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Theater & Performance
DAS GESCHLECHT DER NATUR

Männerbilder - Performing masculinity
© Goethe-Institut Chennai

Während meines ersten Auftritts als Schauspielerin in dem Stück Images of Feminity am Max Muller Bhavan warf ich Luftballons aus meiner Bluse in Richtung Publikum. Für die Sechzehnjährige, die ich damals war, war es mehr als nur Spaß, mehr als es ihr in diesem Alter bewusst war. Die Erfahrung verfolgte mich und so begann das Spiel, mich durch die Rollen, die ich einnahm, zu verändern.

Von Mia Maelzer

Der/Die Schauspieler:in besitzt die Fähigkeit, das jeweilige Publikum in eine parallele Wirklichkeit voller Wunder zu versetzen, in der jede:r das Wesen des eigenen Bewusstseins erfahren sowie spirituelle und moralische Fragen reflektieren kann.
 
Es ist unerlässlich, die Definition des Theaters mit fortdauerndem Experimentieren mit Ästhetik, Performance-Stil und Sprache zu hinterfragen. Ich habe den Wunsch entwickelt, die Barrieren bezüglich sozialer Herkunft, Abstammung und Geschlecht abzubauen, um etwas zu schaffen, das unanfechtbar menschlich ist.
 
Dabei wurde mir klar, dass Männlichkeit nicht etwas Natürliches ist, sondern ein gesellschaftliches Konstrukt darstellt. In Millionen von Jahren der Menschheitsgeschichte haben sich bestimmte Verhaltensmuster für verschiedene Arten herausgebildet. Diese Verhaltensweisen zu untersuchen, wird extrem wichtig, wenn man verstehen will, wie die Beziehungen zwischen Geist und Körper innerhalb unterschiedlicher Kulturen funktionieren. Es ist weniger unmittelbar oder im Erinnerungsvermögen des Einzelnen greifbar, es ist vielmehr ein kollektives Gedächtnis von Menschen, die nicht genau sagen können, wann und wie sie damit begonnen haben, sich zu einer gegebenen Zeit auf eine bestimmte Weise zu verhalten oder auf eine bestimmte Weise zu reagieren. Als Schauspielerin geht es bei meinen Untersuchungen häufig darum, diesen Antworten über die zusätzlichen Leben, die ich beim Schauspielern leben darf, nachzugehen.
 
Je mehr ich mich mit meinen jungen Student:innen verbinde, desto weniger starr erlebe ich sie, wenn sie die Aufgabe bekommen, ihr Cisgender (von Geburt) zu ändern. Bis vor wenigen Jahrzehnten war es kaum möglich, Kritik daran zu hören, dass und wie männlichen Kindern beigebracht wurde „Jungen weinen nicht“. Parallelen dazu lassen sich endlos finden, allerdings stimmt die Realität mit diesen weit verbreiteten Sprüche selten überein. Ich habe Männer weinen sehen, ich habe Männer scheitern sehen, aber ich habe auch gesehen, dass ihnen nicht zugesprochen wurde, ihr Scheitern zum Ausdruck zu bringen (es sei denn, sie haben etwas eingenommen oder befinden sich geistig in einer anderen Welt). Sie finden gerne Ausreden, sie verstecken sich hinter einer Verteidigungsstrategie. Es ist ein militärisches Training, das unserem neurologischen System biologisch verabreicht wird.
 
Es ist nicht so einfach wie ich diese wissenschaftliche Angelegenheit zu halten versuche und ich muss den Hintergrund erklären. Ich habe viele Frauen gesehen, die ebenfalls gewalttätig waren und Verbrechen begangen haben. Die Art und Weise aber, wie ein Mann oder eine Frau rehabilitiert werden, unterscheidet sich. Dort liegt der Unterschied, der mich dazu brachte, meine Sicht ein wenig über das hinaus zu zoomen, was mir mein Umfeld auferlegte. Im Leben ist Flexibilität häufig ein Vorteil gegenüber der Starrheit.
 
