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„Spargel, Kartoffeln und Kohl kommen wieder in Mode.“
Speiseplan voller Überraschungen

Restaurant Gut Leben am Morstein
Foto: Mario Adreya

Im Vergleich zu anderen Ländern galt die deutsche Küche lange als plump und einfach – Schnitzel, die über den Tellerrand fallen, Würstchen in Senfsoße oder simple Sahnetorte. Lieber traf man sich zum Essen beim Franzosen, Spanier oder Italiener.

Von Joanna Strzałko

„Würden Deutsche, wenn sie Polen zu Gast hätten, ihnen Schnitzel oder Currywurst servieren?“, frage ich Julia Richter, deren Blog German Abendbrot laut dem Blogger-Relevanzindex der wichtigste deutsche Food Blog ist.

„Vielleicht sage ich dir einfach einmal, was ich zubereiten würde“, lacht Julia. „Ich würde etwas Regionales kochen: Königsberger Klopse, Kartoffelsalat mit Würstchen und selbstverständlich Spargel!“

„Die Currywurst, die ich übrigens LIEBE, isst man vor allem in der Stadt, an Imbissbuden und Food Trucks“, erklärt Julia Richter weiter. „Interessanterweise hat übrigens einer der größten deutschen Arbeitgeber, ein Automobilhersteller, die Currywurst vom Speiseplan seiner Kantine gestrichen. Dort werden in Zukunft ausschließlich vegetarische Gerichte und Fisch serviert. Aber um auf deine Frage zurückzukommen: Ich denke, dass Deutsche ihre Gäste vor allem nicht bei sich zu Hause bewirten würden. Sie würden ihnen eher vorschlagen, gemeinsam in ein Restaurant zu gehen. Wahrscheinlich nicht einmal in ein deutsches Restaurant, denn infolge der Zuwanderung sind viele hervorragende türkische, griechische, italienische, vietnamesische und Balkan-Restaurants entstanden, die aus der heutigen deutschen Gastronomie-Szene gar nicht mehr wegzudenken sind. Und es wäre wohl eher ein kurzes Treffen, denn das stundenlange, gemeinsame Zelebrieren des Essens hat in Deutschland keine Tradition. Das schwappt erst ganz allmählich aus dem Süden und Osten Europas zu uns herüber.“

„Und am Ende würde der Kellner die typisch deutsche Frage stellen: Die Rechnung gemeinsam oder getrennt? Die Antwort würde höchstwahrscheinlich lauten: Getrennt. Und dann ginge die Rechnerei los, wer was und für wie viel gegessen hat, und jeder würde den genauen Betrag aus seinem Portemonnaie abzählen.“

Als ich Julia frage, welches Wort die deutsche Esskultur am besten beschreibt, zögert sie nicht einen Moment: „Kartoffel!“, antwortet sie lachend.

„Denn auch wenn es bei uns, ebenso wie in Polen, viele Fleischgerichte gibt, wie zum Beispiel Bayerisches Eisbein und Thüringer Würstchen, so haben doch alle unsere Bundesländer und Regionen eines gemeinsam: die Liebe zur Kartoffel“, erzählt Julia Richter. „Ohne Kartoffelsalat, Bratkartoffeln, Pellkartoffeln, Kartoffelpüree und Kartoffelpuffer geht es bei uns einfach nicht. Und natürlich als Krönung: die Kartoffelsuppe! Kaum ein anderes Gericht wirkt so positiv auf unser Wohlbefinden wie die gute, alte Kartoffelsuppe: Sie ist nicht nur sättigend und wärmend, sondern auch günstig in der Zubereitung. Dazu gibt es sie auch noch in unzähligen Variationen: mit gerösteten Brotwürfeln, mit Steinpilzen, mit Lachs und Dill, mit geräucherter Forelle, mit Speck oder mit Knödeln.“

Julia liebt es, zu essen. Um sich von ihrem harten Arbeitstag in der PR-Branche zu erholen, begibt sie sich jeden Abend gemeinsam mit ihrem Mann in die Küche. Dort denken sich die beiden neue Gerichte aus, die anschließend nicht nur auf ihrem Esstisch, sondern auch in ihrem Blog landen.

