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21.05.2019 | Jonas Lüscher
Korruption, Nepotismus, Führerpolitik, Erlösermythos - Ich mag nicht so recht an den „guten Populisten“ glauben.

Jonas Lüscher Foto: Ekko von Schwichow

Liebe Freund*innen,
 
nachdem ich nun auch Michaels Brief gelesen habe, will ich ihn zu ergänzen versuchen und mit einigen eigenen Anmerkungen auf Ágnes und Yvonne reagieren.
 
Ágnes Unterscheidung zwischen Populisten und Ethnonationalisten erscheint mir interessant, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie einer näheren Betrachtung in dieser Eindeutigkeit standhält. Gerade die beiden Figuren, die Ágnes als Beispiele für tatsächliche Populisten nennt, Perón und Chávez, sind doch ausgesprochen facettenreiche Persönlichkeiten.

Perón war ein bekennender Faschist, ein mehrfacher Putschist, ein Militarist und Nationalist, ein Sozialreformer, ein Held der Arbeiterklasse, ein Charismatiker, ein opportunistischer Wendehals zwischen linken und rechten Positionen und ja, dabei bediente er sich populistischer Methoden. Aber können wir wirklich davon ausgehen, dieser schillernde Politikstil sei in erster Linie der Sorge um das Wohlergehen des Volkes geschuldet und nicht doch vor allem dem Willen zur Macht und dem Bewusstsein der eigenen Größe und Heilsbringerschaft?

War nicht gerade die perónistische Sozialpolitik weitestgehend ein Klientellismus und seine drei Amtszeiten geprägt durch Nepotismus? Genauso wie die Chávez-Regierung von Korruption und Nepotismus geprägt war und sein Regierungsstil zusehends autoritärer wurde. Ging es Chávez nicht in erster Linie irgendwann vor allem um Chávez, Perón um Perón? 

Ich mag nicht so recht an den „guten Populisten“ glauben, der aus Sorge um das Wohl des Volkes handelt.

Ich mag nicht so recht an den „guten Populisten“ glauben, der aus Sorge um das Wohl des Volkes handelt. Gerade das Entstehen einer Oligarchie, auch wenn diese unter Umständen nur im Verborgenen agiert und nicht ganz so schamlos ist wie im heutigen Ungarn, scheint dem Populismus doch inhärent. Populistische Politik ist zudem immer die Politik eines starken Mannes (selten einer starken Frau), Führerpolitik mit Heilsbringer- und Erlösermythos – für die Führerfigur ist der Populismus vor allem Mittel zum Zweck des eigenen Machterhalts und natürlich oft der eigenen Bereicherung.

Ich halte es deswegen durchaus für sinnvoll, Orbáns Ethnonationalismus als Populismus zu bezeichnen. Dass der Populismus in unterschiedlichen Erscheinungsformen auftritt, ist ja die Prämisse unseres Dialoges. Und hier finde ich dann Ágnes‘ Hinweis, dass der Orbánsche Populismus nicht mehr das Volk, sondern die Nation in den Blick nimmt, interessant.

Ágnes schreibt: „Diese ethnonationalistischen Parteien behaupten nicht einmal, das „Volk“ zu unterstützen; sie unterstützen die „Nation“.“ Gemeint ist damit hier, wenn ich Ágnes richtig verstehe, der Begriff des Volkes im Sinne von „der einfache Bürger“ im Gegensatz zum Mitglied der „Elite“.
Der Begriff des Volkes ist ja ein polyphoner. Einerseits wird er von Populisten mit einer Art klassenkämpferischen Impetus verwendet – der einfache, hart arbeitende Mann aus dem Volk hier, die abgehobene Elite da – andererseits hat der Begriff des Volkes auch immer eine völkische Konnotation.

Der Schweizer Volkstribun Christoph Blocher schafft es meisterhaft, diese beiden Facetten des Begriffes erklingen zu lassen, wenn er sich ganz klassenkämpferisch – groteskerweise mit einem Vermögen von 10 Milliarden Euro ausgestattet – als Mann „aus dem“ und „für das“ Volk gibt. Es gelingt ihm dabei, gleichzeitig ein inkludierendes „Wir“ zu schaffen und dieses „Wir“ im selben Moment, sowohl den Schweizer Gründungsmythos von 1291 ins Feld führend, als auch simple Ressentiments gegenüber dem „Anderen“, dem „Fremden“ bedienend, exkludierend zu definieren.

