Musikkritik 2017
Musikjournalismus im digitalen Zeitalter

Musikjournalismus verwandelt sich rasant. Und die alten Medien werden rar.
Musikjournalismus verwandelt sich rasant. Und die alten Medien werden rar. | Foto ⓒ Ralf Dombrowski

Musikkritik scheint sich heute zwischen Quote, Geschäftsinteressen und Praktikantentum aufzureiben. Die letzten Großen des Geschäfts wie Joachim Kaiser sind gestorben. Was bleibt, sind Perspektiven zwischen Anspruch und Liebhaberei. Oder? 

Im Jahr 2009 antwortete Joachim Kaiser (1928-2017) in seiner Videokolumne auf die Zuschauerfrage, wozu Musikkritiker nötig seien: „Die Welt braucht keine Musikkritiker.“ Um danach ausführlich zu begründen, warum es sie trotzdem gibt: In einer Welt übermäßiger Information habe die Musikkritik die Funktion, die Desinformation des überlasteten Bürgers ein bisschen aufzufangen. Diese Aufgabe ist seitdem nicht kleiner geworden, bei schrumpfenden Möglichkeiten.

Dabei war der Musikjournalismus schon immer Veränderungen unterworfen – gerade in Deutschland. Ein kleiner historischer Abriss macht dies deutlich. Nach einer Blütezeit der bürgerlichen Musikkritik in den 1920er-Jahren mit Gallionsfiguren wie Alfred Kerr oder Alfred Polgar und dem großen Kulturbruch durch den Faschismus (vor allem im von den Nationalsozialisten überrollten Europa), musste Meinungspluralismus wie überhaupt die Beurteilung künstlerischer Arbeit nach demokratischen Maßstäben und mit fachlicher Kompetenz nach 1945 erst wieder mühsam erlernt und eingeübt werden.

Eine wiedererlernte Kulturtechnik

Bei der Klassik wurde das „Nachlernen“ der in der übrigen Welt bereits anerkannten Komponisten und Werke etwa von Ravel, Bartok oder Strawinsky, vor allem aber die Rezeption der Neuen Musik zum Schrittmacher für eine auch im „freien“ Westdeutschland nur zögerlich beginnende Aufarbeitung der Vergangenheit. Neben der Interpretationskritik der Zeitungsfeuilletons bildete sich eine Kompositionskritik im Rundfunk aus, beides verbunden durch die wiedererscheinenden Zeitschriften Melos und Neue Zeitschrift für Musik. Hans Heinz Stuckenschmidt, in der NS-Zeit mit Schreibverbot belegt, wurde in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zum stilbildenden Doyen der bundesdeutschen Musikkritik, später gefolgt von „Großkritiker“-Kollegen wie Heinz-Josef Herbort in der Zeit und Joachim Kaiser in der Süddeutschen Zeitung. Das Randgebiet des Jazz dominierte Joachim Ernst Berendt als eine Art Universal-Impresario.  
Musikkritiker im Gespräch: Joachim Kaiser bei BR Alpha, Quelle: YouTube

Spätestens mit der 1968er-Bewegung etablierten sich Rock und Pop als Ausdruck einer nunmehr marktbeherrschenden Jugendkultur, die mit wechselnd hegemonialen, aber klar abgegrenzten Stilen die jeweiligen Generationen begleitete und über Fanzines und Liebhaber-Berichterstattung hinaus Teil des klassisch-seriösen Musikjournalismus wurde. Die 1970er- bis 1990er-Jahre waren dementsprechend nicht nur kommerziell erfolgreich für die Musikindustrie, sondern auch die Blütezeit einer eingespielt arbeitenden Musikkritik.

Krise der Kritik

Spätestens seit der Jahrtausendwende aber steckt die Musikindustrie mit der radikalen Transformation durch Digitalisierung und Internet in einer Dauerkrise. Der Produktionsprozess, das Trägermedium, die Verwertungskette, bis zu einem gewissen Grad selbst die Aufführung von Musik – all das hat sich grundlegend gewandelt. Und mit wenigen Jahren Abstand zeigte sich dies auch in der Medienlandschaft und damit beim Musikjournalismus. Schon der Gegenstand seiner Betrachtung hat sich verändert, erst recht die Arbeitsbedingungen. War der Musikkritiker früher der priviligierte „doorkeeper“, der neue Alben lange vor allen anderen bekam, seinen Konzerteindruck nur mit vergleichsweise wenigen anderen Besuchern teilen musste und exklusiven Zugang zu den Künstlern hatte, so wird Neues heute nahezu zeitgleich für alle veröffentlicht. Live-Eindrücke sind auf Youtube oder anderen Portalen problemlos jederzeit und für jeden möglich, und die meisten Künstler streuen selbst alles vermeintlich Wissenswerte umwegfrei über die sozialen Medien aus.