Dabei begann alles ganz unschuldig, als einige ihrer Bekannten sie immer wieder nach Rezepten fragten, insbesondere nach dem Rezept für ihre Frankfurter Grüne Soße, die Julia ebenso zubereitete wie einst die Mutter von Johann Wolfgang von Goethe. „Als ich von Frankfurt nach München zog, wollten meine neuen Bekannten unbedingt wissen, wie man diese berühmte Frankfurter Kräutersoße macht“, erzählt Julia. „Aber wie oft kann man erklären, dass man dafür Petersilie, Schnittlauch, Kerbel, Pimpinelle, Sauerampfer, Borretsch und – optional – Kresse braucht? Also habe ich eines Tages das Rezept, anstatt es zum hundertsten Mal per E-Mail zu verschicken, einfach im Internet gepostet. So entstand vor zwölf Jahren mein kulinarischer Blog.“

Das Kochen, sagt Julia, lindert ihr Heimweh. Wenn sie den warmen Rhabarberkuchen aus dem Ofen nimmt, beschwört der in der Küche verströmende Duft unweigerlich Bilder aus ihrem Elternhaus herauf. Dann sieht sie ihre Großmutter, die mit Mehl bestäubten Haaren am Herd steht, ihre Mutter, die in einem großen Topf die Bolognese Sauce umrührt, und den großen Esstisch, an dem sämtliche Familienmitglieder zusammensitzen und sich unter lautem Rufen und Lachen die Schüsseln mit dem Essen zureichen.

Foto: Kay J. Halstenberg

Oder auch ihr Fernweh: Als Julia während der Pandemie merkte, wie sehr sie das Reisen vermisste, holte ihr Mann einfach den Wok aus dem Schrank und schon hatten sie ein Stück China bei sich zu Hause.

„Ich habe vor Kurzem versucht, die Geschmäcke zu rekonstruieren, denen ich in meiner Jugend im Frankfurter Bahnhofsviertel begegnet bin – einem bunten Stadtteil, voller Menschen und Gerichte aus aller Welt“, erzählt Julia. „Ich habe mich auch mehrere Tage lang an einem ausgefallenen indischen Gericht versucht, das meine Geschmackswelt einst komplett auf den Kopf gestellt hatte. Wie groß war meine Verwunderung, als ich feststellte, dass das meine Leser überhaupt nicht interessierte! Aber als ich Fischstäbchen machte – das war der Hit!“

Julia erklärt mir, dass es eine Zeit gab, in der die traditionellen Gerichte – die tellergroßen Schnitzel, Wurstringe und Kuchen mit Schlagsahne – bei den Deutschen immer mehr in Ungnade fielen. Sie aßen lieber beim Franzosen, beim Spanier oder beim Italiener. „Bei uns ist alles so fett, pfui!“, sagten sie angewidert.

„Aber seit ungefähr zehn Jahren ändert sich das wieder“, sagt Julia Richter. „Ich habe den Eindruck, dass die Deutschen inzwischen genug von all den exotischen Speisen haben. Dass sie sich auf ihre regionalen Gerichte und altbewährten Rezepte zurückbesinnen. Es ist, als sehnten sie sich nach den Geschmäcken ihrer Kindheit zurück: Spargel, Kartoffeln und Kohl kommen wieder in Mode. Die Deutschen kaufen wieder zunehmend beim Fleischer um die Ecke, auf den Wochenmarkt und beim lokalen Gemüsehändler ein.

Das einzige Problem sieht Julia Richter daran, dass die Deutschen beim Lebensmitteleinkauf weniger auf die Qualität als vielmehr auf den Preis achten. Die Franzosen geben dreimal soviel Geld für Essen und Trinken aus wie die Deutschen. Nicht etwa, weil sie es sich leisten können, sondern weil sie der Meinung sind, dass hochwertige Produkte eine Investition in sich selbst, in ihre Gesundheit und die Freude am gemeinsamen Essen darstellen.“

„Und wir? Wir fahren dreimal in der Woche in die Autowaschanlage und zahlen ohne mit der Wimper zu zucken 20 Euro für das volle Programm! Man kann natürlich argumentieren, dass die Deutschen bis zu 60 Prozent ihres Einkommens für die Miete ausgeben und dass man halt irgendwo sparen muss. Ich frage mich nur: Warum muss es unbedingt beim Essen sein?“, wundert sich Julia.