Wer Volk sagt, lässt auch das Adjektiv völkisch mitklingen.

Zumindest für den deutschen Sprachraum gilt: Wer Volk sagt, lässt auch das Adjektiv völkisch mitklingen und in diesem Zusammenhang ist es auch von Interesse, dass im ausgehenden 19. Jahrhundert, im Rahmen der Bemühungen, die deutsche Sprache von fremden Einflüssen zu reinigen, „völkisch“ als Ersatzbegriff für das aus dem Lateinischen stammende „national“ vorgeschlagen wurde.
 
Kurz: Ich bin mir nicht sicher, ob es am Ende des Tages wirklich einen wesentlichen Unterschied macht, ob sich die Populisten auf die Nation oder das Volk berufen – im Ergebnis müssen wir uns dann doch immer denselben üblen, alten Tendenzen erwehren: Nationalismus, Rassismus, Ausgrenzung Andersdenkender, Illiberalität, Antiintellektualismus und eine unverschämte, schmerzhafte Feier der übelsten Ressentiments.
 
Ich erlaube mir hier eine kurze, grundsätzliche Zwischenbemerkung: Yvonne mahnt in ihrem Beitrag richtigerweise eine präzise Sprache an. Eine solche wird uns allerdings in diesem mehrsprachigen Dialog durch die Übersetzung gelegentlich abhandenkommen. Es sind zum Beispiel meine Einlassungen zum Begriff des Volkes sehr deutschspezifisch. Ágnes verwendete in ihrem Text den englischen Begriff „the people“ und Orbán selbst wird einen ungarischen Begriff verwenden. Die Abwandlung „völkisch“ existiert so nur im Deutschen und der deutsche Begriff des Volkes hat eine andere Geschichte und eine andere Etymologie als der englische Begriff „the people“.

Es wird also, wie dieses Beispiel zeigt, in unserem vielstimmigen Dialog nicht immer ganz einfach sein, die sprachliche Präzision durch den Übersetzungsprozess zu erhalten. Diese Schwierigkeit sollte uns aber erst recht zur Präzision verpflichten.
 
Ágnes hat natürlich recht, wenn sie darauf hinweist, dass Ethnonationalisten vom Formate eines Orbán nichts anzubieten haben außer Schutz vor äußeren und inneren Feinden und dass ihre Ideologien deswegen negative sind. Ich frage mich allerdings, ob das nicht, in geopolitischem und nationalökonomischem Maßstab gedacht, auch einfach an ihrer Schwäche liegt und diese Art Populisten nur auf die Gelegenheit warten, wieder Erhabenheit, Reinheit und Größe zu versprechen.

So wie Putin, der, als sich die Gelegenheit bot, keinen Moment gezögert hat, sich in einem symbolträchtigen Akt die Krim einzuverleiben und damit an die alte Erzählung russischer Größe anzuknüpfen. Oder die Brexiteers, die nach dem Referendum sofort die alten Töne von Rule Britania anstimmten und von wiederkehrender kolonialer Größe tagträumten.

Und ich bin überzeugt, dass es, neben der militärischen und ökonomischen Impotenz dieser Länder, nicht zuletzt die bindenden Kräfte der Europäischen Union sind, die dafür sorgen, dass aus diesen Träumen nicht allzu leicht Realität wird.

Die Demokratur, wie sie Ágnes beschreibt, bedeutet mehr Grausamkeit und Demütigung und weniger Freiheit.

Mit Yvonnes Text ging es mir wie Michael. Ich finde ihn schwer zu verstehen. Vermutlich weil er mehr Fragen stellt, als Antworten liefert oder Auskunft gibt.

Ihre einleitende Bemerkung, dass Sie mit einer gewissen Schadenfreude auf den wachsenden Populismus im Westen blickt, ist, so glaube ich, eine notwendige Provokation, die uns richtigerweise darauf aufmerksam macht, dass die Perspektive nur zu oft eine eurozentristische ist. Ich stimme aber auch Michaels Einwand zu, würde ihn aber etwas anders formulieren, um hinter die Begriffe, Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit zu kommen, die Yvonne als die unheilige Dreifaltigkeit bezeichnet.
Mit Judith Shklar will ich darauf bestehen, dass Grausamkeit das Schlimmste ist, was Menschen anderen Menschen antun.

