Die Wollindustrie
Wollene Rebellion in der Ardèche

Das Team der Ardelaine besteht vor allem aus Frauen.
Foto (CC BY-NC-ND): Ardelaine

„Um Schafe zu scheren, müssen die Gesten stimmen, Geschmeidigkeit ist notwendig, man muss auf das Schaf hören. Das ist wie ein Tanz.“ Gérard Barras lacht verschmitzt und fügt hinzu: „Als wir hier mit der Wollproduktion angefangen haben, dachte ich, dass ich zum Scheren zu alt sei, dass alles von der Kraft abhänge. So habe ich es nie ausprobiert, und später habe ich es bereut. Heute fangen sogar junge Frauen damit an.“In einem abgelegenen Tal in der französischen Ardèche, in der 500-Einwohnergemeinde Saint-Pierreville, liegt das Gelände der genossenschaftlichen Produktionsgemeinschaft (Scop) Ardelaine, die Gérard Barras vor 35 Jahren mitbegründet hat. In der Wollkämmerei erklärt der agile Endsechziger, wie die gewaschene Wolle gekämmt wird, nämlich von den mechanischen Karden aus der Vorkriegszeit, die aber immer noch funktionstüchtig sind. Große Vliese der Wolle, die überwiegend aus der Region selbst stammt, liegen in feinen, weichen Schichten, wie elfenbeinfarbener Schnee. Es riecht nach Handwerk, wie in der Werkstatt nebenan, wo Wollmatratzen manuell gefertigt werden. Die vor Ort hergestellten Produkte, vom Strumpf bis zur Bettdecke, werden im Genossenschaftsladen direkt verkauft.

Gleich gegenüber laden ein Restaurant und ein Bücher-Café ein, es sich bei einer Mahlzeit aus lokalen biologischen Erzeugnissen gemütlich zu machen oder in einer bemerkenswerten Auswahl von Büchern zu blättern. Etwa 50 Beschäftigte arbeiten unter dem Dach von Ardelaine, ein Name, der auf Ardèche und Wolle (französisch laine) anspielt, aber auch ein Wortspiel ist: art de la laine bedeutet Wollkunst auf Französisch.

Eine Geschichte des Durchhaltevermögens

In den 1970er-Jahren verlassen viele Franzosen die ländlichen Regionen, um Arbeit in den großen Städten zu suchen. Nicht so Béatrice und Gérard Barras. 1972 entdeckt das Paar zufällig die alte Spinnerei in Saint-Pierreville, die vor den Augen ihrer alt gewordenen Eigentümer zur Ruine verfällt. Bald tun sich Béatrice und Gérard mit drei Freunden – zwei Männern und einer Frau – zusammen, um die Spinnerei zu restaurieren. Ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang, denn französische Wolle gilt in diesen Jahren als wertloser Rohstoff. Die zwischen 20 und 30 Jahren alten Pioniere verfügen zwar über Hochschul- oder Berufsabschlüsse, haben aber weder Geld noch spezifische Kenntnisse im Textilgewerbe. Ehrenamtlich verrichten sie die dringendsten Arbeiten und vergemeinschaften ihre Mittel in allen Bereichen, um überflüssige Ausgaben zu vermeiden. „In diesen Jahren haben wir uns durchgeschlagen“, erinnert sich Béatrice Barras: Selbstversorgung durch Gartenarbeiten, landwirtschaftliche Aktivitäten, Wiederverwendung – ein soziales Versuchslabor.

Nachdem die Gebäude behelfsmäßig restauriert sind, beginnt das mittlerweile vergrößerte Team, sich Kompetenzen im Scheren, Sammeln und Sortieren von Wolle anzueignen, und baut Kontakte zu den Tierzüchtern der Umgebung auf. Sie erlangen so Know-how, das eigentlich als veraltet gilt. Abhängig von den momentanen Bedürfnissen bringen sie sich andere Techniken selbst bei: den Bau einer Wasserturbine zur Stromerzeugung, Etappen der Wollverarbeitung, Herstellung von Woll-Produkten und vieles mehr.1982 unterzeichnen 16 Genossenschaftler, Frauen und Männer, die Statuten der Scop Ardelaine, deren Gesellschafter die Beschäftigten sind, mit mehrheitlichem Kapitalanspruch. Ziele dieser neuen Genossenschaft sind unter anderem, die lokale Wollbranche komplett wiederaufzubauen, von der Aufzucht bis zum Verkauf, und dabei Rücksicht auf die Umwelt zu nehmen. Außerdem soll durch die Schaffung von Arbeitsplätzen auf die lokale Entwicklung eingewirkt werden.

