Migration – Emigration – Flucht
Der Flüchtling als abstrakte Figur?

Briefwechsel
Briefwechsel | Foto: © Colourbox.de/Goethe Institut Max Mueller Bhavan New Delhi

Lieber Georg,
 
Danke für Deine gedankenvolle Antwort. All die von Dir angesprochenen Fragen sind sehr wichtig. Bevor ich auf sie eingehe, möchte ich Dir erst noch die Geschichte eines Musafirs erzählen, der von Somaliland nach Deutschland gereist ist. Es ist eine verwickelte Geschichte mit vielen Wendungen, so dass ich hier nur einen Ausschnitt wiedergeben kann.
 
Ich nenne ihn Abdul.
 
Abdul traf ich 2012 in Berbera, einer Hafenstadt direkt am Horn von Afrika und zugleich dem einzigen internationalen Flughafen in Somaliland. Ich war für meine Zeitung unterwegs.
 
Abdul, der für einen Freund von mir in Hargeisa arbeitete, holte mich am Flughafen ab. Wir kamen ins Gespräch und zu meiner Überraschung sprach er fließend Hindi.
 
Abdul sprach außerdem fließend Englisch, Deutsch und Arabisch, zudem Telegu und Holländisch, und er konnte auch etwas Amharisch. Gelebt hatte er in Hargeisa, Mogadishu, Hyderabad, Mumbai, Addis Ababa, Tripoli, Basel und in drei deutschen Städten.
 
Seine Irrfahrt begann, als er in den Neunzigern ein indisches Visum fälschte und in der südindischen Stadt Hyderabad landete, wo er für eine örtliche Gang als Vollstrecker arbeitete. Nach fünf Jahren war er dieses kriminellen Lebens leid und kehrte nach Somaliland zurück.
 
„Aber nach wenigen Monaten langweilte mich das Leben zu Hause wieder und ich entschloss, nach Äthiopien zu gehen“, erzählte er, während wir auf der Autobahn fuhren, die Berbera und Hargeisa verbindet.    
 
Einige Monate verbrachte er in Äthiopien und machte sich dann mit dem Bus von Bahir Dar nach Khartoum im Sudan auf den Weg. Den Sudan verließ er Richtung Tripolis und von dort nahm er ein Schiff nach Italien, wo er behauptete, er fliehe vor dem niemals endenden Bürgerkrieg in Somalia, und versuchte, als Flüchtling anerkannt zu werden.
 
Seine Papiere wurden bearbeitet und er wurde nach Basel in der Schweiz geschickt, wo er in einer Flüchtlingsunterkunft unterkam, etwas finanzielle Zuwendung erhielt, aber nicht arbeiten durfte.
 
„Wieso aber soll man nach Europa gehen, wenn man nicht arbeiten kann?“, sagte er, „also begann ich illegal in einem indischen Restaurant zu arbeiten. Der Besitzer mochte mich, da ich mit den indischen Gästen Hindi sprechen konnte und natürlich auch, weil er mir nur wenig zahlen musste.“
 „Ich verstand mich mit den indischen Touristen gut und zeigte ihnen die Stadt. Zu der Zeit sprachen die meisten indischen Touristen nicht besonders gut Englisch – eben nur Hindi – und waren daher sehr dankbar, einen hindi-sprechenden Stadtführer zu haben.“  
 
Nach einiger Zeit fanden die schweizerischen Behörden heraus, dass Abdul arbeitete und damit gegen seine Aufenthaltsbestimmungen verstieß. Abdul beschloss, nach Deutschland zu fliehen.
„Jeden Tag ging ich zur deutsch-schweizerischen Grenze und beobachte die Lage. Die Grenzpolizisten kontrollierten jeden und überprüften die Papiere – jedes Auto, jeden Laster, jeden Mann, jede Frau, jedes Kind. Alle, außer die Sportler.“
 
„Die Radfahrer auf ihren Rennrädern, mit ihren Sportklamotten und kleinen Rucksäcken auf dem Rücken, in die nicht mehr als eine Handvoll Sachen passen, kontrollieren sie nicht. An jedem Wochenende kommen diese Radfahrer von Deutschland über die Grenze, fahren den Tag über in der Schweiz mit dem Rennrad herum und kehren abends dann wieder heim.“    
Also kauft Abdul ein Radfahrer-Outfit in bunten Farben. Er hat nicht genug Geld, um ein Fahrrad zu kaufen, er kauft stattdessen einen Schraubenzieher. In der Nacht bricht er mit dem Schraubenzieher ein Fahrradschloss auf und klaut das Rennrad.
Am nächsten Tag wartet er auf der schweizerischen Seite der Grenze auf deutsche Rennradfahrer und schließt sich ihnen kurz hinter der Grenze an.
 
