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Peter Wohlleben
Mehr Achtsamkeit mit Tieren

Hund verkleidet als Einhorn
© Pexels

Sind frei laufende Hühner glücklich? Wovon träumen Fruchtfliegen und Hunde? Welches Zeitgefühl hat ein Schmetterling?

Im Buch „Die Gefühle der Tiere. Von glücklichen Hühnern, liebenden Ziegen und träumenden Hunden“ schreibt Peter Wohlleben, Förster und Bestsellerautor, über Emotionen, Intelligenz und Bewusstsein der Tiere und fordert zu ethischem Handeln auf. Dabei macht er wenig Unterschiede zwischen liebenswerten Katzen, Milch gebenden Ziegen oder lästigen Fliegen. Und er scheut nicht, Parallelen zu menschlichen Gefühlen zu ziehen und provokante Thesen zu vertreten. Der Buchausschnitt wird dank freundlicher Unterstützung des Pala Verlags abgedruckt.

Darf ich ein Tier, welches ich aufgezogen habe, welches mir vertraut, eines Tages töten und essen? Oder wenigstens ein Pferd dazu zwingen, mich zu tragen? Und wenn ich dies verneinen würde, wäre es nicht besser, ich würde einfach alle Haustiere frei lassen? Oder größere Ställe bauen, noch mehr Weidefläche besorgen und täglich das Lieblingsfutter reichen? Solche Fragen scheinen Menschen in allen Epochen beschäftigt zu haben, und das Pendel schwenkt bis heute heftig in alle Extrembereiche aus.

Gespanntes Verhältnis zu unseren Mitgeschöpfen


Es gab Zeiten, in denen unsere Mitgeschöpfe zumindest in Teilbereichen als annähernd gleichwertig betrachtet wurden. Ein besonderes, heute bizarr anmutendes Beispiel sind die Tierprozesse des Mittelalters. Schweine in Untersuchungshaft, die trotz Hilfe eines Verteidigers der Todesstrafe am Galgen nicht entgehen konnten, exkommunizierte Insekten oder Ochsen, die lebendig begraben wurden -:- bislang wird dieses spannende Kapitel von Historikern nahezu totgeschwiegen. Vielleicht auch, weil es zeitgleich mit den Hexenprozessen seinen Höhepunkt erlebte und der gleichen Geisteshaltung entsprungen war. Noch im frühen Mittelalter war die Hexenverfolgung sogar ausdrücklich verboten - und Tierprozesse unbekannt. Erst als der Glaube an übernatürliche Kräfte zulegte, traute man auch Tieren eine Schuldfähigkeit zu. Der Autor Peter Dinzelbacher berichtet in seinem Buch »Das fremde Mittelalter« von einem Fall aus dem 16. Jahrhundert, in dem Bartholome de Chassenee, ein führender französischer Jurist, immer wieder Verzögerungen für seine Klienten (Ratten) erwirkte. Seine Begründung: Die Nager hätten Hinterhalte von Katzen umgehen müssen und damit das Gericht nicht rechtzeitig erreicht. Derselbe Jurist tat sich in einem Prozess des Jahres 1520 als Anwalt von Holzwürmern hervor.

Es ist schon ein wenig merkwürdig, dass ausgerechnet in Zeiten der am meisten menschenverachtenden Justizmethoden Tieren eine Schuldfähigkeit zugestanden wurde. Und zwar nicht von Analphabeten, sondern von der damaligen Bildungselite. Einen Vorteil hatten die Haustiere dadurch trotzdem nicht: Bei einem Freispruch ging ihr alltägliches Nutzviehdasein bis zum Tod durch den Metzger weiter, bei einem Schuldspruch warteten Folter und Feuer.

Das Zeitalter der Aufklärung beendete diese Praxis (wie auch die Hexenverfolgungen). Toleranz, Freiheit, wissenschaftliches Denken, Namen wie Rousseau, Voltaire oder Kant haben der Epoche historischen Glanz verliehen. Für die Stellung der dem Menschen untergeordneten Fauna ging es währenddessen eher bergab.

Coverbild für Peter Wohllebens "Die Gefühle der Tiere. Von glücklichen Hühnern, liebenden Ziegen und träumenden Hunden" © 2016: pala-verlag Ein besonders düsteres Kapitel im Umgang mit Tieren schlug der französische Philosoph Rene Descartes auf. Descartes begründete den modernen Rationalismus, der dem Denken, der Benutzung des Verstandes, zur Erkenntnisfindung Priorität einräumt. Damit drang er auch in die Theologie ein, versuchte, Gottes Existenz durch logische Schlüsse zu beweisen, und stellte dessen mögliches Handeln und Beweggründe auf den philosophischen Prüfstand. Seine Denkansätze ordnete er in einer neuen Erkenntnistheorie. Der berühmteste Satz hieraus lautet: »Ich denke, also bin ich« (cogito ergo sum).