Zu Tisch in Deidesheim


Im Restaurant Schwarzer Hahn im Fünf-Sterne-Hotel Deidesheimer Hof wird beim Essen jedenfalls nicht gespart. Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl empfing hier unter anderem Margaret Thatcher, Jacques Chirac und Michail Gorbatschow. Ein Fünf-Gänge-Menü kostet hier weit über 100 Euro pro Person. Doch an Gästen mangelt es nicht, und wer im Schwarzen Hahn speisen möchte, muss im Voraus einen Tisch reservieren. Laut einer Umfrage gehen rund 14 Prozent der Deutschen gerne in Spitzenrestaurants essen.

„Der hohe Preis muss jedoch seine Berechtigung haben“, erklärt Küchenchef Stefan Neugebauer. „Deshalb arbeiten bei uns in der Küche bis zu 25 Personen an einem Menü. Unsere Gäste erwarten nicht, dass sie bei uns billig essen können, aber sie wollen die Gewissheit haben, dass das Gemüse auf ihrem Teller nicht aus Holland importiert wurde und dass das Fleisch aus einem Zuchtbetrieb stammt, in dem die Tiere genügend Auslauf erhalten und artgerecht gefüttert werden. Übrigens sinkt die Nachfrage nach Fleisch auch bei uns, viele unserer Gäste bevorzugen eine kalorienärmere, leichtere Küche. Sie fragen auch immer häufiger nach vegetarischen und veganen Gerichten, also haben wir sie ebenfalls in unsere Speisekarte aufgenommen.“
Glas Wasser
Foto: Ron Lach / Pexels

„Welches Gericht würdest du polnischen Gästen empfehlen“, frage ich Stefan.

„Eine regionale Spezialität, für die wir nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt bekannt sind: Saumagen“, sagt Stefan Neugebauer.

Das Wort Saumagen lässt sich nur schwer in andere Sprachen übersetzen. Es handelt sich um ein Fleischgericht aus Schweinefleisch, Brät und Kartoffeln oder Kastanien, das nach Art einer Brühwurst in einem Schweinemagen gegart wird.

„Ihr habt hier bereits so viele berühmte Gäste empfangen, von der englischen Königin bis hin zu José Carreras. Welchen polnischen Prominenten würdest du gerne einmal bewirten?“, frage ich nach.

„Jeder Pole ist bei uns herzlich willkommen“, antwortet Stefan Neugebauer diplomatisch. „Ich liebe es, wenn es in unserem Restaurant bunt gemischt zugeht: Wenn an einem Tisch Polen sitzen, an einem anderen Japaner, an wieder an einem anderen ein pfälzischer Handwerksmeister mit seiner Familie und an noch einem anderen der Chefarzt des hiesigen Krankenhauses. Wenn ich das sehe, weiß ich, dass unser Restaurant lebt, dass es nicht so sehr um Titel geht, sondern vielmehr um Menschen und um ihre kulinarische Neugier. Schließlich bringt das gemeinsame Essen die Menschen zusammen: Warum sonst werden so viele drängende Fragen und wichtige Probleme  ausgerechnet beim Essen besprochen? An einem schön gedeckten Tisch, bei einem erlesenen Essen und einem guten Glas Wein verschwinden die Aggressionen und die Menschen kommen zur Ruhe.

Ja, das Thema Essen fasziniert Stefan Neugebauer schon seit seiner Kindheit. Schon als kleiner Knirps sah er seiner Mutter und seiner Oma gern beim Kochen zu. Als Jugendlicher half er aus, wenn in seiner Heimatstadt Feste und Feiern organisiert wurden. Und als er die Schule beendete, traf er die Entscheidung, eine Ausbildung zum Koch zu absolvieren. In Deutschland dauert eine solche Ausbildung drei Jahre und verläuft im dualen System, das heißt in der Berufsschule und im Betrieb. Auf diese Weise erwerben die Auszubildenden sowohl theoretisches als auch praktisches Wissen.

