Indigene Kulturen
Von sichtbaren und unsichtbaren Welten

© Anna Azevedo
© Anna Azevedo

In indigenen Kulturen stellen Träume die Verbindung von Wirklichkeit mit unsichtbaren Welten dar - von der Begegnung mit Ahnen bis zu Jagdstrategien. Zudem dienen sie der Orientierung für Entscheidungen.

Von Camila Gonzatto

„Die Weißen träumen nicht so weit wie wir. Sie schlafen viel, träumen aber nur von sich selbst“, sagt Davi Kopenawa, Schamane der Yanomami, in seinem mit dem Anthropologen Bruce Albert geschriebenen Buch La chute du ciel (Dt. etwa: Der Sturz des Himmels). Damit spielt er darauf an, wie unterschiedlich Träume in ihrer Sinnhaftigkeit, Interpretation und Bedeutung sein können – bei indigenen Völkern wie auch in anderen Kulturen.

João Vianna, Anthropologe, Psychologe und Dozent an der Bundesuniversität von Espírito Santo sowie Forscher am Zentrum für Studien zu Völkern der Erde – GAIA, betont, dass Kopenawa damit ein entscheidendes Merkmal des amerindischen Träumens anspricht: der Traum als Reise, in der Träumende ihren Ahnen begegnen, aber ebenso nicht-menschlichen Wesen wie Tieren, Pflanzen und Geistern. „Der indigene Traum ist keine innere Reise zu verborgenen Wahrheiten der individuellen Identität, sondern nach außen gerichtet. Er ist außerpersönlich und zielt auf das, was fern ist, was anders ist: Alterität – mit allen damit verbundenen Risiken und Potenzialen. Deshalb ist der Traum für indigene Völker so wichtig“, sagt er.

Laut Vianna gibt es für indigene Kulturen keine „Traumwelt“, sondern der Traum selbst ist Zugang zu anderen Welten, die Teil der Lebenswirklichkeit sind, im Wachzustand jedoch nicht erreicht werden können. „So ist zu verstehen, dass Jäger von ihrer möglichen Beute in deren eigener Welt träumen. Oder Schamanen von Geistern träumen, die ihnen helfen, von Geistern, die ‚Herren‘ der Krankheiten sind, von Demiurgen, die sie anleiten, und sie dafür die menschliche Welt verlassen müssen. Traum steht für einen Wechsel der Perspektive, der nützlich ist für den Jäger oder den Schamanen, ebenso aber auch einer kranken Person schaden kann, die dem Angriff oder der Verzauberung durch schädliche Geister erlegen ist“, erläutert Vianna.

Verbindung zu den Ahnen

Trotz aller Ähnlichkeiten besitzen Träume in unterschiedlichen indigenen Kulturen jeweils unterschiedliche Interpretationen und Sinnhaftigkeit. Der indigene Schriftsteller und Aktivist Edson Krenak erzählt, dass für Völker im Vale do Rio Doce in Brasilien, am gleichnamigen Fluss, den sie Watu nennen, speziell aus dem Dorf Vanuíre, Träume eine Art Straße sind, eine Brücke der Bildung, die generationsübergreifend Kinder, Alte und Ahnen verbindet.

„Nach den historischen Traumata der Diaspora der Krenak, der Gewalt und Verbrechen gegen unsere Territorien und den Watu, zeigen Träume uns Wege der Heilung und Hoffnung auf. Ohne Träume entfernen wir uns von unseren Ahnen und entledigen uns der Möglichkeiten dieser Verbindung. Träumen versetzt uns in die Lage, uns in der Gegenwart darauf vorzubereiten, gute Ahnen zu sein“, erklärt Krenak.

Die Zukunft vorwegnehmen

Auch Daniel Munduruku, Schriftsteller und Lehrer aus dem Bundesstaat Pará vom indigenen Volk der Munduruku, sagt, dass der Traum sich als offenes Fenster in die dreidimensionale Welt jenseits derer darstellt, in der wir uns bewegen: „Im Alltag hat er eine solche Bedeutung, dass in einigen Völkern beim Aufwachen Träume untereinander geteilt werden. Träume können das Ergebnis der Jagd oder eines Fischzugs bestimmen, fröhliche oder traurige Ereignisse vorwegnehmen, prophetisch in die Zukunft blicken.“

Krenak betont dagegen, dass Träume, auch wenn sie dazu dienten, mit Angst, Herausforderungen und Zukunftsplänen umzugehen, nichts Prophetisches im Sinne der jüdisch-griechisch-christlichen Vorstellungswelt anhafte, sie also eher nicht linear seien. „Der Weg der Träume ist fast immer zirkulär und multilinear. Deswegen vermischen sich in Träumen, Geschichten und Ritualen Vergangenheit und Zukunft. Wir selbst sind Zukunft. Unsere Vorfahren sind die Zukunft unserer Generation“, fügt er hinzu.

