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Geschlechterrollen
Männlichkeit als Tanz

Von Mandeep Raikhy

Im Tanz kann man bewusst auswählen, was man lernen möchte, von wem, wie lange und dergleichen mehr. Diese Entscheidungen und die ihnen zugrundeliegenden Mechanismen sind im Falle des Tanzes sehr viel offensichtlicher. Eine Geschlechterrolle hingegen eignet man sich an, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Man erhält sie nicht nur durch ein*e Lehrer*in übermittelt, sondern aus allen möglichen Quellen: von Eltern, Verwandten, Gleichaltrigen, Lehrer*innen; aus dem Fernsehen, der Mythologie, den Nachrichten, Büchern, Musik, Filmen. Die Weitergabe von Geschlechterrollen beruht auf einem komplexen System, das sehr früh ansetzt. Jeder soziale Kontakt ist eine Lehrstunde und man beginnt die Lektionen umzusetzen, sobald man laufen und sprechen kann.

a male ant has straight antennae © Soumita Bhattacharya © Soumita Bhattacharya
Eine meiner frühesten Erinnerungen an dieses Lehrsystem, abgesehen von den andauernden Anweisungen meiner Eltern, wie ich mich zu bewegen, wie ich zu sprechen und zu sein hätte, stammt von einem Erlebnis, das ich mit acht Jahren auf einem Kinderspielplatz in Chandrigarh hatte. Es war 1988, ein paar Jahre bevor Judith Butler* ihre gefeierten Thesen zum performativen Charakter von „Geschlecht“veröffentlichte, und Jahrzehnte, bevor ich sie zu Gesicht bekam. Ein anderes Kind im Park verkündete lauthals, ich bewegte meine Hüften beim Gehen wie ein Mädchen. Als ich seiner Beobachtung widersprach, rief der Junge andere Kinder zusammen, um meinen Gang zu inspizieren und meinen angeblich femininen Hüftschwung zu bestätigen. In diesem Moment, mit acht Jahren, wurde mir klar, wie eng Geschlecht mit den Bewegungen des Körpers zusammenhängt und dass Geschlecht etwas ist, das aufgeführt wird – häufig auf Verlangen.

Ich erinnere mich, wie ich, bevor ich meinen Gang vor den anderen Kindern darbot, all meine Konzentration darauf verwandte, ja nicht mit den Hüften von Seite zu Seite zu wackeln. Ich weiß nicht mehr, wie das Urteil der Jury ausfiel, aber es dauerte 25 Jahre, bis ich beginnen konnte, diese Erfahrung zu verarbeiten und für mich einzuordnen. Erst als ich 2013 mit der Arbeit an meiner Choreografie a male ant has straight antennae begann, wurde mir klar, welche Auswirkungen der Vorfall auf dem Spielplatz auf mich gehabt hatte. Ich blickte zurück auf meine prägenden Jahre und erkannte, wie ich stets den Erwartungen, Anweisungen und Korrekturen anderer Menschen, wie ich meine Männlichkeit auszudrücken hätte, ausgewichen war, .

In einer Gruppe von sieben Tänzer:innen machten wir uns an eine Studie zur Maskulinität an der Schnittstelle von Tanz, Geschlecht und Performance. Von Beginn an war es meine Absicht als Choreograf, Möglichkeiten zu finden, die Mechanismen der Übermittlung von Geschlechterrollen sichtbar zu machen, denen wir alle unausweichlich ausgesetzt sind. Gerade, weil Tanz und Geschlechterrollen so weitreichende Parallelen aufweisen – sie beide stützen sich jeweils auf ein komplexes Ausbildungssystem, das den Körper in seiner Ausdrucksform prägt – bietet der Tanz eine Linse, durch die wir Maskulinität untersuchen können.