Seine ersten Schritte als Koch machte Stefan Neugebauer im Hotel Hohenhaus bei Achim Schwekendiek. Anschließend vervollkommnete er seine Fähigkeiten bei so bekannten deutschen Köchen wie Heinz Winkler, Dieter Müller und Hansjörg Wöhrle. Als der Deidesheimer Hof im Jahr 2000 einen neuen Koch suchte, musste Stefan nicht einmal einen Lebenslauf einreichen. Eine Empfehlung seiner Lehrmeister genügte vollauf.

„Und was isst du selbst am liebsten?“, frage ich Stefan Neugebauer.

„Das hängt von der Jahreszeit ab“, antwortet er nach einigem Nachdenken. „Im Sommer ein leichtes Nudelgericht mit Tomaten, im Winter ein deftiges Kohlgericht. Aber weißt du, wonach ich mich am meisten sehne, wenn ich im Ausland bin? Nach etwas, wonach sich sicherlich auch viele Polen sehnen, denn wir haben ähnliche kulinarische Vorlieben: nach einer guten Scheibe Brot und einer leckeren Wurst“, sagt Stefan Neugebauer lachend.

Türkische Therapie in einem deutschen Weingut


„Die deutsche Küche wäre so farblos ohne all die türkischen, italienischen und griechischen Einflüsse“, seufzt Saynur Sonkaya-Neher.

Sie betreibt in Lorch am Rhein gemeinsam mit ihrem Mann das Weingut Mohr, das für seine erstklassigen ökologischen und veganen Weine bekannt ist. Hier bietet sie auch Kochkurse rund um die orientalische Küche an.

Jeden Freitagvormittag geht Saynur Sonkaya-Neher, bevor die Kursteilnehmer eintreffen, zum Einkaufen in den türkischen Supermarkt.   Sie kauft Granatäpfel, Spinat, Auberginen, Kohl, Rote Bete, Kichererbsen, weiße Bohnen, Paprika, Tomaten, Kräuter und – unbedingt – frische Blumen.

Um 15.30 Uhr warten die acht Küchenarbeitsplätze erwartungsvoll auf ihren Einsatz, die Tulpen recken ihre bunten Köpfe aus den Vasen, der Sekt kühlt im Kühlschrank und auf der Anrichte brennen Kerzen. Als die Gäste erscheinen, taxiert Saynur sie mit dem geübten Auge der gelernten Pädagogin. Sie sieht auf den ersten Blick, wer ein wenig mehr Aufmerksamkeit benötigt, wer mit der Aufregung kämpft und wer offen für Spaß und kulinarische Herausforderungen ist. Dann gibt sie ihrem Mann ein diskretes Zeichen, den Wein einzuschenken. Es ist ihr sehr wichtig, dass ihre Gäste sich ungezwungen fühlen, wie Freunde des Hauses.

„Die meisten der Teilnehmer sind Deutsche“, sagt Saynur Sonkaya-Neher. „Sie interessieren sich für neue Geschmackswelten, und sie haben bereits gute Erfahrungen mit der türkischen Küche gemacht. Sie waren in türkischen Imbissen und Restaurants und haben dort Falafel, Hummus, Auberginen und Lammkoteletts gegessen – und jetzt möchten sie wissen, wie man diese Gerichte selbst zubereitet.“

Saynur wurde in der Türkei geboren und kam vor über 30 Jahren nach Deutschland. Bevor sie 2013 auf die Idee kam, orientalische Kochkurse anzubieten, arbeitete sie als Lehrerin an einer Schule. Auch dort hatte sie bereits Kochkurse für ihre Schülerinnen und Schüler organisiert. „Ich wollte den jungen Menschen zeigen, wie viel Spaß es macht, gemeinsam zu kochen“, erzählt sie. „Mir taten die Kinder leid, die in der Schule erzählten, dass ihre Eltern nur fertiges Essen bestellten. Für mich muss ein Haus nach Essen riechen. Ich koche übrigens immer zu viel, darüber macht sich auch mein deutscher Ehemann lustig. Aber ich erkläre ihm dann, dass es in meiner Kultur nie an Essen auf dem Tisch mangeln darf. Und dass niemand ungesättigt oder gar hungrig vom Tisch aufstehen soll!“
Sanyur Sonkaya-Neher Foto: Privat-Archiv