Zu seinem Bild von der Welt gehörte die These, dass die Körper von Mensch und Tier lediglich mechanische Automaten seien. Einzig beim Menschen käme noch die Seele hinzu. Folgerichtig (und grausamerweise) sprach er Tieren jedes Schmerzempfinden ab. Zur Untersuchung dieser »Maschinen« betrieb er die Vivisektion, also das Sezieren von Tieren bei lebendigem Leib. Das Stöhnen und Schreien der gequälten Kreaturen verglich Descartes mit dem Quietschen schlecht geölter Maschinen und bewunderte ansonsten die komplexe Konstruktion.

Mit Claude Bernard trat im 19. Jahrhundert ein weiterer Franzose ins Rampenlicht der Wissenschaft. Er gilt als Begründer der modernen Physiologie und entdeckte viele funktionelle Zusammenhänge des menschlichen Körpers. (…) Viele seiner Ergebnisse erzielte Bernard mithilfe von Tierversuchen, als deren Vater er gilt. Jegliche medizinische Erkenntnis sei mit ihrer Hilfe zu prüfen, so Bernard in seinem 1865 veröffentlichten Buch »Einführung in das Studium der Experimentalmedizin«. Diese Prüfungen erfolgten allerdings so brutal, dass seine Frau sich von ihm trennte: Bernard nagelte Hunde und Katzen auf Bretter und schnitt den lebenden Versuchsobjekten Organe an oder ganz heraus. Da die gequälten Kreaturen häufig noch viele Stunden lebten, nahm er sie zur weiteren Beobachtung kurzerhand mit ins Schlafzimmer. (…) Seine Frau gründete zusammen mit ihren Töchtern ein Heim für herrenlose Hunde und Katzen. (…)
Nachfolger haben Descartes und Bernard bis heute. Und immer noch sind Tierversuche äußerst umstritten. (…)
Wie sehr sich der verachtende Umgang mit Tieren in unser Gedächtnis eingegraben hat, machen für mich immer wieder wissenschaftliche Vergleiche deutlich. So werden regelmäßig die geistigen Eigenschaften von Säugetieren mit dem Entwicklungsstand von Kleinkindern verglichen. Eine mehrfach hinkende Betrachtung. Denn hier werden Arten nebeneinandergestellt, deren einer Vertreter (das Kleinkind) noch gar nicht ausgereift ist. Abgesehen davon, dass ich meine Kinder im entsprechenden Alter nicht auf Affen- oder Schweineniveau gesehen habe, wird eine solche Gegenüberstellung auch den Tieren nicht gerecht. Denn eine derartige Wertung lässt uns unbewusst ein geistig unfertiges, unreifes Wesen sehen. (…) Das ist natürlich auch wissenschaftlich völlig verkehrt, dennoch finden sich immer wieder derartige Vergleiche. Man muss Tieren nicht die gleichen Rechte zugestehen wie uns Menschen. Unsere Mitgeschöpfe sollten aber wenigstens so respektvoll betrachtet werden, dass sie als ausgereifte, in der Blüte ihrer Fähigkeiten stehende Individuen behandelt werden. Sie sind für ihren jeweiligen Lebensraum mit körperlichen und geistigen Eigenschaften exakt so perfekt ausgestattet wie wir für den unsrigen. (…)

Der Hund in der Handtasche


Die Zahl der Haustiere wächst: Allein in Deutschland sind es rund 37 Millionen. Katzen führen die Hitliste mit über 12 Millionen an, gefolgt von mehr als 7 Millionen Hunden. Ein Großteil dieser Geschöpfe wird nicht als Nutztiere im herkömmlichen Sinn gehalten, dient also nicht der Jagd auf Mäuse oder dem Hüten von Schafen. Es sind meist Familientiere, die uns begleiten, mit denen wir kuscheln oder die uns ein wenig Ursprüngliches in die eigenen vier Wände zurückbringen. Weil diese Tiere vielfach als echte Familienmitglieder angesehen werden, verwöhnen wir sie gerne. Und was gut gemeint ist, geht oft am Wohl von Katze und Hund völlig vorbei. Frauchen und Herrchen lassen den Vierbeinern das Wohlfühlpaket zuteilwerden, welches sie selbst besonders schätzen. Wenig Bewegung, viel Futter, geheizte Zimmer - all das tut uns ab einem bestimmten Maß auch nicht mehr gut. Wie sehr wir uns von eigenen Bedürfnissen leiten lassen, kann man besonders schön am Futter sehen. Es unterscheidet sich nur noch in der Größe der Packung von unseren Lebensmitteln. Die Optik von Fleischmahlzeiten erinnert an Corned Beef in Aspik, kleine Snacks an Cracker mit einer undefinierbaren Füllung. Manche Happen kommen als krosse Schinkenstreifen daher, wobei der Eindruck auf künstlichen Farbstreifen und einer Wellenform beruht. Das gönnt man doch seinem kleinen Liebling, das darf ruhig etwas mehr kosten. Allein für Katzensnacks werden hierzulande über 200 Millionen Euro pro Jahr ausgegeben, und die Zuwachsraten sind gewaltig. Viele Besitzerinnen und Besitzer können einfach nicht mit ansehen, wenn ihr Liebling·Hunger hat. So hat mittlerweile schon jeder dritte Hund Übergewicht; die Tiere folgen der Statistik für Menschen mit einigen Jahren Abstand (aktuell ist es jede zweite Frau und zwei von drei Männern).

