Interview mit Esther Kinsky
„Ich bin gerne fremd an einem Ort“

Esther Kinsky am Goethe-Institut Budapest
© Goethe-Institut Budapest

Esther Kinsky, eine der wichtigsten und vielfältigsten Autor*innen der deutschen Gegenwartsliteratur besuchte im September das Goethe-Institut Budapest, und unterhielt sich mit Autorin Zsófia Bán.

Die Prosa und Lyrik von Esther Kinsky erzählen menschliche Geschichten, die untrennbar mit der sie umgebenden Natur verbunden sind. Ihr neuestes Buch "Rombo" (2022) wurde mit dem diesjährigen Kleist-Preis ausgezeichnet und für den Deutschen Buchpreis nominiert. Sie wird aber nicht das erste Mal ausgezeichnet, sie hat unter anderem den W.G. Sebald-Literaturpreis 2020 und den Preis der Leipziger Buchmesse 2018 erhalten. Neben ihrer Arbeit als Autorin übersetzt sie Belletristik vor allem aus dem Polnischen und ist seit 2019 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

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Ihr Buch Rombo beschäftigt sich mit dem Erdbeben 1976 in Italien. Was hat Sie auf das Thema aufmerksam gemacht und warum haben Sie diese Form der Erzählung gewählt?

Bei längeren Aufenthalten in der Gegend wurde ich auf die Allgegenwart dieses Themas und der Erinnerung an dieses kollektive Trauma aufmerksam. Mich interessierte vor allem die Art und Weise, wie man darüber sprach, wie man Schrecken und Angst artikulierte, sowohl als individuelle Erfahrung als auch in Gruppe, Dorf, Straße, Ortsviertel usw. Das sind zwei ganz unterschiedliche Arten des Erinnerns, jeder findet andere Worte, und aber es gibt diesen Konsens der gemeinsamen Erfahrung, der sich eher aufs Grobe beschränkt, aber das wird ja erst interessant durch diese Splitter individuellen Erlebens. 

In Ihrem Buch sind zahlreiche Informationen zu Geologie, Flora und Fauna und zu den Lebensgeschichten der betroffenen Personen erhalten. Wie sind Sie in Ihrer Arbeit vorgegangen, welche Forschungen oder auch Vorkenntnisse waren nötig?

Die Geologie interessiert mich seit längerer Zeit, schon seit den Vorbereitungen für meinen letzten Gedichtband, in dem es um das Gestein Schiefer geht. Mich interessiert die Terminologie des Schreibens über Natur, das gilt auch für Ornithologie und Botanik. Aber die Geologie hat eine besondere Dramatik, zudem stellt sich bei der Geologie auch immer die Frage: Wie schreibt der Mensch über Dinge, die so außerhalb seiner erfahrbaren Zeitspanne liegen. Gesteinsgeschichte ist so riesig, dass der Mensch mit seinen Benennungen daneben winzig ist wie ein Sandkorn. Zur Vorbereitung habe ich einfach sehr viel gelesen, hatte aber auch Rat und Unterstützung seitens eines Wissenschaftlers von der Bundesanstalt für Geologie in Wien.

Was die Geschichten der Personen angeht, sind diese zu einem sehr kleinen Teil wirklich authentisch und tatsächlichen Personen zuzuordnen, es sind eher Mischungen aus unzähligen verschiedenen Gesprächen, aber auch aus Dorfchroniken, wie es sie in manchen Bergtälern bis in die heutige Zeit gibt. 

Ich bin keine Bestseller-Autorin, (...) insofern bin ich sehr glücklich über das Maß an Unabhängigkeit, das ich habe, ohne Kompromisse machen zu müssen.

Rombo wurde für die Longlist des Deutschen Buchpreises nominiert. Inwiefern glauben Sie, dass der Erfolg Ihre zukünftige Arbeit beeinflussen und Ihre künstlerische Freiheit verändern wird?

Nun ist Rombo nicht auf der shortlist, und insofern erübrigt sich diese Frage. Was ist auch Erfolg? Der Deutsche Buchpreis ist als Anerkennung für mich nicht besonders interessant, er ist gut für Verlage und für den Buchhandel, aber beruht selten auf einem tieferen Verständnis für Literatur. Ich bin eigentlich sehr zufrieden mit dem Maß an Erfolg, das ich habe, ich kann von meinem Schreiben ganz gut leben, das ist alles, was ich will, denn es gibt mir die Freiheit, weiterzuarbeiten und zu schreiben. Ich bin keine Bestseller-Autorin, dafür eignen sich mein Material und meine Art zu schreiben nicht, insofern bin ich sehr glücklich über das Maß an Unabhängigkeit, dass ich habe, ohne Kompromisse machen zu müssen.

Sie sind literarisch wie künstlerisch sehr produktiv und vielseitig interessiert: Sie übersetzen und schreiben, beschäftigen sich aber auch mit Fotos und Filmen. Wie definieren Sie sich?

Ich möchte mich nicht definieren. Im Vordergrund steht für mich das Schreiben, der Umgang mit der Sprache, aber die Erfahrung der Fotografie als Tätigkeit bedeutet mir auch viel. Es sind zwei Formen der Artikulation und der Beschäftigung mit der Welt, die sich in meiner Arbeit immer wieder berühren. Ich liebe Film (im Kino) aber habe noch nie selbst gefilmt. Das Sehen in jeder Hinsicht beeinflusst meine Arbeit, das ist das Wichtigste. 

Ungarn war sicher das Land, das meine Tätigkeit, mein Sehen, mein Schreiben, auch mein Fotografieren am meisten geprägt hat.

Sie haben in verschiedenen Ländern gelebt, so auch in Ungarn. Was motiviert Sie zur Wahl eines bestimmten Wohnortes? Und warum kamen Sie nach Ungarn und dort ausgerechnet nach Battonya?

Ich bin in der glücklichen Lage, unterschiedliche Länder und Wohnorte einfach ausprobieren zu können. Mit der Zeit gewöhnt man sich dann eine Vorstellung von fester Zugehörigkeit und Heimat ab. Das weitet den Blick, ich bin gerne fremd an einem Ort. Ungarn hatte mich schon lange interessiert, die Sprache, die Art, wie sich das Leben in der Kunst artikuliert. Battonya war ein großer Zufall, ich war eigentlich eher aus Versehen dort, und dann hat es mich so fasziniert. Ungarn war sicher das Land, das meine Tätigkeit, mein Sehen, mein Schreiben, auch mein Fotografieren am meisten geprägt hat. Das kann man gar nicht analytisch erklären. Die politische Situation macht mir große Angst, sonst würde ich sicher gerne nach Ungarn zurückkehren.