Was gefällt den Deutschen so gut an ihren Kochkursen? Die Antwort ist einfach: eine familiäre Atmosphäre, gutes Essen und guter Wein. „Angeblich haben meine Kurse sogar eine therapeutische Wirkung. Einige Kursteilnehmer haben mir erzählt, dass sie durch mich gelernt haben, besser mit ihren Ängsten umzugehen“, sagt Saynur Sonkaya-Neher.

„Mit ihren Ängsten?“, frage ich verwundert.

„Du kannst dir gar nicht vorstellen, von wie vielen Ängsten die Deutschen geplagt werden“, seufzt Saynur. „Und das Kochen erfordert schließlich einen gewissen Mut. Wenn ich sehe, wie jemand vor dem Schneidebrett, am Herd oder vor dem Teller steht und sich quält, sage ich ihm einfach: Keine Angst, es kann gar nichts Schlimmes passieren. Im schlimmsten Fall wird das Gericht ein wenig zu scharf oder zu fade, aber das ist kein Grund, sich aufzuregen. Hauptsache, wir haben Spaß.“

Saynur serviert ein paar leckere Oliven, schenkt Wein nach und fragt, ob jemand hungrig ist und gern zwischendurch etwas essen würde. Sie erzählt viel von sich selbst und macht Witze. „Alles, damit sich die Teilnehmer entspannen. Ich denke, dass es die Kombination aus hessischem Weingut, türkischer Ehefrau, deutschem Ehemann und einem guten Glas Wein ist, die ihnen gefällt. Wenn der Kurs gegen 21.30 Uhr zu Ende geht, sind die Teilnehmer so entspannt, dass ich sie daran erinnern muss, dass es Zeit ist, nach Hause zu gehen“, lacht Saynur.

„Wovor haben die Deutschen am meisten Angst?“, frage ich nach.

„Vor Auberginen und Öl“, erzählt sie. „»So viel Öl?!«, rufen sie erschrocken, wenn es ans Braten geht. Ich erkläre ihnen dann, dass Auberginen nicht zu trocken sein dürfen. Aber sie bleiben dabei: »Das ist zu viel!« Also frage ich sie: »Aber Chips esst ihr? Und Schokolade? Und Kuchen mit Schlagsahne?« Damit besänftige ich sie ein wenig. Sie haben auch Angst vor Granatäpfeln. Was ist das für ein Drama, wenn sie einen Granatapfel aufschneiden sollen! Es könnte ja etwas an die Wand, auf den Tisch oder auf ihre Kleidung spritzen. Also zeige ich ihnen, wie leicht sich Granatäpfel öffnen und entkernen lassen. Und anschließend frage ich sie: »Seht ihr? Ich habe eine weiße Bluse an. Seht ihr irgendeinen Fleck?« Dafür lieben sie Kartoffeln und fragen ständig danach. Wenn ich ihnen vorschlage, gefüllte Auberginen und dazu Reis zu machen, sagen sie, dass Kartoffeln besser dazu passen würden. Ich musste sie schließlich von der Speisekarte streichen.“

Saynur hat auch den Eindruck, dass viele Deutsche Angst vor veganen Gerichten haben. Wenn sie überhaupt in einem veganen Kochkurs landen, dann eigentlich nur, weil die anderen Kurse schon voll waren. „Also versuche ich ihnen zu zeigen, dass man auch ohne Fleisch hervorragend kochen kann“, sagt sie. „Wir bereiten gemeinsam Meze zu, also türkische Vorspeisen, die sicherlich auch Polen schmecken würden: Gefüllte Paprika mit Kräutern, Rote-Bete-Salat mit Orangen, Bohnen in Tomatensoße, Börek mit Spinat, Bulgursalat und gebratene Auberginen. Und wenn wir am Ende des Kurses die zubereiteten Gerichte probieren, dann höre ich oft: „»Komisch, aber ich vermisse überhaupt keine Fleisch«. Dann reibe ich mir zufrieden die Hände und denke: »Es hat geklappt. Ich habe mein Ziel erreicht!«“

So wie Andreas Krolik


Ein ähnliches Ziel hat auch Stefan Spies aus Frankfurt am Rhein. Er verfolgt es lediglich auf anderen Wegen. Und einer dieser Wege führte ihn aus Hessen nach Rheinland-Pfalz. Aber der Reihe nach.

