Migration – Emigration – Flucht
Ich verstehe es selbst nicht...

Briefwechsel
Briefwechsel | Foto: © Colourbox.de/Goethe Institut Max Mueller Bhavan New Delhi

Lieber Aman,

ich will dir gern beschreiben, was hier passiert, ich will es wenigstens versuchen, weil ich es im Grunde selbst nicht verstehe. Es geht mir da übrigens wie den meisten Deutschen... außer denen, die Flüchtlingsheime anzünden: Die wissen wenigstens, dass sie hassen, und dieser Hass ist es, was sie suchen, denn sie haben sonst oft wenig in ihrem Leben, das ihnen Halt gibt.

Die anderen dagegen haben schon Mühe zu sagen, in was für einem Land sie leben. Einmal scheint es ein dunkles Deutschland zu sein, das ihnen Angst macht, weil die Bürger sich zu einer dumpfen Masse zusammenrotten. Dann wieder scheint es ein helles Deutschland zu sein, das ihnen Mut macht, weil die Bürger sich zusammenschließen in Solidarität. Dann wieder scheint es ein dunkles Deutschland zu sein, in dem die Politiker ihre Werte und ihre Humanität nach unten anpassen, während aus der Bevölkerung die nötige Hilfe kommt für all die, die sie brauchen.

Und das sind viele. 400000, 800000, 1,5 Millionen Menschen, aus Syrien, aus dem Irak, aus Afghanistan, Pakistan, Eritrea oder vom Balkan, sie kommen, weil sie vor Krieg und Verfolgung in ihrer Heimat fliehen oder weil sie ein besseres Leben für sich und ihre Kinder suchen – das sind die Zahlen für dieses Jahr, für Deutschland allein, und wie immer wird auch mit diesen Zahlen Politik getrieben, werden Bilder benutzt, um Meinungen zu manipulieren, geraten die Medien in den Verdacht, dass sie Partei sind.

Konnte man wissen, dass diese Menschen kommen? Nein, sagen die Politiker, die seit Jahren weggeschaut haben, die den Krieg in Syrien ignoriert haben, die gehofft hatten, die Flüchtlinge würden in den Lagern in Jordanien oder dem Libanon bleiben, die gedacht hatten, dass die Wege zu weit sind und das Meer zu breit und die Zäune zu hoch – sie kannten die Menschen wenig, das zeigt sich hier wieder, sie kennen die Verzweiflung nicht, sie wissen nicht, welchen Willen all die haben, die nur mit einem Plastikbeutel in der Hand aufbrechen.

Ja, sagen die, die sich seit Jahren für Flüchtlinge engagieren, die sich für den Krieg in Syrien interessiert haben, der seit vier Jahren wie eine offene moralische Wunde des Westens klafft; ja, sagen auch die, die in historischen Dimensionen denken und die großflächigen geopolitischen Verwüstungen verstehen, die die Amerikaner angerichtet haben, seit sie im Irak einmarschierten und das Land ins Chaos stürzten, weil sie nicht bereit waren oder in der Lage, dort eine demokratische Ordnung herzustellen, wie sie es nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland taten.

Man könnte sogar noch weiter zurück gehen, bis 1919 und dem Verrat von Woodrow Wilson, der nach dem Ersten Weltkrieg sein Versprechen für Unabhängigkeit für viele Länder brach, oder bis weit ins 19. oder sogar 18. Jahrhundert zu den Verwüstungen des Kolonialismus, und vielleicht kommen wir im Verlauf unseres Briefwechsels noch dazu: Du merkst schon, ich will dir eigentlich nur erzählen, was hier gerade passiert, in Berlin, wo ich lebe und wo die Flüchtlinge auf eine Bürokratie stoßen, die oft nur sadistisch wirkt in ihrer kafkaesken Undurchsichtigkeit – und schon bricht die ganz große Weltgeschichte herein.

Aber vielleicht ist das auch ganz treffend für die aktuelle Lage: Denn die Schicksale der einzelnen Menschen, die hierher kommen, vermischen sich mit Ängsten, die älter sind, werfen Fragen auf, die grundsätzlicher sind, eröffnen Dimensionen, die dauerhafter sind. Wenn etwa – zu Recht oder zu Unrecht – von einer "neuen Völkerwanderung" die Rede ist, dann suggeriert schon diese Wortwahl, dass irgendetwas zwischen Mongolensturm und den Türken vor Wien bevorsteht. Und tatsächlich sind die Ängste, die oft beschworen werden, die vor einer "Überfremdung" und speziell einer "Islamisierung" des so genannten "Abendlandes", auch das ein Wort, das ich lange, lange nicht mehr gehört hatte.

Es ist auf gewisse Weise, als sei Europa aufgewacht aus einem Schlummer, der 25 Jahre gedauert hat – und nun, wo die Wirklichkeit mit ihrer ganzen Vehemenz einbricht in diesen Kontinent, der an sich selbst erlahmt ist, scheint es so, als seien viele überfordert. Deutschland zum Beispiel tat sich bislang immer schwer damit zuzugeben, dass es ein Einwanderungsland ist – konservative Politiker weigerten sich, diese Realität wenigstens zu akzeptieren. In der gegenwärtigen Situation rächt sich das, denn das Land, das ein im Grunde bedingungsloses Asylrecht hat, das sich aus der Geschichte von Nazi-Deutschland erklärt, hat kein Einwanderungsrecht, das den derzeitigen Bedürfnissen entspricht.

So viel erstmal für heute. Ich kann dir noch viel erzählen, von unserer Kanzlerin, die alle verwirrt, nur sich selbst nicht, von Szenen, wie ich sie in Europa noch nie gesehen habe, Szenen der Hilfsbereitschaft und Szenen des Chaos, von meinen Hoffnungen, Zweifeln, von Optimismus und Pessimismus. Mehr aber würde mich deine Sicht auf all das interessieren, was für Deutschland wie ein historischer Einschnitt wirkt, für weite Teile der Welt aber natürlich nicht.

Herzlich,
Georg


Berlin, den 11. Oktober 2015