Kann eine Männlichkeit, die durch den und als Tanz betrachtet wird, in Bewegung und im steten Fluss bleiben? Kann sie als Prozess verstanden werden, fortwährend in ihrer Auflösung und Neuformulierung begriffen? Bei der Ausarbeitung und Aufführung von a male ant has straight antennae kamen verschiedene Fragen auf.
a male ant has straight antennae © Soumita Bhattacharya © Soumita Bhattacharya
Wie werden unterschiedliche Körperteile auf Maskulinität getrimmt? Wie zum Beispiel drücken wir unsere Männlichkeit durch unser Handgelenk aus? Wie durch unsere Brust, unsere Hüften, unser Kinn und unsere Schultern? Andersherum: Woran erkennen wir, wenn diese Körperteile ihre Männlichkeit eingebüßt haben? Gibt es einen eingebauten Alarm, der uns ob unserer Übertretungen warnt? Wie verkörpern wir unsere Geschlechterrolle in so simplen Aktivitäten wie Gehen, Laufen, Sitzen und Stehen? Wie wird Maskulinität im Kontext dieser Aktivitäten konstruiert und aufgeführt? Liegt sie in der Art und Weise, in der verschiedene Körperteile zusammenwirken? Was geschieht, wenn sich die Hüfte beim Gehen nach vorne neigt? Was, wenn sich der Brustkorb weitet, wenn wir stehen?

Wie sprechen wir Vorstellungen von Männlichkeit an, die sich im Augenblick des zwischenmenschlichen Kontakts manifestieren? Wie offenbart sich Geschlecht auf der Oberfläche der Haut? Wenn wir jemandem die Hand schütteln, wird dieser Moment zur Bühne unserer Maskulinität? Welche Arten von Berührungen bedrohen unsere Vorstellung von Männlichkeit? Wenn ich jemanden sanft, voller Zärtlichkeit und Vorsicht anfasse, erlebe ich einen inneren Konflikt mit meiner Männlichkeit? Ruht meine Darbietung von Maskulinität, wenn ich mich unbeobachtet fühle?
a male ant has straight antennae © Soumita Bhattacharya © Soumita Bhattacharya
Die Studioräume wurden bei der Arbeit an diesem Stück zur Baustelle, auf der Maskulinität auf verschiedenste Art konstruiert, abgerissen, wieder aufgebaut, erfahren, studiert, herausgefordert, entlernt und vorgeführt wurde. Meine Beziehung zur Darstellung wandelte sich radikal im Laufe dieses Prozesses. Eine Tanzaufführung wird oft als Argument dargeboten, als Aussage, als Behauptung. Ich begann mich zu fragen, ob uns das Medium des Tanzes, anstatt unsere gewohnte Körperlichkeit zu betonen und zu bestätigen, nicht erlauben könnte, die Beziehung zu unserem Körper fortlaufend neu zu gestalten. Was geschieht mit der Maskulinität, wenn sie derart präsentiert wird?

* Butler, Judith (1991). Das Unbehagen der Geschlechter. Suhrkamp, Frankfurt am Main.

Mandeep Raikhy © Chandni Sarcar © Chandni Sarcar Mandeep ist Tänzer und Choreograf. Sein Interesse gilt den Schnittpunkten von Tanz, Performance, Soziologie und Pädagogik. Er begann sein Studium des Jazztanzes mit 19 Jahren am Danceworx in Neu Delhi. Danach führte ihn seine Begeisterung für zeitgenössischen Tanz nach London, wo er sein Studium am Trinity Laban Conservatoire of Music and Dance mit einem Bachelor in Tanztheater abschloss. Von 2005 bis 2009 war er mit der Shobana Jeyasingh Dance Company aus London auf Tour. Mandeep hat mehrere Choreografien geschaffen, darunter Inhabited Geometry (2010), a male ant has straight antennae (2013) und Queen-size (2016). Diese Stücke wurden international aufgeführt, unter anderem am Kampnagel, South Bank Centre und dem Singapore International Arts Festival.

Mandeep Raikhy © Chandni Sarcar © Chandni Sarcar Seit 2009 ist Mandeep Geschäftsführer am Gati Dance Forum. Er arbeitet in dieser Rolle daran, eine Infrastruktur für zeitgenössischen Tanz in Indien zu entwickeln, durch Projekte wie Stipendien, Festivals, Veröffentlichungen und Öffentlichkeitsarbeit. Derzeit unterrichtet er als Assistenzprofessor an der Ambedkar University in Neu Delhi ein Programm in Performance Practice (Dance).  Der praxisorientierte Masterabschluss in Tanz, den es bietet, ist der erste seiner Art in Südasien.

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