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Paris© Nino Paula Bullig

Jonas Engelmann über „Paris“
Perspektivwechsel

Nino Paula Bullings Comicreportagen sind stets politisch und lassen die Perspektive der Gesprächspartner viel Raum

„Ach, das Asylantenheim suchense! Sindse sicher, dasse da hinwolln?!“, ruft eine ältere Einwohnerin von Halberstadt auf Nino Paula Bullings Frage nach dem Weg zur Zentralen Anlaufstelle für Asylbewerber ungläubig aus. Der Comic „Im Land der Frühaufsteher“ beschreibt das Leben von Geflüchteten in Sachsen-Anhalt, ihren Kampf gegen die Residenzpflicht, vergammelnde Heime, Alltagsrassismus und die drohende Abschiebung.
Die Comicreportage problematisiert dabei immer wieder auch die eigene Perspektive der Beobachterin, die nach dem Besuch und Gesprächen mit den Bewohnern der Heime in das eigene unkomplizierte und privilegierte Leben zurückkehren kann.

Reportagecomics von den Rändern der Gesellschaft

Mit diesem Comicdebüt von 2012 hat sich Nino Paula Bulling in der deutschen Comicszene einen Namen und das Genre des Reportage-Comics populär gemacht. Die selbstreflexive Perspektive, das Nachdenken über die eigene Beobachter- bzw. Sprecherposition, hat Bulling auch in ihren späteren Arbeiten beibehalten. Sie will es den Lesern nicht leicht machen: Die Reportagen sind stets politisch, blicken auf die Wunden der Gesellschaft. Und diese Wunden sind vielfältig: In Bullings Debüt „Im Land der Frühaufsteher“ zeigen sie sich im Alltagsrassismus in Deutschland, in „Lichtpause“ an den Nachwirkungen des Kolonialismus in Algerien, in „Bruchlinien“ an den Morden des NSU und dem Umgang mit den Angehörigen der Opfer und im Sammelband „Lampedusa“ an der europäischen Grenzpolitik.

Immer wieder sind es die allzu gerne ausgeblendeten Facetten der Gesellschaft, die Bulling in den Mittelpunkt rückt und aus einer sehr eigenen Perspektive betrachtet. Diese eigene Perspektive wiederum wird flankiert vom Einlassen auf die Perspektiven der Menschen, die an den Orten leben, die sie als Comicreporter*in, als Beobachter*in aufsucht.

An den Monat in Paris im Jahr 2012 erinnert sie sich vor allem über die Menschen und Orte, denen sie begegnet ist: „Ich war mit einem Versicherungsmanager im Geschäftsviertel La Défense essen, auf einem Nachbarschaftsfest in abrissreifen Wohnblocks von Villiers-le-Bel oder mit einem Historiker unterwegs entlang der Überreste der mittelalterlichen Stadtmauer. So konnte ich die Stadt aus völlig unterschiedlichen Perspektiven kennenlernen.“

Von der anonymen Masse zum Indivduum

Ein Wechsel der Perspektive steht im Zentrum der Arbeit über Paris, Bulling entwickelt sich von einer Beobachter*in zur Chronist*in. Während sie das Ankommen noch als diffuses Einströmen von Eindrücken beschreibt, Paris sich als anonyme Masse zeigt – „Wenn man im Regen ankommt, entgehen einem die Gesichter“ –, so schälen sich bereits auf der zweiten Seite langsam Individuen aus der Masse heraus. Bulling nähert sich ihrer Unterkunft in der Nähe des Gare du Nord, wo sie eine Menschenschlange wahrnimmt. Dort springt ihr plötzlich die individuelle Armut in einer Stadt wie Paris in die Augen, die Menschen stehen um kostenloses Essen an.

Empathie und Engagement

Rückblickend erinnert sich Bulling: „Als ich mir meine Zeichnungen jetzt nach zwei Jahren wieder angeschaut habe, ist mir aufgefallen, dass sich ein großer Teil davon ums Essen dreht.“ Über das Essen erklärt sie Ankommen, Erkenntnisse und Gegensätze in der Stadt. Über das Essen lernt sie Menschen und Viertel kennen sowie die Sorgen und Probleme, die die Menschen umtreiben. Einer der Wartenden am Gare du Nord spricht sie an: „Bon Appetit, Princesse!“, und wiederum zeigt sich darin der selbstreflexive Blick, der auch die anderen Arbeiten von Bulling auszeichnet.

Comicjournalismus meint bei Nino Paula Bulling kein neutrales, objektives Berichten über einen Sachverhalt, sondern stets Empathie mit den Menschen, die porträtiert werden, Zeichnen wird zum politischen Engagement. So porträtiert sie in der zweiten Hälfte des Beitrags über ihren Paris-Aufenthalt Jonathan, der von den steigenden Mieten und den Problemen, die diese Gentrifizierungsprozesse mit sich bringen erzählt. Hier nimmt sich Nino Paula Bulling vollständig zurück, überlässt den Raum ihrem Gesprächspartner.

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