Die cremefarbene Villa aus dem 19. Jahrhundert mit ihrem Garten, in dem es nach Kräutern duftet, ist in Westhofen kaum zu übersehen. 2012 übernahm Stefan Spies das Gebäude. Er war vor dem alten Weingut stehen geblieben, hatte sich die Wasserflecken an den Wänden und den bröckelnden Putz angesehen und gespürt, wie sein Puls schneller zu schlagen begann. Man könnte sagen, er verlor den Kopf. Oder noch mehr: Er verliebte sich. In die alten Mauern, die Küchenfliesen, den Parkettboden, die Kachelöfen und die Möbel, die vor über 120 Jahren auf Bestellung gefertigt worden waren. In die verheißungsvolle Atmosphäre und die geheimnisvolle Geschichte, die er hier auf Schritt und Tritt spürte.

Er ging das Risiko ein und kaufte das damals bereits stillgelegte Weingut. Er konnte damals noch nicht wissen, dass hier einst sein Restaurant entstehen würde, das er heute „Gut Leben am Morstein“ nennt. Anfangs war er lediglich von dem Gedanken erfüllt gewesen, der verfallenen Villa und dem verwilderten Garten ihren alten Glanz wiederzugeben. Doch dann nahmen die Ereignisse, wie so oft im Leben, ihren eigenen Lauf.
Restaurant Gut Leben am Morstein Foto: Privat-Archiv

Vielleicht begann auch alles viel früher? Bei einem Besuch Stefans im Frankfurter Restaurant Lafleur von Andreas Krolik, der 2017 als bester Koch Deutschlands ausgezeichnet wurde. „Wenn es jemanden gibt, der mich kulinarisch beeinflusst hat, dann war es Andreas Krolik“, erinnert sich Stefan Spies lächelnd. Schon bei der Erinnerung an den Restaurantbesuch läuft ihm das Wasser im Munde zusammen. „Seine veganen Gerichte entführten mich in himmlische Sphären.“

Stefan Spies erklärt mir, dass vegane Restaurants in Frankfurt großen Zuspruch genießen und während der Pandemie sogar von den Gästen unterstützt wurden, damit sie die schwierige Zeit überstehen konnten. Und auf dem Land? Nun ja, dort gehen die Uhren etwas anders, wovon Stefan Spies sich am eigenen Leib überzeugen konnte.

Heute bietet Stefan Spies in seinem Gut Leben am Morstein eine exquisite Auswahl veganer Gerichte an. Als Vorspeise schlägt er gebeizte Koriander-Karotte mit Ringelblumen-Mayonnaise und Winterportulak vor. Als Hauptspeise Fregola Tostato mit gebackener Perlina Aubergine, Shiitake und Miso Lack. Und als Nachspeise Ananas-Carpaccio mit Sonnenblumenkern-Eis und Knusper-Sesam.

Ja, bei Stefan Spies sind Veganer ganz in ihrem Element. Auch er selbst ernährt seit 10 Jahren ausschließlich pflanzlich. In erster Linie aus Liebe zu Tieren, denn wie er selbst sagt: „Man kann Tiere nicht gleichzeitig lieben und essen.“ Aber er hat Verständnis dafür, wenn Gäste aus Polen mit veganen Gerichten nicht viel anfangen können. Ähnlich reagierten auch viele Einwohner Westhofens und der Umgebung, als sie nach der Eröffnung des Restaurants die eleganten, mit viel Liebe zum Detail restaurierten Innenräume und den gepflegten Garten des ehemaligen Weinguts in Augenschein nahmen. Stefan erzählt, dass Frauen und Kinder eher dazu bereit waren, sich auf kulinarische Experimente einzulassen. Sie probierten alles aus und waren begeistert. Doch die Männer brummelten nur: „Ich lasse mir von niemandem vorschreiben, was ich essen soll“. Und boykottierten die veganischen Gerichte.

