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Aus aktueller Perspektive
Der Aufstieg des visuellen Storytellings

Straßenkunst war Balsam für viele Inder, die während einer verheerenden Coronavirus-Pandemie in ihren Häusern eingesperrt waren.
Straßenkunst war Balsam für viele Inder, die während einer verheerenden Coronavirus-Pandemie in ihren Häusern eingesperrt waren. | © Faizal Khan

Die Geschichte von Comics, Graphic Novels und Streetart in Indien bietet auch eine faszinierende Reise durch Stilrichtungen, Gedankenwelten und Ideenlandschaften.

Von Faizal Khan

Erkundungen, die die Welt bewegten – so lautete vor fast einem Jahrzehnt das Motto der zweiten Ausgabe der ersten Biennale Indiens, auf die Kunstschaffende aus dem In- und Ausland mit Begeisterung reagierten. Sie schufen einen bilderreichen Kosmos, den sie dieser einen Sache widmeten, die Land, Wasser und Himmel miteinander verbindet – dem Reisen. Unter den damaligen Werken befand sich auch eine Serie mit Zeichnungen, die direkt aus einem Comicbuch über die mehr als zwei Jahrtausende zurückliegenden Reisen zwischen Ost und West entnommen waren. Für die darauffolgende Ausgabe der Kochi-Muziris Biennale engagierte das Festival einen Graphic-Novel-Autor und schenkte damit erstmals auch Randbereichen der Kultur Beachtung. Es war keineswegs ein Zufall, dass beide Jahrgänge Straßenkunst an den Wänden der Veranstaltungsorte präsentierten.

In der aktuellen indischen Kunstlandschaft ist mit der Zeit ein bunter Reigen aus Comics, Graphic Novels und Streetart zu einem festen Bestandteil der Popkultur geworden. Für die Entwicklung aller drei Darstellungsformen der bildenden Kunst war das zurückliegende Jahrzehnt besonders prägend. Auf der Biennale in Fort Kochi, Kerala, illustrierte der damals neunzigjährige Künstler K. M. Vasudevan Namboothiri in comicstripartigen Zeichnungen die koloniale Geschichte dieser historischen Stadt, die als Gastgeberin dieser Veranstaltung zur zeitgenössischen Kunst auftritt. Graphic-Novel-Autor Orijit Sens setzte Menschen und Orten ein eindrucksvolles Denkmal mit seinem Tribut an das schillernde Leben in einem Dorf in Rajasthan, auf einem Markt in Goa oder in einem Stadtzentrum von Hyderabad, das er interaktiv auf der Biennale präsentierte.

Die Comic-Kunst hat in Indien eine faszinierende Entwicklung durchlaufen. In ihr verbindet sich die starke nationale Tradition des mündlichen und visuellen Erzählens mit der schier unendlichen Fülle von Sprachen und Kulturen. Seit erste kleine Kolumnen mit ausländischen Superhelden in den Wochenendausgaben der Zeitungen erschienen, hat sich viel getan im indischen Comic-Genre. Während die ersten Comic-Geschichten jahrzehntelang vorrangig von Göttern und Göttinnen, von Königen und Höflingen oder Kriegern und Hofnarren bevölkert waren und Generationen von Anhänger*innen fanden, zieht sich durch zeitgenössische indische Comics ein ganzes Kaleidoskop von Stilrichtungen und Ideen.

Neue einheimische Superheld*innen stießen beim Publikum auf große Begeisterung. Gleichzeitig hat das wachsende Interesse von Kunstschaffenden an der Auseinandersetzung mit zentralen gesellschaftlichen Themen wie Diversität und Inklusion und dem Umgang mit Tabuthemen wie gleichgeschlechtlicher Liebe und transsexuellem Leben dem Genre zu einem zusätzlichen Aufschwung verholfen. Diese Themen finden sich auch in Kari von Amruta Patil zur gleichgeschlechtlichen Liebe und in Spellbound - A Graphic Memoir von Bishakh Som zu Transgender-Rechten.

