Wort des Jahres
„Unser Archiv können Sie lesen wie eine Jahreschronik“
Kann sich die Befindlichkeit einer Gesellschaft in einem Wort spiegeln? Seit 1977 kürt eine Jury der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) das Wort des Jahres. Geschäftsführerin Andrea-Eva Ewels über eine besondere Art sprachlicher Jahresrückblicke.
Frau Ewels, wie kam die Gesellschaft für deutsche Sprache auf die Idee, ein Wort des Jahres zu wählen?
Die Idee kam eigentlich zu uns. Der Mainzer Anglist Broder Carstensen, ein Mitglied der GfdS, veröffentlichte 1972 in unserem Mitgliederblatt einen Aufsatz über die Wörter des Jahres 1971. Der Aufsatz kam bei unseren Lesern so gut an, dass wir uns dazu entschlossen haben, jedes Jahr eine Liste der Wörter des Jahres zu küren. Regelmäßig wurde die Aktion allerdings erst ab 1977. Mit klassischer Sprachwissenschaft hat die Wahl der Wörter des Jahres übrigens nur wenig zu tun. Es ist ein Spiel – ein „ernstes Spiel“ – wie unser früherer Vorsitzender Rudolf Hoberg die Aktion in einem Interview liebevoll nannte.
Tatsächlich wird dieses Spiel inzwischen von der deutschen Öffentlichkeit recht ernst genommen. Die Wörter des Jahres, eine Art sprachlicher Jahresrückblick, werden breit rezipiert und diskutiert. Würden Sie sagen, dass sich in ihnen die aktuelle Befindlichkeit der deutschen Gesellschaft spiegelt?
Ja, ich denke schon. Unser Archiv können Sie lesen wie eine Jahreschronik. Wer in zwanzig Jahren wissen will, welche Themen die Menschen in Deutschland 2015 beschäftigt haben, muss eigentlich nur in unsere Top Ten-Liste schauen.
Den Sprachwandel dokumentieren
Auf das Wort des Jahres 2015 trifft das sicher zu.Das kann man so sagen. Nichts beschäftigte die deutsche Öffentlichkeit so sehr wie das Thema Flüchtlinge. Und da ist es kein Wunder, dass wir dieses Wort auch als Wort des Jahres gewählt haben. Wobei hierbei auch noch ein anderer Faktor wichtig war, der bei den meisten Entscheidungen ebenfalls eine Rolle spielt: In der Regel wählen wir ein Wort, das auch sprachlich interessant ist. Bei „Flüchtling“ hat uns das Suffix „-ling“ besonders interessiert. Im Deutschen gibt es einige vergleichbare Worte, denen man eine negative Bedeutung beimisst – wie „Eindringling, Emporkömmling“ oder „Schreiberling“. Neuerdings gibt es deshalb eine Tendenz, statt „Flüchtling“ das neutralere Wort „Geflüchtete“ zu verwenden. Allerdings ist unklar, ob sich dieser Ausdruck im allgemeinen Sprachgebrauch durchsetzen wird.
Also geht es Ihnen auch darum, Sprachwandel zu dokumentieren?
Ja, auf jeden Fall. Die Wörter des Jahres sind konkrete Beispiele für Sprachwandel. Oft sind es Neuschöpfungen, wie zum Beispiel „Wutbürger“, das Wort des Jahres 2010. Es gibt aber auch Wörter, die bereits bekannt sind, jedoch eine Bedeutungserweiterung erfahren haben. „Stresstest“, das Wort des Jahres 2011, stammt eigentlich aus einem medizinischen Kontext, wurde dann aber zu einem festen Bestandteil der Alltagssprache und erlangte dadurch politische, wirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Relevanz.