Umdrehung für Umdrehung geht es über die malerischen Straßen Basels, weiter in die herrliche schweizerische Landschaft. Am Nachmittag kehren die Radfahrer um, die Grenze kommt drohend näher, der Grenzbeamte winkt die Radfahrer durch, ohne ihre Papiere zu überprüfen, und Abdul ist in Deutschland.
 
In Deutschland geht er in ein Restaurant, bestellt ein Bier und nippt an seinem Bier bis der Laden zu macht und der Besitzer ihn zu gehen auffordert.
 
„Ich sagte dem Besitzer, dass ich niemanden kenne und kein Zimmer zum Übernachten habe. Helfen Sie mir? Gott wird es Ihnen danken.“ Der Deutsche sagt ok, Sie können eine Nacht bleiben und schließt ihn im Restaurant ein.  
„Ich schlafe nicht. Ich putze alles: die Fenster, den Boden. Ich putze alles, ganz gründlich. Ich wusch und ich trocknete ab. Ich machte alle Gläser sauber, alles putze ich.“
Am Morgen konnte es der Besitzer kaum glauben.
„Du bist ein Arbeiter“, sagt der Deutsche. „Du kannst von heute an bleiben und ich werde Dich bezahlen.“
Abdul blieb in dem Restaurant, er heiratete eine Deutsche und sie hatten einen Sohn. Es gab Probleme in der Ehe, eine Scheidung und fünf Jahre nachdem er in Tripolis aufgebrochen war, kam er wieder zurück nach Somaliland.
 
„Warum bist Du zurückgekommen“, fragte ich ihn?
„Das ist eine komplizierte Geschichte. Ich hatte Probleme mit allen – mit meiner Frau, Europa, der Polizei, mit allen.“
 
Einige Monate später telefoniere ich mit meinem Freund in Hargeisa, für den Abdul arbeitete.
„Wie geht es Abdul“, fragte ich? 
„Wer?“
„Abdul, der Mann, der in Indien, in Deutschland und im Sudan und überall sonst gelebt hat.“
„Das weiß ich nicht. Er ist verrückt. Wir hatten einen Streit und er hat gekündigt und ist aus Hargeisa abgehauen. Niemand weiß, wohin.“

***
 
Ich erzähle Dir diese Geschichte, denn mir scheint, als würde der Flüchtling in den derzeit kursierenden Geschichten über den Marsch der Menschheit durch Europa zu einer abstrakten Figur reduziert. In Deiner Mail schreibst Du:
 
„Denn die Menschen, die kommen, werden reduziert. Sie sind nicht mehr, als sie sind. Sie haben nicht mehr, als sie haben, und wer ihnen auch noch die Würde nimmt, der lässt ihnen nur noch die Plastiktüte, mit der sie seit Monaten unterwegs sind. Sie sind das nackte Sein, bar jeder Zivilisation. Und die Zivilisation reagiert, indem sie sich verleugnet.“
 
Was ließ Dich diese Figur des Flüchtlings so entwerfen? Was meinst Du, wenn Du sagst, Flüchtlinge seien „das nackte Sein, bar jeder Zivilisation“? Ist die Zivilisation ein Geschenk des Nationalstaats, das man verliert, wenn man seine Heimat verlässt?
 
Und wer oder was ist diese „Zivilisation“, die „reagiert, indem sie sich verleugnet“?
 
Ist Abdul, jener Musafir aus Somalia, ein nacktes Sein, bar jeder Zivilisation?
 