Wenn wir diesen kodifizierten Verhaltensweisen auf den Grund gehen, stellen wir fest, dass alle von einem winzigen Teil unseres Gehirns gesteuert werden, der Amygdala. Den Zustand, vor Angst wie betäubt zu sein, bezeichnet man als „Amygdala Hijack“. Dieser Zustand kann deshalb eintreten, weil wir nicht zweibeinig, sondern vierbeinig geboren wurden, und dies hat uns maßgeblich dazu gebracht, uns gegen unseren natürlichen Zustand zu verhalten.
 
Wenn wir über Männlichkeit oder über das umfassendere Thema Gender sprechen wollen, dann sollten wir eine nicht nur auf den Menschen beschränkte Weltsicht einnehmen. Sobald wir die biologische Welt der Säugetiere, Insekten, Vögel und Mikroorganismen betrachten, stellen wir fest, dass Geschlecht kein binäres Phänomen ist, sondern vielmehr ein fließendes Spektrum von ineinander übergehenden Verhaltensweisen. Darüber hinaus ist der Hermaphroditismus bei bestimmten Wirbellosen wie Schnecken und Regenwürmern ein natürlicher Zustand, bei dem der Partner als weiblich oder männlich auftreten kann.
 
Jüngsten Studien zufolge „...beträgt der Anteil der Tierarten, die Hermaphroditismus aufweisen, etwa 5% aller Tierarten, oder, rechnet man Insekten nicht mit, 33%. Die meisten zwittrigen Arten weisen zu einem gewissen Grad Selbstbefruchtung auf. Die Verteilung der Selbstbefruchtungsraten bei Tieren ähnelt denen bei Pflanzen, was darauf hindeutet, dass ähnliche Prozesse am Werk sind, die die Entwicklungsgeschichte der Selbstbefruchtung bei Tieren und Pflanzen steuern...“
 
Daher lässt sich nicht davon sprechen, dass das Geschlecht kein flexibler Seinszustand ist  weder durch die Geburt (Cisgender) noch durch ein Naturgesetz. Meine persönlichen Erfahrungen und meine zum Ausdruck gebrachten Gefühle wurden nun zum Fundament einer jeden Rolle, die ich spielte. Und ich habe nicht immer mein Cisgender gespielt.
 
Linda Öhlund schreibt: „Mehr als jede andere Generation zuvor, lehnt die Gen Z traditionelle Gender-Stereotypen ab. Laut einer aktuellen Studie betrachten 50% der Millenials Gender als ein Spektrum und sind der Meinung, dass viele Menschen nicht unter die herkömmlichen Kategorien von männlich und weiblich fallen.“
 
Dies ist eine klare und präsente Verschiebung hin zum „Gender-Agnostizismus“, was der natürliche Zustand der Dinge in der biologischen Welt zu sein scheint.
Während meiner letzten Regiearbeit – Sambhar Project 2020 – habe ich versucht, eine apokalyptische Geschichte von Klimawandel, Massensterben, Migration und Evolutionsgeschichte zu erzählen. Dazu bewogen hat mich das Sterben von 20.000 bis 40.000 Zugvögeln am Sambhar-See in Rajasthan aufgrund mikrobiologischer Veränderungen im Wasser des Sees. Die Vögel tranken das Wasser bei ihrem jährlichen Aufenthalt dort. Dieses Mal lähmte es sie, bis sie starben.
 
Zwei Monate später wurden die Tausende von Vogelkadavern beinahe zu einem prophetischen Omen für die globale Corona-Pandemie, die die menschliche Zivilisation mit einer bisher ungeahnten Kraft traf. Ich versuchte mit dem Bewegungstheater das, was den Vögeln geschehen war, als Metapher für das zu verwenden, was mit den Menschen geschah. Schauspieler und Schauspielerinnen stellten in der Aufführung die Vögel dar und verwendeten Elemente von Volksmärchen, der Folk Musik, eine Szene aus dem Mahabharata und des Japanischen Butoh. Ich griff auf Butoh aus dem Grund zurück, weil ich die Bewegungen eines Körpers mit Behinderungen erkunden wollte. Meine Erfahrungen mit dem Kabuki-Training und mit Praktiken des Butoh halfen mir, den Klimax dieses Theaterfilms zu schaffen, bei dem die Gottheit Krishna von Gandhari zum Sterben verflucht wird.
 