In einer neuen Comicreihe in Hindi und Englisch dreht sich alles um eine Superheldin namens Dabung Girl. Das kleine Mädchen mit dem elastischen Körper ist stets bereit, den Benachteiligten und Schwächsten der Gesellschaft zu helfen. Immer mehr Comic-Bücher behandeln in ihren Zeichnungen die Themen Gleichberechtigung, Diversität und Respekt für die Natur und damit Themen, die in Indien immer mehr Raum in aktuellen Comic-Strips, Graphic Novels und Straßenkunst einnehmen. Auch durch Technologien wurden Comics aus Indien auf ein neues Level gehoben. Im vergangenen Jahr wurden Epen und Volksmärchen auf Blockhain-Plattformen veröffentlicht und neue Avatare für die Vermarktung von Comics in Form von Non-Fungible Tokens (NFT) für eine von der Corona-Pandemie paralysierte Gesellschaft entwickelt.

Diese Veränderungen haben sich bei Graphic Novels, die in Indien gegen Ende des vergangenen Jahrzehnts aufkamen, deutlicher bemerkbar gemacht als bei Comics, die seit den 1950er Jahren verbreitet sind. Orijit Sens River of Stories aus dem Jahre 1994 gilt als erste Graphic Novel Indiens und portraitiert die Umweltprobleme des Landes als eine vorausschauende Warnung vor der Klimakatastrophe. Spätere Werke widmeten sich wie Kari von Amruta Patil Themen wie LGBTQ-Rechten, in Hush von Prateek Thomas geht es um Gewalt gegen Kinder, in Jai Undurtis Hyderabad: A Graphic Novel erzählt von der Verbindung zwischen Hyderabad und Hamburg durch Geschichten, Kalki Koechlins The Elephant In The Womb behandelt Mutterschaft und Doab Dil von Sarnath Banerjee ist eine philosophische Reise durch die Absurditäten des Lebens. All diese Werke haben den Status der Graphic Novel in Indien weiter gefestigt.

Als Nachzüglerin in der Welt der Comics entwickelte sich die indische Straßenkunst aus der frühen Graffitikunst für Wahlkampagnen und hat sich inzwischen in der Geschichte des Visual Storytelling einen einigen Namen gemacht. Nachdem vor über 15 Jahren erste Werke an fleckigen Hauswänden in einem Dorf südwestlich von Delhi erschienen, wird Straßenkunst heute von zahlreichen Künstler*innen praktiziert und erfreut sich vieler Anhänger*innen. In mehreren Bundestaaten sind Künstler*innenviertel aus dem Boden geschossen und tragen dazu bei, das Genre in seiner Funktion als Bindeglied zwischen Gesellschaft und Kunstwelt fest zu etablieren. Kurz im Anschluss an die Olympiade und die Paralympics 2020 in Tokio trotzten Streetart-Künstler*innen in Delhi der Pandemie und malten großflächige Portraits aller Mitglieder der indischen Paralympics-Delegation auf U-Bahn-Säulen, um ihrem Sportler*innengeist ein Denkmal zu setzen.

Werke der Straßenkunst in allernächster Nachbarschaft waren wie Balsam für die Seelen vieler Menschen in Indien, die ihre Wohnungen wegen einer bedrückenden Pandemie nicht verlassen durften und durch Covid-19-Beschränkungen so gut wie keine Bewegungsfreiheit hatten. Sie waren ein Balsam, weil diese Gemälde von Tieren, Gebäuden, Flüssen eine bunte neue Welt in ihre Umgebung brachten und auf diese Weise einen dringend benötigten Ausgleich zum Eingesperrtsein in den eigenen vier Wänden boten. Diejenigen Glücklichen, in deren Stadtvierteln farbenfrohe Malereien die Hauswände zierten, betrachteten diese Streetart als Geschenk des Lebens. In Alappuzha, einer von Kanälen durchzogenen geschäftigen Hafenstadt in Kerala mit zahlreichen Coir-Lagerhäusern aus der Kolonialzeit zeichneten Künstler*innen ein überlebensgroßes Bild von einem Boot voller Menschen an die Mauer eines Museums. Sie wollten damit an den Akt des Reisens erinnern und mit den Mitteln der Straßenkunst ein visuelles Gedächtnis dafür schaffen. Alappuzhas Schlangenboot-Mauer sowie eine ganze Reihe neuer Kunstviertel, die an Orten wie Ukkadam in Tamil Nadus Coimbatore und Lodhi Colony in Delhi aus dem Boden schießen, bieten eine neue Perspektive auf das Visual Storytelling in Indien.

 

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