Prägnanz statt Häufigkeit
Apropos Sprachwandel: Müssen die Wörter des Jahres immer einzelne Begriffe sein? In Großbritannien hat die „Oxford Dictionaries“-Redaktion 2015 ein Bildzeichen, das Emoji eines Gesichts mit Freudentränen, zum Wort des Jahres gekürt.Wir wählen immer noch Wörter im klassischen Sinne zum Wort des Jahres. Lediglich an zehnter Stelle in der Liste findet sich manchmal eine Nominalphrase oder ein Satz. Aber die Idee, ein Emoji zum Wort des Jahres zu wählen, finde ich gleichwohl witzig wie kreativ.
Ist neben den sprachlichen Besonderheiten die Häufigkeit der Nennung ein Hauptkriterium für eine Wahl des Wortes des Jahres?
Nicht die Häufigkeit eines Ausdrucks steht im Vordergrund, sondern seine Prägnanz. Diese ist dann besonders gegeben, wenn das Wort einen hohen Bedeutungsinhalt aufweist. Der Begriff „Flüchtlinge“ zum Beispiel steht für die gesamte Flüchtlingsproblematik. Das Thema beherrscht nicht nur die Politik, sondern treibt die gesamte Gesellschaft um. Es hält Einzug in beinah jeden Bereich.
Genau dieser Ansatz bringt Ihnen auch viel Kritik ein. Können Sie das nachvollziehen?
In der Tat wird jedes Jahr viel über das Wort des Jahres diskutiert. Uns erreichen viele Zuschriften von Menschen, die mit der Wahl nicht einverstanden sind, weil sie das jeweilige Wort nicht kennen oder sie selbst ein anderes gewählt hätten. Manchmal wird das gewählte Wort des Jahres auch als zu langweilig empfunden, weil es quasi auf der Hand lag, etwa im Jahr 2009 die „Abwrackprämie“. Oder das Wort ist zu unbekannt und wird deshalb kritisiert, etwa 2010 das Wort „Wutbürger“. Inzwischen ist der Begriff aber fest in der Alltagssprache etabliert. Die sprachliche Entwicklung sowie die spätere Bekanntheit eines bestimmten Wortes lassen sich ohnehin kaum vorhersagen – weder von der Jury noch von einer breiteren Öffentlichkeit.
Unwörter des Jahres
Ihnen ist wichtig, mit der Wahl keine Wertung oder Empfehlung abzugeben. Das ist beim sogenannten Unwort des Jahres – 2015 war es „Gutmensch“ – anders, das seit 1991 parallel veröffentlicht wird und ursprünglich auch eine Idee der GfdS war. Worin unterscheiden sich die beiden Konzepte?Beim Unwort des Jahres geht es um sachlich unangemessene oder inhumane Formulierungen im öffentlichen Sprachgebrauch. Beim Wort des Jahres handelt es sich nicht in erster Linie um unangemessene Formulierungen, sondern vielmehr um Wörter, die Geschichte schreiben, sprachlich interessant sind und auch durchaus Kritik üben können.
Werden eigentlich auch in anderen Ländern Worte des Jahres gewählt?
Für das Wort des Jahres gibt es längst einige Nachahmer, durch die uns ein Blick darauf ermöglicht wird, welche gesellschaftlichen und politischen Themen in anderen Ländern für das jeweilige Jahr aktuell waren. Österreich wählt seit 1999 ein eigenes Wort des Jahres, 2015 entschied man sich für „Willkommenskultur“. Die Schweiz führte 2003 ihre eigene Abstimmung über das Wort des Jahres ein. Für das Jahr 2015 wurde „Überarztung“ zum Sieger gekürt. Auch die USA können seit 1991 ein Wort des Jahres vorweisen.
Dr. Andrea-Eva Ewels, Geschäftsführerin der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS)
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Andrea-Eva Ewels ist seit 2010 Geschäftsführerin der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS), einem Verein zur Pflege und Erforschung der deutschen Sprache. Zuvor war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fach Linguistik an der Universität Mainz und arbeitete als Journalistin.
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