Für die Baniwa, ein Volk der Sprachgruppe Arawak am Ufer des Içana-Flusses im Nordwesten des Amazonasgebiets, können Jäger im Traum Orte erkunden, an denen sich ihre potenzielle Beute befindet, erzählt Vianna, der in der Region forscht. „Es geht dabei weniger um Vorhersehen, als mehr um den Zugang zu privilegierten Informationen, Wissen über die Bewegung der Jagdbeute, und darum, sie schon im Traum zu erlegen, um später nur noch den Körper zu holen. Genau so müssen Pajés (Schamanen), um Personen zu heilen, in andere Welten reisen und nach der Seele des Patienten suchen, die ein Zauberer womöglich gefangen und mitgenommen hat“, so der Wissenschaftler.
  • Borums Traum Autor: Edson Krenak. Illustrationen: Mauricio Negro

    Borums Traum

  • Borums Traum. Autor: Edson Krenak. Illustrationen: Mauricio Negro

    Borums Traum.

  • Borums Traum. Autor: Edson Krenak. Illustrationen: Mauricio Negro

    Borums Traum.

  • Borums Traum. Autor: Edson Krenak. Illustrationen: Mauricio Negro

    Borums Traum.

Träume teilen

In verschiedenen Kulturen sind Kinder und Erwachsene gehalten, ihre Träume zu teilen. „Als ich Kind war und meine Tante in Minas Gerais besuchte, saßen wir um die Feuerstelle, aßen Maniokküchlein und erzählten uns Träume. Die Tante verband unsere Träume immer mit den Geschichten der Ahnen“, erinnert sich Krenak. Bei den Munduruku wiederum werden Träume von Pajés interpretiert, wenn der Träumende sie nicht selbst versteht. „Von klein auf sind wir darauf geprägt, Träume nicht loszulassen, um nicht dem Vorwurf ausgesetzt zu sein, nicht auf die Stimmen der Ahnen zu hören, die durch die Träume zu uns sprechen“, erklärt er.

Es gibt allerdings Fälle, in denen der Traum nicht geteilt werden sollte. „Im Allgemeinen sollte ein gewöhnlicher Träumer, also kein Pajé, seinen Traum mitteilen, wenn er schlecht oder gefährlich ist, was die Baniwa als ‚hässlichen Traum‘ bezeichnen, ihn aber für sich behalten, wenn er aussichtsreich ist.“ Das wäre zum Beispiel der Traum eines Jägers, in dem „der Träumende die Aussicht auf eine erfolgreiche Jagd erkennt. Über diesen muss Stillschweigen bewahrt werden, bis das im Traum begonnene Vorhaben durchgeführt ist“, sagt Vianna.

Vom Gesprächskreis zur Literatur

Im Traum erlebte Geschichten sind auch in Büchern präsent, vor allem in der indigenen Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Daniel Munduruku fing an, für Kinder zu schreiben, als man ihn nach mündlich weitergegebenen Geschichten fragte. Mittlerweile hat er mehr als 50 Bücher in Brasilien und im Ausland veröffentlicht. „Normalerweise versuche ich, mein Publikum der Wirklichkeit des Traums anzunähern und zu zeigen, dass es Sprachen gibt, die für uns nicht sichtbar sind und dennoch sowohl das Spielerische als auch das Mysteriöse, das uns innewohnt, zu bereichern“, sagt er.

Träume sind auch ein wichtiger Grundstoff für die literarische Produktion in Prosa und Lyrik von Edson Krenak. „Ich erzähle meine Träume meinen Meistern, Pajés, den Älteren und den Mit-Pajés. In den Worten, die wir teilen, zeigen sie mir das Geflecht der Geschichte. Die Erzählung hat zahlreiche kollektive Dimensionen. Wenn ich den Traum nur für mich behalte, bleiben die Bilder unscharf, zusammenhanglos und ohne Bedeutung. Wenn ich ihn mit der Gemeinschaft teile, entwickelt sich der Traum und verändert sich.“

Krenak erhielt für sein Buch O Sonho de Borum (Borums Traum) den 10. Prêmio Nacional Tamoios für brasilianische indigene Schriftsteller. Er bringe Träume in seine Bücher ein, weil für ihn „Träume die ontologischen und utopischen Möglichkeiten eines Lebens im Gleichgewicht sind, wo Menschen und andere Arten sich einen Planeten mit seinen sichtbaren und unsichtbaren Welten teilen“, stellt er abschließend fest.

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