Überforderung graphicrecording.cool Und ich bestehe darauf, dass dies auch angesichts aller bestechender Argumente für Pluriversalismus und Kulturrelativismus gilt. Nun ist es sicherlich richtig, dass im Namen von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit Grausamkeit verübt wurde und noch immer verübt wird, es ist aber gleichzeitig nicht von der Hand zu weisen, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ziemlich erfolgreich darin sind, Grausamkeit zu verhindern. Es gilt dies in erster Linie für das, was ich als sozialliberale Demokratie beschreiben würde, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass ihre Bürger verstanden haben, dass es als Kollektiv möglich ist, gemeinsam dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen, indem man sich der Instrumente der Demokratie, des Rechtsstaates und des Sozialstaates bedient, um die Ungerechtigkeiten der Geburt und der Schicksalsschläge einigermaßen wettzumachen.

Das finde ich, ist schon eine Errungenschaft, für die es sich zu kämpfen lohnt, denn einer Sache bin ich mir sicher: Die Demokratur, wie sie Ágnes beschreibt, bedeutet mehr Grausamkeit und Demütigung und weniger Freiheit.
 
Yvonne lässt in ihrem Text an mehreren Stellen die Idee aufscheinen, der Populismus erfülle eine Art Ventilfunktion für Aufgestautes und Ungesagtes oder Unsagbares. Das ist in gewisser Hinsicht sicher richtig. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass das ein Topos ist, der von den Populisten instrumentalisiert und bewirtschaftet wird. „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“, „das muss jetzt aber einmal gesagt werden“, „das traut sich ja außer uns keiner mehr zu sagen“ sind ganz klassische Sätze, derer sich die Populisten bedienen. Sie stützen sich auf die Existenz von Tabus, dabei dürfen diese Dinge in der Regel (mit wohlbegründeten Ausnahmen) straffrei ausgesprochen werden, der Sprecher muss dennoch mit scharfem Widerspruch rechnen.

Das Beispiel des Evolutionsbiologen in Yvonnes Text scheint mir dafür ein gutes Beispiel. Ich bezweifle nämlich, dass an irgendeiner US-Universität ein Professor seine Stelle verliert, nur weil er zugibt, dass er Trump gewählt hat. Zumindest bin ich bei einer Internetrecherche auf keinen einzigen bestätigten Fall gestoßen. Und ich bin mir sicher, dass es die Alt-Right-Medien nicht versäumt hätten, einen solchen Fall auszuschlachten.

Aber dass ihn seine Kolleg*innen deswegen für einen Schwachkopf halten und ihm seine Urteilsfähigkeit absprechen, damit muss er rechnen – glücklicherweise, möchte ich sogar anfügen. Mit der Behauptung des Evolutionsbiologen (übrigens sollte man an dieser Stelle nicht vergessen, dass mit der Wahl Trumps auch die Wahl von Mike Pence einherging, der der Evolutionstheorie, um es milde auszudrücken, skeptisch gegenübersteht), das offene Aussprechen seiner Trump-Anhängerschaft würde ihn seine Anstellung kosten, legitimiert er seine Entscheidung. Ich bin wütend, dass die politisch korrekten, liberalen Moralapostel mich in meiner Redefreiheit beschränken und wähle deswegen Trump, und die Tatsache, dass ich das nicht laut sagen darf, ohne zu riskieren, dass ich meinen Job verliere, zeigt ja gerade, wie wichtig und richtig meine Entscheidung ist.

Es sind genau diese Taschenspielertricks, die wir ermüdenderweise immer und immer wieder offenlegen müssen.

Der Wille zur Disruption, zum Zerstören des Status Quo spielt für den Wahlerfolg einiger Populisten eine entscheidende Rolle.

Das Bild des Dampfkochtopfes und der Explosion hat aber dennoch seine Berechtigung. Zumindest in einigen Gesellschaften. Der Wille zur Disruption, zum Zerstören des Status Quo spielt für den Wahlerfolg einiger Populisten eine entscheidende Rolle. In den USA hat sich eine Hoffnung auf die Besserung der Lebensumstände für eine gewisse Bevölkerungsgruppe in den letzten 30 Jahren zerschlagen. Die Einkommen sind stagniert oder sogar gesunken und die Hoffnung, die eigenen Kinder mögen es dereinst besser haben, hat sich als trügerisch erwiesen.

