Günter Grass
Jetzt zahlt sich mein Rauchen aus

Grass und Kämpchen
Grass und Kämpchen | Foto: © The Statesman

Ich wurde in einer konservativen katholischen Familie im malerischen Rheinland, in der Mitte Westdeutschlands, groß. Mein Vater war der Direktor des dortigen Gymnasiums, der wichtigste Mann nach dem Bürgermeister. Insofern genossen seine beiden Söhne eine strenge Erziehung. Mein Vater hatte studiert und unterrichtete deutsche und französische Literatur. In unserem Haus gab es diverse Klassiker, aber auch viele Bücher von Gegenwartsautoren, mit denen wir schon in jungen Jahren vertraut gemacht wurden.

Günter Grass war in den 1950er und 1960er Jahren der aufgehende Stern am Literaturhimmel, dessen erste wichtige Werke – Die Blechtrommel, Katz und Maus, Hundejahre – als Neubeginn gefeiert wurden, als gelungenes Experiment, nach dem verheerenden und zutiefst demütigenden Zweiten Weltkrieg etwas Neues zu schaffen. Sie sind eine Auseinandersetzung mit den Erfahrungen während der Hitler-Diktatur und des Kriegs, aber auch ein kreativer Versuch, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und die nationale Moral neu zu definieren. Als Schüler und junge Studenten lasen wir alle Grass. Aber bei uns zu Hause war er verpönt. Mein Vater empfand seine Bücher als obszön und irreligiös. In Grass‘ frühen Romanen gibt es tatsächlich einige Stellen, die sexuell freizügig und gewagt sind. Es gibt auch Stellen, wo sich Grass über Frömmelei und Religiosität mokiert. Also wurde ich vor Grass gewarnt und mir wurde nahegelegt, „gesündere“ Literatur wie die Romane von Heinrich Böll und Siegfried Lenz zu lesen.

Als ich in Wien Germanistik studierte, hatte die Zeit der Studentenunruhen gerade begonnen. Das war 1968 und in den darauf folgenden Jahren demonstrierten deutsche und französische Studenten lautstark gegen den Vietnamkrieg. Grass war einer ihrer Mentoren; er sprach sich gegen den amerikanischen Imperialismus aus, gegen Kapitalismus und für liberale Werte. Er schrieb Artikel für die angesehene deutsche Wochenzeitung Die Zeit und war im Fernsehen und im Radio ein häufiger Gast. Er war ein Demonstrant und Aktivist par excellence. Verglichen mit deutschen Universitäten, vor allem denen in Frankfurt und Berlin, war es in Wien relativ ruhig, man war weniger politisch motiviert, rebellierte nicht gegen das politische System und die bürgerliche Gesellschaft. Wien hatte seine eigene geschichtsbewusste, biedere und irgendwie triste Kultur, die mit klassischer Musik und Kaffeehäusern einherging. Radikale politische Ideen fanden keinen Nährboden. Somit gingen die Studentenproteste spurlos an mir vorbei.
 
1971 kam ich zum ersten Mal nach Indien, nahm Jogaunterricht und las Mahatma Gandhi, belegte Literaturkurse und besuchte abends die Oper, das Theater oder Konzerte. Grass und seine Bücher waren für mich wie ein fremder Kontinent. Sein hyperaktiver Stil, seine Art, alles aus einem aggressiven politischen Blickwinkel zu sehen, entsprachen nicht meinem Geschmack. Grass verschwand aus meinem Bewusstsein. Ich beschloss, wieder nach Indien zu gehen und am Ramakrishna Mission Institute of Culture in Gol Park Deutsch zu unterrichten. Ich wohnte in einem kleinen Zimmer im RKM Aschram in Narendrapur, las Ramakrishna und Vivekananda, meditierte und machte mich mit der hinduistischen Lebensart vertraut.
 
Eines Tages rief mich Swami Mumukshananda, der Sekretär des Aschram, in sein Büro und sagte mir, dass er aus dem Raj Bhavan erfahren habe, dass ein deutscher Autor namens Günter Grass den Aschram besuchen wolle. Kannte ich diesen Herrn? Ich war sprachlos. Grass wollte einen RKM Aschram besuchen? Mit den Mönchen reden? Wie würde diese Begegnung ablaufen? Ich erwähnte, dass der Schriftsteller sehr liberale Ansichten habe und auch nicht davor zurückschrecke, laut zu werden, wenn jemand anderer Meinung war als er. Ich sagte Swamiji, einem frommen und nachdenklichen Mönch, dass ich hoffe, Grass werde sie nicht in Verlegenheit bringen. Aber Swami Mumukshananda machte sich keine Sorgen. Man würde den Autor als geachteten Gast behandeln und er würde sich sicher entsprechend verhalten.
 