Eigentlich ist diese übertriebene Tierliebe ein gutes Zeichen. Immer mehr Menschen liegt offensichtlich das Wohl der ihnen anvertrauten Tiere am Herzen, selbst wenn sie zu viel des Guten tun. Und diese tierfreundliche Haltung überträgt sich möglicherweise auch auf andere Alltagsbereiche, etwa den eigenen Lebensmittelkonsum. Wer Haustiere hält, achtet beim Einkauf tierischer Produkte vielleicht mehr auf artgerechte Haltung und verzichtet eher auf Fleisch. Nur zwischendurch sei bemerkt, dass es meist Raubtiere sind, die wir da halten, und die ganz überwiegend auf Fleisch angewiesen sind, welches wohl oft nicht aus artgerechter Haltung stammt.

Diese positivere Grundhaltung sollte aber selbst einmal überdacht werden. Respekt gegenüber Tieren heißt, dass wir ihre Bedürfnisse anerkennen und diesen gerecht werden. Ein Leben mit Bewegungsmangel und massenhaft künstlich erzeugten Kalorienbomben ist sicher nicht bedarfsgerecht. Das Grundproblem ist die Vermenschlichung der Tiere. Vielfach werden eigene Bedürfnisse auf den Vierbeiner projiziert und dann stellvertretend ausgelebt. Und das war noch nicht alles. Katzen und Hunde werden so gezüchtet, dass sie oft nur noch Zerrbilder ihrer wilden Urahnen sind. Einige Rassen können sich gar nicht mehr richtig bewegen, wären draußen in der Natur aufgrund zu kurzer Beine, zu langen Fells oder angeborener Atembeschwerden verloren. Züchter haben die Rassen unseren Bedürfnissen angepasst, sodass bestimmte Konflikte gar nicht erst entstehen können. (…)

Hund mit Sonnenbrille im Blumenbeet © Pexels Und wenn wir einfach gar keine Haustiere mehr halten würden? Das empfände ich als zu radikal, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen gehören Tiere zum Menschen, sind Teil unserer eigenen Entwicklungsgeschichte und Bedürfnisse. Zum anderen verlören alle Katzen, Hunde und anderen Arten die Chance zu leben. (…) Gesunde, harmonische Haustierrassen, die ein bedürfnisgerechtes, glückliches Leben an unserer Seite führen, sind eine Bereicherung für uns. Und wer so etwas erleben darf, nimmt gerne auch Rücksicht auf wilde Tiere - selbst wenn ihnen der Kuschelfaktor fehlt. Die bekannte Verhaltensforscherin Jane Goodall bemerkte einst: »Man kann nicht sein Leben mit einem Hund teilen, wie ich einst in Bornmouth (. „) ohne genau zu wissen, dass Tiere Persönlichkeit haben und eine Seele und Gefühle.«

S. 119-140 gekürzt aus:
Peter Wohlleben „Die Gefühle der Tiere. Von glücklichen Hühnern, liebenden Ziegen und träumenden Hunden“ © 2016: pala-verlag
https://pala-verlag.de/buecher/die-gefuehle-der-tiere/

Peter Wohlleben ist Förster, Bestsellerautor und engagierter Naturschützer. Über zwanzig war Jahre lang war er Beamter der Landesforstverwaltung. Heute arbeitet er in der von ihm gegründeten Waldakademie in der Eifel und setzt sich weltweit für die Rückkehr der Urwälder ein. Er ist Gast in zahlreichen TV-Sendungen, hält Vorträge und Seminare und ist Autor von Büchern zu Themen rund um den Wald und den Naturschutz. Mit seinen Bestsellern »Das geheime Leben der Bäume«, »Das Seelenleben der Tiere«, »Das geheime Netzwerk der Natur«, »Das geheime Band zwischen Mensch und Natur« und »Der lange Atem der Bäume« hat er Menschen auf der ganzen Welt begeistert.

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