Sibylle Bergemann
Die DDR und die Welt, scharf und schonungslos
Die National Gallery of Modern Art in Neu-Delhi zeigt mit Sibylle Bergemann eine der wichtigsten deutschen Fotografinnen der Nachkriegszeit. “Mich interessiert der Rand der Welt, nicht die Mitte”, sagte die 2010 verstorbene Ostberlinerin zu ihren Bildern.
Die Kritik ist zu subtil, um sie dingfest zu machen: Als Sibylle Bergemann von 1975 bis 1986 fotografiert, wie mitten im Zentrum Ost-Berlin das monumentale Marx-Engels-Forum gebaut wird, dann schwingt in ihren Bildern eine ganz leise, kaum merkbare Ironie mit. Da hängt dann beispielsweise ein überlebensgroßer, tonnenschwerer Friedrich Engels scheinbar gefesselt und hilflos an einem Kran. Ein anderes Bild zeigt die beiden wichtigsten Theoretiker des Kommunismus als kopflose, halbe Männer. Dass Bergemanns Bilder nicht so wirken, als wollte sie sich über das bombastische Projekt zur Verherrlichung von Karl Marx und Friedrich Engels lustig machen, ist die spezielle Qualität der nüchternen Ehrlichkeit, die dem Werk der 2010 verstorbenen Künstlerin zugeschrieben wird.
Bergemanns Blick war scharf, vielleicht auch schonungslos. Zynisch war er jedoch nie. “Das Nichtaustauschbare ist für mich von Belang. Wenn etwas nicht ganz stimmt in den Gesichtern oder Landschaften“, sagte Bergemann über ihre Arbeit, die sie aus Berliner Kriegsruinen an die Ostsee, später in die USA auf die Märkte Schwarzafrikas brachte. Die ganze Bandbreite ihres Schaffens – von frühen Schwarz-Weiß-Fotografien bis zu späten Polaroid-Arbeiten – ist in 133 Fotografien noch bis zum 3. Januar 2016 in der National Gallery of Modern Art in Neu-Delhi zu erleben.
Jeder Moment eine Überraschung
“Viel mehr als eine Fotografin war Bergemann eine Anthropologin, eine Soziologin”, sagt Rajeev Lohan, Direktor des Museums. Sie habe ihr Objekt – den Menschen – mit Geduld und Genauigkeit beobachtet, nie den Kontext außer Acht gelassen. “Jeder Moment geht mit einer Überraschung schwanger, aber wenn man diese nicht festhält, verfliegt sie und wird vergessen”, so Lohan. Bergemann sei eine Künstlerin von internationalem Rang, eine Schau in Indien lange überfällig: “Menschen wie sie erlauben uns, zu sehen, was uns umgibt.”Bergemann, die 1941 in Berlin geboren wurde, fand die Fotografie mit 25 Jahren. Während sie in der Redaktion der Ost-Berliner Zeitschrift “Das Magazin” als Sekretärin arbeiteten, erwachte ihr Interesse an den Bildern, die das ungemein beliebte Blatt druckte. 1966 traf sie mit dem Fotografen Arno Fischer einen Mentor, Lehrer und ihren späteren Lebensgefährten. Schon 1967 wurde sie in das Fotografen-Kollektiv “Direkt” aufgenommen, dessen Manifest, die Welt ohne Make-Up oder Inszenierung zu zeigen sie lange treu blieb.
Schon bald wurde die junge Fotografin regelmäßig von der führenden DDR-Modezeitung “Sybille” gebucht. Modefotografie war in der Deutschen Demokratischen Republik eine keineswegs unpolitisch Angelegenheit - zu veröffentlichende Bildstrecken mussten von oben abgesegnet werden. Es sollte nicht dem Zufall überlassen werden, wie der realexistierende Sozialismus dargestellt wird.
Bergemann wurde eine tragende Säule der Ostberliner Künstler-Szene, Fischers und ihre Wohnung direkt am Bahnhof Friedrichstraße zum Treffpunkt für Fotografen und Künstler aus aller Welt. Die internationalen Kollegen verhalfen ihr schon in den 80er Jahren zu Einladungen ins Ausland. Bergemann erhielt Reisegenehmigungen und kam aus Venedig, Paris und den USA mit Bildern wieder, die ihren steten Blick auf die Welt unterstreichen: Ruhig, unaufgeregt, manchmal trist aber nie herzlos. “Mich interessiert der Rand der Welt, nicht die Mitte”, sagte sie über ihre Herangehensweise.
Ein Moment der Täuschung und Verzauberung
Nach der Wende gründete Bergemann zusammen mit Fischer und anderen Kollegen die Agentur Ostkreuz und arbeitete fortan auch für die großen westdeutschen Magazine wie “Spiegel”, “Stern” und “Geo”. Auf Reisen in Afrika entdeckte sie den Farbfilm und einen Trick für sich. Wo sie selbst nicht inszenieren wollte, wandte sie sich einem Sujet zu, dass das von sich aus tat: Dem Theater. Indem sie in Afrika und später in Berlin Theatermacher bei der Arbeit zeigte, erlaubt sie ein Element der Täuschung und Verzauberung in ihrer sonst so wirklichkeitsnahen Welt.