Meine tiefgründigste Erfahrung während der Filmarbeiten war der völlige Verlust des Geschlechts, als sich der gesamte Fokus auf eine Arten-bedrohende Seuche verlagerte. Dies brachte mich dazu, über die Evolution und über unser Verhältnis zu anderen Arten nachzudenken und zu früheren Arten, die inzwischen komplett ausgestorben sind, wie den von mir dargestellten Vogel Archäopterix.
 
Meine Arbeit als Schauspielerin ist davon geprägt, dass ich die traditionelle Ausbildung meines Handwerks in der heutigen Zeit des Filmemachens anwende. Die Herausforderung dabei ist, eine Methodik zu finden, die auch dann relevant bleibt, wenn menschliche Interaktion mit Maschinen die Notwendigkeit der Interaktion mit der Natur überholt. Die Spuren alter Rituale und traditioneller Künste liegen zunehmend versteckt hinter den Ablagerungen von Migration und von Krieg gegen die Natur.
 
Es ist nicht zu übersehen, dass die Narrative ständig miteinander kollidieren. Ich verwende verschiedene psychophysische Übungen, um Körper und Geist zu befähigen, mich der Erfahrung eines als Drehbuch geschriebenen Lebens zu widersetzen und mir ein Verhalten vorzustellen, das nicht zwangsläufig eine Wiederholung meiner persönlichen Verhaltensmuster ist.
 
Und diese Mikro-Verhaltensgesten, welche eine Körpersprache darstellen, können durch Körpertraining und über unser Nervensystem verändert oder weiterentwickelt werden, genau wie es ein Schauspieler tut. In diesem Zusammenhang untersuche ich derzeit das Bild des „gescheiterten Mannes“, einschließlich der verschiedenen gesellschaftlichen Krankheiten wie Alkoholismus, Kleinkriminalität, Glücksspiel, psychische Gesundheit und Stigmata, die die Männer umgeben. Es ist ein Work-in-Progress.
 
Es sind dies Facetten, die ich bereits in meinen Arbeiten wie The Field von Sandhya Suri exploriert habe.
 
Im Zusammenhang mit den oben genannten Themen arbeite ich außerdem an einem Neue-Medien-Projekt auf der Grundlage von Red Oleander (Rakto Korobi), einem Einakter aus der Feder des Nobelpreisträgers Rabindranath Tagore. Das Projekt behandelt die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Leben Hier (Urban) und Dort (Rural). Da menschliche Erfahrungen universell sind, sind es auch menschliche Emotionen. Arbeitsvertreibung, Männlichkeit und Existentialismus sind die Kernthemen dieses Projekts.


Mia Maelzer © Mia Maelzer (private) Mia Maelzer ist eine internationale Bühnen- und Filmschauspielerin, die in Indien lebt. Sie ist die Tochter einer nepalesischen Mutter und eines bengalischen Vaters. Ihre Arbeiten sind in der "Criterion Collection" zu sehen. Mia Melzer absolvierte die Schule der "National School of Drama" und ist vor allem für den bei TIFF18 ausgezeichneten Film "THE FIELD" bekannt. Der Film wurde auch für den renommierten BAFTA und Sundance Award nominiert und gewann bei der IFFLA den Grand Jury Award 2019. Sie führte Regie bei ihrem ersten internationalen Theaterdokumentarfilm Sambhar Project 2020, der von der IFFSA in Toronto aus weltweit gezeigt wurde. 

Mia entwickelt international ihre eigene Pädagogik des Schauspiels in Asien, indem sie ihr eigenes Performance-Kunstwerk als Play-Lab South Asia kreiert. 

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