Vor meinem inneren Auge sehe ich noch immer die beiden Wagen vom Raj Bhavan, wo Grass wohnte, durch das Haupttor des Narendrapur Campus fahren. Ein paar geschäftige Beamte in Anzug und Schlips sprangen aus den Autos, dann folgte der Autor. Ich ging auf ihn zu, um ihn zu begrüßen. Er war lässig gekleidet und machte auf mich einen zurückhaltenden, besonnenen und höflichen Eindruck. Keineswegs aggressiv oder arrogant. Auf der Fahrt zum Gram Sevak des Aschram und anschließend zu den Studentenwohnheimen des Colleges stellte er uns interessiert Fragen. Er sah sich eine Ausstellung über religiöse Gemälde an, äußerte sich aber nicht dazu. Dann wurde er gebeten, zu den Studenten zu sprechen, die sich in ihren weißen Hemden und blauen Hosen im Hof versammelt hatten.
 
Grass erhob sich und sagte einen einzigen Satz: Sie können sich glücklich schätzen, in einer so ausgezeichneten Institution studieren zu dürfen. Mit anderen Worten: Nutzen Sie diese Chance, machen Sie etwas mit Ihrer Bildung! Ich bin sicher, dass er das College als elitär ansah und dass er eigentlich sagen wollte: Ich hoffe, Sie tun auch etwas für arme und weniger privilegierte Studenten.
 
Grass reiste wieder ab und ich blieb. Ein Jahr nach dem anderen ging ins Land, während ich mich unter anderem um unterprivilegierte Jungen und Mädchen in der Nähe von Santiniketan kümmerte. Ich stand in engem Kontakt zum Max Mueller Bhavan in der Ballygunge Circular Road, nahm dort an diversen Programmen teil und berichtete ab 1995 darüber, als ich meinen ersten Artikel für die renommierte deutsche Tageszeitung Frankfurter Allgemeine schrieb. Eines Tages im Jahr 1986 hörte ich, dass Grass wieder nach Kolkata kommen wolle, diesmal für längere Zeit und zusammen mit seiner Frau Ute. Ich blieb in Santiniketan und erfuhr nur bruchstückhaft von den Vorbereitungen für seinen Besuch. Grass suche ein Haus am Stadtrand von Kolkata, hörte ich. Dank der Angestellten des MMB wurde ein Haus in Baruipur für ihn gefunden. Er kam im August an und den Rest kann man in seinem Tagebuch Zunge zeigen (Luchterhand-Literatur-Verlag 1988) und in meinem Buch My broken Love. Günter Grass in India and Bangladesh (Penguin India 2001) nachlesen.
 
Ich traf Günter und Ute Grass immer, wenn ich in Kolkata zu tun hatte, also etwa zweimal im Monat. Das MMB ist für mich eine Art Anlaufstelle, wo ich mich mit Leuten treffe. Grass hielt es genauso. Von August 1986 bis Januar 1987 saß er in der Cafeteria des MMB und empfing jeden, der mit ihm sprechen wollten. Er war zugänglich und kommunikativ. Öfters durchstreifte er mit Daud Haider, dem politischen Flüchtling aus Bangladesch, der sich ihm als Führer angeboten hatte, ein paar Stunden lang die Straßen von Kolkata, bevor er wieder in die Cafeteria zurückkehrte. Ich bedaure jetzt, dass ich mich damals nicht intensiver mit ihm ausgetauscht hatte. Wenn wir uns begegneten, begrüßten wir uns oder nickten uns zu. Natürlich war Grass in Indien nicht an seinen eigenen Landsleuten interessiert. Er wollte Kolkata kennenlernen, nicht die Deutschen in Kolkata. Ich habe mich noch nie einem berühmten Menschen aufgedrängt; dazu bin ich viel zu schüchtern. Vielleicht waren auch die ursprünglichen Vorbehalte gegenüber Grass, die mir mein Vater eingeimpft hatte, nicht ganz unschuldig daran.
 
Weitere zehn Jahre vergingen. Ich las Zunge zeigen und schrieb einen langen, kritischen Essay darüber. Ich fand, wie andere in Kolkata auch, dass Grass weder Kolkata noch seinen Erlebnissen in Kolkata Gerechtigkeit widerfahren ließ. Er war sich seiner Urteile zu sicher, war zu direkt, zu undifferenziert, unausgewogen und allgemein in seiner Kritik. Er wusste zu wenig über Kolkata: Er sprach nicht die Sprache, kannte nicht die Geschichte, nicht das Temperament der Menschen. Obwohl er die Nöte der Mittelschicht am eigenen Leib erfahren wollte, wurde er natürlich, ohne es zu wissen, gegen viele Widrigkeiten abgeschirmt.
 