Nein, er ist ein intelligenter, ehrgeiziger, denkender Vertreter des freien Willens, der eine internationale Grenze als ein zu lösendes Puzzle betrachtet.
 
Den europäischen Regierungen liegt daran, die Figur des hilflosen und verzweifelten Flüchtlings zu entwerfen. Wenn man hilflos und verzweifelt ist und vor einem Bürgerkrieg flieht, dann muss man für alles dankbar sein, was Europa einem gibt – man muss sich dankbar zeigen für ein winterfestes Zelt auf einem großen Gelände und drei Mahlzeiten am Tag.
 
Das ist das Narrativ, das die Macht rings um die Welt erzeugt. Geh dem nicht auf den Leim.
 
In Indien rechtfertigen genau damit mehrere aufeinander folgende Regierungen den Ankauf von Gemeinschaftsgrundstücken und die Vertreibungen von Millionen Menschen im Namen des Fortschritts und der Fortentwicklung. Es ist eine einfache Strategie, nach der einer Lebensart zunächst in der öffentlichen Debatte alle Bedeutung, Freude und alle Wertigkeit abgesprochen wird. Dann wird das Eingreifen des Staates als ein Akt „humanitärer Hilfe“ ausgegeben, als ein kollektives bürgerschaftliches Opfer, das dem Steuerzahler teuer zu stehen kommt. Dieses „Opfer“ rechtfertigt alles, was dann folgt. Glücklicherweise glauben in Indien nur wenige, dass der Staat sie vor den von ihm selbst durchgeführten Plünderungen bewahrt.
 
Gegenwärtig tun die europäischen Regierungen noch so, als könnten sie den Marsch der Musafirs tatsächlich kontrollieren: dass sie dieses „Problem“ „lösen“ können. Es gibt aber keine Lösung für den Marsch der Geschichte. Wir können ihn nur durchleben und hoffen, seinen Gang zu verändern.
 
Du wirfst eine Frage auf: „Und eben die Zeit, die vorwärts und rückwärts läuft. Was ja die Frage beinhaltet, ob die Zeit, die rückwärts läuft, die Abwicklung dessen ist, was sich vorher ereignet hat. Eine umgekehrte Moderne also, deren Ergebnisse, Formen, Triumphe sich wieder in das verwandeln, was vorher war. Was aber würde das bedeuten für Demokratie, Menschenrechte, Individualismus, Säkularismus, Nation, Staat?“
Ich bin der Ansicht, wir müssen aufhören, wie der Staat zu denken – und dies sind Denkkategorien, wie der Staat sie verwendet. Sie machen den Staat zur wichtigsten Instanz und uns bleibt nur übrig, Eingaben bei unseren lokalen Volksvertretern zu machen.
 
Die kommende Wahl in den USA liefert ein faszinierendes Beispiel, wie selbst die Sprache, die im Wahlkampf verwendet wird, komplett erschöpft und aller Bedeutung entleert ist.
Solltest Du die Debatten nicht verfolgt haben, dann rate ich dir, das unbedingt zu tun. In diesen Debatten zeigt sich einem ein surrealer wie hoffnungsvoller Moment, der uns härter, besser und schärfer denken lassen kann.
 
Um diese Mail zu beschließen, möchte ich Dich mit einem anderen Bild verabschieden: Stell Dir einen Musafir nicht als nacktes Sein vor, das unter polizeilicher Aufsicht durch eine zynische Landschaft trottet – es wäre ein Bild, das keine Herausforderung für Deine Weltsicht darstellt. Diese Figur ruft nur Mitleid hervor und weckt Hoffnungen auf Rettungsversuche.
 
Denk stattdessen besser an einen jungen, muskulösen somalischen Mann, wie er in seinem glänzenden Outfit aus Elastan auf einem gestohlenen 7-Gang-Rad über die deutsch-schweizerische Grenze rauscht.
Er war nicht auf Kanzlerin Merkel angewiesen, um eine Bleibe in Deutschland zu finden. Das schaffte er allein. Welche Antworten und Gedanken lassen uns seine Handlungen, Entscheidungen und sein Leben finden, und wie können wir diese feiern?
 
Dein
Aman


New Delhi, den 7. November 2015