Fünf Präsidenten, aus beiden politischen Lagern, haben versprochen, es besser zu machen, aber Besserung war auch nach Obama nicht so richtig in Sicht. Es erstaunt mich deswegen nicht, dass Wähler der fatalistischen Idee verfallen, es müsse nun einer wie Trump kommen, von dem sie sich zwar keine Lösungen erhoffen, dem sie aber zutrauen, dass er das „verrottete System“ total zerstören und damit etwas gänzlich Neuem den Boden bereiten wird. Auch hinter der Wahlentscheidung für Bolsonaro wird bei vielen dieser zerstörerische Impuls gestanden haben (Carol wird uns erzählen können, ob diese Vermutung stimmt).
 
Makes sense...? graphicrecording.cool Wäre aber die Unzufriedenheit über die prekären Lebensumstände der einzige Grund, weshalb Wähler den Lockrufen der Populisten erliegen, so dürfte es in wohlhabenden Ländern wie der Schweiz keine signifikanten populistischen Bewegungen geben. Das Gegenteil ist aber der Fall. Die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei ist bereits seit zwanzig Jahren stärkste Partei im Parlament und dominiert seit dreißig Jahren den politischen Diskurs im Land. Ihre Wähler sind keineswegs die Zurückgelassenen und Chancenlosen, die Gesellschaftsverlierer. Es sind zum großen Teil Bürger*innen aus dem Mittelstand, denen es finanziell ausgesprochen gut geht. Sie leben in jeder Hinsicht in einer beeindruckend sicheren Lage.

Wer sich keine Sorgen mehr machen muss um Sicherheit an Leib und Leben und um seine wirtschaftliche Situation, wird auf die ganz großen Fragen zurückgeworfen.

Meine Hypothese, weshalb die Schweizer trotzdem in großer Zahl bereitwillig auf die Angstmacherei der Populisten eingehen, lautet wie folgt: 

Die meisten Schweizer*innen müssen sich keine existenziellen Sorgen mehr machen. Es herrscht nahezu Vollbeschäftigung, die Kriminalität ist verschwindend gering, die Lebenserwartung steigt und liegt mittlerweile bei 83 Jahren, der Sozialstaat ist weit ausgebaut, die Vermögen und die Einkommen sind weltweit an der Spitze, das Wohlstandsgefälle ist, im Verhältnis zu anderen Ländern, relativ gering, die Meinungsfreiheit ist gewährleistet, das Gesundheitswesen luxuriös, die Bildungsanstalten gehören zu den besten der Welt.

Kurz: In den Bereichen, die der Staat und das Gemeinwesen zu verantworten haben, gibt es objektiv kaum Gründe, sich Sorgen zu machen. Und das ist vermutlich das Problem. Wer sich keine Sorgen mehr machen muss um Sicherheit an Leib und Leben und um seine wirtschaftliche Situation, wer sich praktisch alle materiellen Wünsche erfüllen kann, wird auf die ganz großen Fragen zurückgeworfen. Weshalb bin ich hier? Warum macht mich mein Konsum eigentlich nicht glücklich?

Was könnte der Sinn meines Lebens sein? Diese Fragen sind zugegebenermaßen beängstigend. Wer sie sich stellt, stellt seinen Lebensstil, seine Existenz in Frage. Sie werfen einen ganz auf sich selbst zurück. In dieser Lage wird das Angebot der Rechtspopulisten dankbar angenommen.

Es ist eine Art Geisterbahn, die da geboten wird, in der der Sozialhilfeempfänger, der Flüchtling, der linke Vegetarier und der kosmopolitische Schwule ihren Dienst als Schreckgespenster erfüllen dürfen. Dieser wohlige Schauer, der einem da geboten wird, der all meine Ressentiments und diffusen Ängste bedient, ist viel leichter zu ertragen als die Beschäftigung mit den tatsächlich furchteinflößenden großen Fragen, denen ich mich eigentlich stellen müsste.
 
Mit dieser, vielleicht etwas gewagten Hypothese, will ich für heute zum Ende kommen, nicht aber ohne zum Abschluss noch einmal auf Yvonnes Brief zu sprechen zu kommen.

Wenn wir mit diesem Dialog über die Analyse und die Kritik hinauskommen wollen, dann sollten wir eine Frage, die Yvonne in ihrem Text stellt, im Hinterkopf behalten: „Was ist das beste zur Verfügung stehende „Angebot“, das es aus sich heraus vermag, die positiven Sehnsüchte jener zu wecken, die nun auf der Suche nach volksverhetzenden Erlösergestalten sind, die ihren Träumen (und anderer Leute Alpträumen) Ausdruck verleihen?“
 
Es grüßt aus München,
Jonas

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