Die Ära der Kritikerpäpste à la Stuckenschmidt und Kaiser ist vorbei. Die auf Echtzeit beschleunigte Onlinegesellschaft bringt nicht nur immer mehr Musiker mit immer mehr Genre- und Stil-Entgrenzungen hervor, sondern auch eine nahezu unüberschaubare Zahl an mehr oder weniger kritischen Rezipienten auf und mit ihren Homepages, Blogs und Postings. Die Musikkritik alten Stils hat durch diese Konkurrenz nicht nur enorm an Aufmerksamkeit, Bedeutung und Einfluss verloren. Die Professionalität der gesamten Branche steht auf der Kippe, und damit ist gar nicht in erster Linie die Qualität der Texte oder Beiträge gemeint. Es ist ein Strukturwandel, der vom Experten zum Liebhaber führt, vom Journalisten zum Blogger.

Kein Geld, keine Meinung

Denn der Einführung von Musikkritik-Studiengängen an den Universitäten (zum Beispiel 2015 in Dortmund) oder Journalistenschulen steht ein Niedergang der klassischen Medien gegenüber. Die Auflagen der wichtigsten deutschen Musikzeitschriften befinden sich schon lange im Sinkflug und betragen inzwischen zusammengenommen weniger als die Hälfte des Spiegel. Etliche Magazine wie Klassik heute oder die JazzZeitung gibt es nur noch als Online-Ausgabe, andere wie Sono oder die österreichische Jazzzeit wurden ganz eingestellt. Umso schwerer wird der Stand der eingeführten Blätter durch Gratiskonkurrenz wie Intro.

Die vom Wegbrechen des Anzeigenmarktes gebeutelten Zeitungsverlage wiederum sparen spezialisierte Musikredakteure und fachspezifische freie Mitarbeiter mehr und mehr ein. Und die öffentlich-rechtlichen Medien schließlich starren, obwohl durch Gebühren finanziert, auf die Quote und suchen ihr Heil in der nivellierenden „trimedialen“ Verbundarbeit von Fernsehen, Online und Radio. Ohnehin orientiert sich der Hörfunk schon jetzt zunehmend am Mainstream der Formatradios – bei denen man mittlerweile fast keine Instrumentalmusik mehr hört, nur noch gesungenen Pop. Aktuelles Beispiel: Der Wellentausch des Senders BR Klassik, der 2018 aus dem Äther ins Online- und Digitalradio verschwinden wird, zugunsten der Jugend-Pop-Welle BR Puls.

Der Luxus des Spezialistentums

Bedingt durch diese Entwicklungen können die meisten Musikjournalisten von ihrem erlernten Handwerk – Rezensionen, Interviews, Vor- und Hintergrundberichte – kaum noch leben, viele halten sich mit Nebenbeschäftigungen oder PR über Wasser. Wie also sieht eine Bestandsaufnahme der aktuellen Situation aus? Die Krise der Musikindustrie und des Musikjournalismus ist keine Krise der Musik selbst. Es gibt von der Klassik bis zum Jazz, und selbst in der aktuell kreativ etwas stagnierenden Popszene mehr gute Musiker und spannende Musik als je zuvor. Das Problem ist die Vermittlung dieser Musik. Die klassischen Medien lassen das Rezensionswesen verkümmern, setzen auf Mainstream, verkleinern die Nischen für alles Unkonventionelle. Und anders als allgemein behauptet, verstärken Onlinemedien und Social-Media-Aktivitäten als Massenphänomen die Tendenz, das ohnehin Beachtete noch stärker zu machen. Dabei wäre der Bedarf an kritischem Qualitätsmusikjournalismus in all der neuen Unübersichtlichkeit – siehe das Eingangszitat von Joachim Kaiser – größer denn je.

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