, berichtet Sebastian. Das Leben finde auf der Straße statt, man sei niemals allein, besonders dann nicht, wenn man aus Europa komme, und vor allem auch dann nicht, wenn man etwas Ungewöhnliches wie Zeichnen mache. Sebastian war ziemlich überrascht, wie still die Kinder aus dem Dorf im Unterschied zu den Menschen in Lagos waren, die sich scheinbar nur schreiend unterhalten könnten. Seine Zeichnungen aus Lagos, der bevölkerungsreichsten Stadt in Nigeria und auf dem gesamten Kontinent, erkennt man sofort. Die Farben sind sehr intensiv, und Sebastian wählt in der Regel Gebäude und nicht Menschen als Motive: Wolkenkratzer, die mit ihren Tausenden von Fenstern wie mit Augen auf die Welt blicken. Aus diesen Fenstern hängen Kleidungsstücke wie Wimpern, um zu trocken oder noch mehr einzustauben.

Beim Gedanken an den Lärm und die Beklemmungen einer Großstadt, die starke Emotionen und vielleicht sogar Aggressionen auslösen können, wählte ich beherzt eine Zeichnung, die dieses bange Gefühl in mir weckte, und bat Sebastian, mir die Geschichte zu diesem Bild zu erzählen. Eigentlich sind es zwei Zeichnungen mit dem Titel Burning mountain, Ife. Und sie haben auch eine Geschichte. An diesem Tag besuchte Sebastian in einer kleinen Stadt einen Freund, der an der Universität arbeitete. Gemeinsam machten sie sich auf zu einer Wanderung in den Bergen. Plötzlich sahen sie, dass das Gras auf einem Berg brannte. Einheimische zünden häufig trockenes Gras an, um Buschbrände unter Kontrolle zu bringen. Das wird auch in Russland so gemacht. Trotzdem empfand er die Situation als ausgesprochen intensiv und angsteinflößend, was er mit der Wahl kräftiger Dunkelgrün-, Braun- und Schwarztöne zum Ausdruck bringen wollte. Der entspannende Gelbton anderer Zeichnungen steht für das Land und nicht für das Feuer selbst. Tatsächlich sehen wir das Feuer gar nicht, sondern den Rauch. Der Himmel ist voller Rauch. Ich kann mir nur zu gut vorstellen, wie Sebastian vor dem brennenden Feuer saß und die Landschaft zeichnete. Das Gesicht, das sein Freund dabei machte, kann ich weniger gut vorstellen.

Die Skizzen, die er während seiner Reisen in Nigeria zeichnete, sind von einer eindrucksvollen Bildsprache. Sogar bei Gebäuden zeichnete Sebastian zuerst die Farben und dann die Umrisse. Zu jeder beeindruckenden Geschichte gibt es einen Hintergrund, der einen wichtigen Teil des Tagebuchs selbst bildet. Ich freue mich schon, das Buch in Händen halten zu können, wenn es fertig ist. Allerdings erzählt es auch eine persönliche Geschichte, sodass sich der Autor mehr als bei seinen bisherigen Büchern einbringen muss und daher möglicherweise mehr Zeit für die Fertigstellung benötigt. In der Zwischenzeit können wir uns an anderen Geschichten von Sebastian auf seiner Website erfreuen: Meine besondere Empfehlung ist sein neuestes Projekt Schatten der Gesellschaft, das eine Sammlung grafischer Geschichten enthält, die Sebastian von Obdachlosen erzählt wurden. Russischen Leser*innen empfehle ich vor allem seine vier Reportagen aus Novosibirsk in Sibirien. Und all denen, die Gefallen daran finden, wenn die statische Kunst des Zeichnen den Eindruck eines bewegten Körpers vermittelt, lege ich die Zeichnungen The Swan Lake (Schwanensee) zum gleichnamigen Ballett ans Herz. Vielen Dank, Sebastian, dass du deine Erfahrungen mit uns teilst!

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