Dann erhielt Günter Grass 1999 den Literaturnobelpreis, die letzte Person, die im 20. Jahrhundert diese Auszeichnung bekommen würde. Er, Günter Grass, der selbst ein Mann des Jahrhunderts war! Grass, das Gewissen der Nation, die liberale Kraft, die mit einem bußfertigen und dennoch dynamischen und wirtschaftlich erfolgreichen Nachkriegsdeutschland identifiziert wurde, wurde endlich diese Ehre zuteil, die einem ganzen Land galt!
 
Die Zentrale des Goethe-Instituts in München plante zu diesem Zeitpunkt ein „Deutsches Jahr“ in Indien, unter der Führung von Dr. Georg Lechner, dem früheren Leiter des MMB Kolkata. Ich schlug vor, aus diesem Anlass ein Buch über „Günter Grass in Indien“ zu finanzieren und zu veröffentlichen. Dr. Lechner war sofort einverstanden, da er selbst ein Freund von Grass war. Das ganze Jahr 2001 über recherchierte ich in Indien und Deutschland, sprach und korrespondierte mit Dutzenden Menschen überall auf der Welt. Eine Person antwortete aus Seoul, eine andere aus Israel. Ich erhielt Informationen aus Pune und Delhi, Bangalore und Chennai.
 
Dr. Lechner wandte sich an Günter Grass‘ Büro in Lübeck und bat um ein Interview mit dem Schriftsteller, das in dem Buch abgedruckt werden sollte. Grass lehnte ab. Zugegeben, die ganze Publicity, die der Nobelpreis mit sich brachte, ließ ihm gewiss wenig Zeit. Trotzdem verletzte mich seine Absage. War ich denn nur irgendein Journalist, der einen Artikel über ihn schreiben wollte? Ich hatte ein ganzes Jahr lang an diesem Buch gearbeitet. SV Raman, der Programmleiter des MMB, war mir eine große Hilfe gewesen, da er maßgeblich dazu beigetragen hatte, dem Ehepaar Grass 1986-87 einen angenehmen Aufenthalt zu bereiten.
 
In einem seiner zahlreichen Interviews, die Grass in Indien gegeben hatte und die in meinem Buch wiedergegeben wurden, hatte ich ein hübsches Zitat gefunden – „Meine zerrissene Liebe zu Kolkata". Seine Liebe war voller Schmerz und Wut gegenüber der Mittelschicht, die so wenig für die Armen tat. Ich benutzte diesen Ausspruch für den Titel meines Buchs, das 2001 bei Penguin India erschien und von Khushwant Singh im MMB in Delhi vorgestellt wurde. Singh provozierte gern. Er begann seine Rede mit der Bemerkung, dass er sicher sei, dass Günter Grass Indien nicht mochte und von seinen Menschen angewidert war, und dass ihm, Singh, das Buch nur gefiel, weil ein Artikel von ihm darin abgedruckt sei (ursprünglich erschienen in der Zeitschrift Sunday).  
 
Als Grass 1986-87 in Kolkata war, hatte er versprochen wiederzukommen. Indische Freunde hatten ihn in Deutschland besucht. Wir hatten den Eindruck, dass sich Grass über die politische und soziale Situation Indiens von seinem Wohnort Behlendorf aus auf dem Laufenden hielt. Als er schließlich der wiederholten Einladung von Dr. Martin Wälde, dem neuen, tatkräftigen Leiter des Max Mueller Bhavan in Kolkata, folgte, war es wie eine triumphale Heimkehr. Dieses Mal kam Grass nicht als Privatperson, sondern als Gast des Max Mueller Bhavan und der Regierung von Westbengalen. Jetzt war er ein Nobelpreisträger. Er wohnte zehn Tage im Oberoi Grand Hotel und wenn er sein Besuchsprogramm absolvierte, fuhr ein Wagen mit Sirene voraus. Als Autor von My Broken Love gehörte ich zu den Leuten, die den Schriftsteller begleiten durften. Ich werde Martin Wälde immer dankbar sein für dieses Privileg. Während dieser Tage lernte ich Günter Grass richtig kennen und schätzen.
 