Die ersten Produkte – traditionelle, langlebige Wollmatratzen – werden auf lokalen Märkten und Bio-Messen in Frankreich und im Ausland verkauft. Gleichzeitig ermöglichen steigende Umsätze die Anstellung weiterer Mitarbeiter.

Verwurzelt und weltoffen bleiben

Mitte der 1980er-Jahre arbeiten sich einige Teammitglieder mithilfe von Experten aus der armenischen Community im Rhône-Tal in das Strickhandwerk ein. Bald eröffnet Ardelaine ein Konfektionsatelier in einem sozial benachteiligten Stadtteil von Valence, anderthalb Autostunden von Saint-Pierreville entfernt. Das Atelier gibt es noch immer, mittlerweile erweitert um Gemeinschaftsgärten: ein Hektar Grün inmitten des städtischen Betons. „Hier tun wir es Ardelaine gleich, wir kümmern uns um unser Territorium!“, freut sich Meriem Fradj, die das Konfektionsatelier seit 1986 mitleitet und die Stadtgärten ins Leben gerufen hat.

Trotz der kommerziellen Exporterfolge verwurzelt sich die Genossenschaft ab den 1990er-Jahren weiter regional, nach dem Motto: Stabilität und kurze Transportwege vor Wachstum. Das hartnäckige Angebot eines japanischen Unternehmens, Strickjacken zu hohen Preisen nach Fernost zu exportieren, lehnen die Genossenschaftler entschieden ab. Der Direktverkauf vor Ort oder per Versand genießt Priorität. Ardelaine erweitert sogar den Standort in Saint-Pierreville um zwei Museen und einen Gebäudekomplex, der unter anderem der Förderung von Lebensmitteln aus der Region gewidmet ist. Er beherbergt neben Restaurant und Bücher-Café auch ein Atelier zur Lebensmittelkonservierung, das Bauern, Fleischern und Privatpersonen zur Nutzung offen steht.

Heute beschäftigt die Genossenschaft mehrheitlich Frauen. Sie gehören vier Generationen an und kommen aus ganz Frankreich. Nach Saint-Pierreville kamen die meisten, weil sie eine sinnstiftende Beschäftigung suchten. „Ich dachte, dass Ardelaine ein klassisches Unternehmen sei. Mit der Zeit habe ich seine Funktionsweise entdeckt, und das vor allem, als man mir Vertrauen schenkte und mir Verantwortung übertrug. Hier kann man Dinge voranbringen, wenn man motiviert ist“, erzählt Christine Hubac, die auch Mitglied im Verwaltungsrat der Scop ist. Mehr als die Hälfte des Teams gehören der Genossenschaft an – die Entscheidung steht jedem frei. Verbreiteten Managementtheorien zum Trotz fallen jeder Mitarbeiterin mehrere unterschiedliche Aufgaben zu, von der Schur bis zur Führung von Rundgängen. Das Gehalt liegt dabei etwas über dem französischen Mindestlohn.

Mit kooperativem Eigensinn ist es Ardelaine gelungen, trotz massiver globaler Konkurrenz im Textilgewerbe ein lebendiger Organismus zu sein, der sich sanft entwickeln konnte, immer in Kontakt mit den Bedürfnissen des regionalen Umfeldes. Gérard Barras: „Dieses Abenteuer konnte fortbestehen, weil wir jedes Mal mit neuer Kraft losgelegt haben! Ich glaube, dass eine solidarische Gruppe von Menschen überleben kann, selbst im feindlichen Umfeld.“

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