„Nach einem Jahr wurde mir klar, dass ich mein Restaurant wieder schließen muss, wenn ich keinen Kompromiss eingehe“, erzählt Stefan Spies. „Umso mehr als das griechische Restaurant um die Ecke, in dem drei Viertel der Gerichte aus Fleisch bestehen, mittags und abends aus allen Nähten platzte. Also setzte ich auf exquisite, mehrgängige Menüs – je nach Vorliebe vegan oder mit Fisch oder Fleisch.“ (An dieser Stelle seufzt Stefan Spies schwer).

„In Restaurants auf dem Lande bekommt man nach wie vor eine riesige Portion Fleisch mit Pommes Frites und Salat für elf Euro“, erzählt Stefan Spies weiter. „Offensichtlich erwarten manche Gäste das einfach. Und um diese Erwartungen zu erfüllen, kaufen die Restaurantbesitzer nur die billigsten Produkte ein. Was weder gut für die Gesundheit, noch für das Tierwohl, noch für die Umwelt ist. Da mache ich nicht mit. Natürlich zahlen die Gäste bei mir über 40 Euro für ein Menü, aber dafür stammt der Fisch auf ihrem Teller aus der Nordsee, das Fleisch aus Süddeutschland, wo die Tiere in Freiheit gehalten werden, und das Gemüse von zertifizierten Lieferanten. Auf diese Weise setze ich mich für eine verantwortungsvolle Ernährung ein. Dadurch habe ich mehr Arbeit, weniger Freizeit und eine Menge Sorgen. Aber auch eine gewisse Genugtuung, denn die Zahl von Menschen, die sich vegan oder vegetarisch ernähren, wächst ständig, wenn auch nur langsam. Und nach einem Besuch in meinem Restaurant wird wohl niemand sagen, dass die deutsche Küche ausschließlich aus Schnitzel und Würsten besteht“, sagt Stefan Spies lachend.

Es gibt in Deutschland 70 619 Restaurants, davon 292 mit einem oder mehreren Michelin-Sternen, circa 30 000 Imbissstuben und fast 12 000  Cafés. Insgesamt wurden in Deutschland im Jahr 2019 im gastronomischen Bereich über 61 Milliarden Euro Umsatz erwirtschaftet. Die Höhe des durchschnittlichen Jahresverdienstes (brutto) von Vollzeit-Angestellten in der Gastronomie beträgt 25 526 Euro. Gegenwärtig absolvieren circa 16 000 Menschen in Deutschland eine Ausbildung zum Koch oder zur Köchin. Fast 14,4 Prozent der Deutschen gehen gerne in Spitzenrestaurants essen, und 19 Prozent geben mehr als 20 Euro für Speisen im Restaurant aus. Quelle: https://de.statista.com/
Vegetarisches Gericht im Restaurant Westhofen Foto: Privat-Archiv

Informationen:
1. Auf Julia Richters Blog finden wir viele interessante Rezepte aus Deutschland und aller Welt.
2. Saynur Sonkaya-Nehers Kochkurse rund um die orientalische Küche (die Kosten betragen 118 Euro pro Person) werden hier angeboten.
3. Einen Platz im Restaurant Schwarzer Hahn können wir hier reservieren, und Kochkurse mit Stefan Neugebauer (die Kosten betragen circa 255 Euro pro Person) werden hier angeboten.
4. Informationen über das Gut Leben am Morstein von Stefan Spies in Westhofen und die Speisekarte findet ihr hier.
 

Oto Niemcy (Das ist Deutschland)

Dieser Artikel gehört zu einer Reihe von Reportagen „Oto Niemcy“ (Das ist Deutschland), die das Goethe-Institut gemeinsam mit dem Magazin Weekend.gazeta.pl veröffentlicht.


 

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