Ich erinnere mich an die lange Bootsfahrt auf dem Ganges nach Serampore und an unser angeregtes Gespräch während dieser mußevollen Stunden. In Serampore besuchten wir das alte Theologische College und ich weiß noch, wie Grass ehrfurchtsvoll vor dem imposanten Gebäude stand. Ich erinnere mich, wie erschüttert er war, als er mit dem Calcutta Social Project die verschiedenen Straßenschulen besuchte und einen Eindruck bekam sowohl von der Arbeit, die diese Organisation leistete, als auch von der Not der Kinder. Ich erinnere mich auch daran, dass, wenn wir uns morgens im Foyer des Oberoi trafen, Grass auf mich zukam und mir die Hand schüttelte. Er hatte meine Schüchternheit bemerkt und selbst die Initiative ergriffen. Ich erlebte Grass als warmherzigen und unprätentiösen Menschen, als einen Mann, der zuhören konnte und auch persönliche Fragen stellte. Der echtes Interesse zeigte.
 
An unserem letzten Abend saßen Günter Grass, Jörg Kogel und ich zusammen in der Dämmerung am Pool des Oberoi, als Grass plötzlich vorschlug, dass wir uns dutzen sollten. Das deutsche Du ist vergleichbar mit dem bengalischen tumi, wenngleich es anders benutzt wird und die Bedeutung auch etwas anders ist. Dieses Angebot war ein Zeichen von Freundschaft und Vertrauen. Mir fehlten die Worte und mir kamen fast die Tränen. Ich war zutiefst dankbar.
 
Diese Tage sind noch aus einem anderen Grund erwähnenswert. Ich traf zum ersten Mal Jörg Kogel, der Grass als Freund und Medienberater begleitete. Er ist Programmchef von Radio Bremen und hat unzählige Interviews, Reden und Lesungen fürs Radio und Fernsehen aufgenommen. Kogel hat außerdem die Mediathek über Grass in Bremen mit aufgebaut. Er stammt wie ich aus dem Rheinland und wir haben ein ähnliches Temperament und ähnliche Überzeugungen. Jörg und ich waren uns auf Anhieb sympathisch. Seitdem habe ich ihn jedes Jahr in Bremen besucht, manchmal auch mehr als einmal; er hat mir Ratschläge gegeben, ist mit mir zusammen gereist und wir haben gemeinsam an Projekten gearbeitet. Danke, Günter, dass du mich mit Jörg bekannt gemacht hast!
 
Ende 2005 brachte ich die deutsche Ausgabe von My Broken Love heraus, mit neuen Essays und den Fakten über Grass‘ dritten Besuch in Kolkata. (Ich will in das Herz Kalkuttas eindringen, Günter Grass in Indien und Bangladesch. Edition Isele, Eggingen.) Jetzt, da wir uns persönlich kannten, gewährte mir Grass für das deutsche Buch ein Interview. Ich reiste mit dem Verleger nach Behlendorf in Norddeutschland, zu Grass‘ abgelegenem, herrschaftlichen Haus, das von einem großen Garten umgeben ist. Er zeigte mir sein Atelier, wo er gerade eine Anzahl kleiner Tonfiguren geformt hatte. Wir hörten Vivaldi. Ich sah sein Pult, wo er jeden Tag stand und schrieb. Er benutzte weder einen Computer noch eine Schreibmaschine. Er arbeite an den Stehpulten, die überall im Haus verteilt seien, erzählte er mir.
 
Danach trafen wir uns anlässlich einer Lesung in Bremen und ein weiteres Mal zu Günter Grass‘ 85. Geburtstag in seinem Haus in Bremen (2012). Er begrüßte mich und kam sofort auf Subhash Chandra Bose zu sprechen. Es war nicht Tagore, auch nicht Vivekananda oder Ramakrishna, der Grass in Bengalen fasziniert hatte, sondern Netaji. Vielleicht lag es daran, dass Bose etwas Rätselhaftes anhaftete, oder aber an seinem enormen politischen Eifer. Grass hatte vorgehabt, ein Theaterstück über Netaji zu schreiben, aber er kam nicht mehr dazu.
 
Das war vor gut zwei Jahren. Grass war schon ziemlich krank. Seine lebenslange Angewohnheit, Pfeife zu rauchen, war ihm letztlich zum Verhängnis geworden. Er musste ständig mit Sauerstoff versorgt werden, der ihm über ein Röhrchen in der Nase zugeführt wurde. Wenn er unterwegs war, hatte er immer eine kleine Flasche dabei. Alle ein, zwei Stunden musste er sich zurückziehen, um sich Sauerstoff zuzuführen. Keine langen Reisen mehr. Keine langen Abwesenheiten von zu Hause. Der vitale und aktive Mann war in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt. An seinem Geburtstag bemerkte er sarkastisch zu mir: „Jetzt zahlt sich mein Rauchen aus.“