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Interview mit Tucké Royale
Von Tagträumen & den richtigen Stiften

Tucké Royale
Tucké Royale | © Amelie Kahn-Ackermann & André Simonow

Möchte man das künstlerische Schaffen von Tucké Royale zu fassen bekommen, braucht man einen langen Atem. Ich versuch‘s mal: er ist Regisseur, Musiker, Aktivist, Schauspieler, Autor, Denker, Lehrer, Mensch. Letzteres vor allen Dingen. Ein Mensch mit einem großen Schaffensdrang, begründet aus dem Wunsch, an der Umformung unserer Welt in eine andere, eine bessere, mitzuwirken. So zumindest interpretiere ich sein künstlerisches Wirken, mit dem ich mich ehrlicherweise erst begann auseinanderzusetzen, nachdem ich „Neubau“ sah.
 

Von Sascha Ehlert

Vielleicht kennt ihr den Namen Tucké Royale aus dem Kontext der „Act Out“-Initiative, vielleicht kennt ihr das von ihm verfasste Manifest für die „Neue Selbstverständlichkeit“ – vielleicht auch nicht. So oder so ist das folgende Gespräch, das Sascha Ehlert im Dezember 2020 mit Tucké via Zoom geführt habe, eine Einladung zur Annäherung an einen sehr vielschichtigen Künstler.

Neubau, das ist ein Film, bei dem Johannes Maria Schmit Regie geführt hat und der eigentlich schon längst auf der großen Leinwand hätte zu sehen sein sollen. Etwas, das hoffentlich noch passiert, denn: Neubau ist wirklich großes Kino in einem sehr kleinen Sinne. Tucké hat das Drehbuch für den Film geschrieben und spielt auch selbst die Hauptrolle. Er erzählt durch seinen Text und sein Spiel von einem Menschen in der brandenburgischen Peripherie. Dieser Mensch liebt, lebt, zweifelt, verliert, ist fürsorglich, ist nachdenklich. Gezeigt wird das alles in einer sehr reduzierten, zurückgenommenen Form, bei der das Zwischenmenschliche zwischen den Figuren im Mittelpunkt steht. Auch erzählt der Film von einem queeren Menschen, der darüber nachdenkt, sein Zuhause zu verlassen und in die Großstadt zu ziehen, aber gleichzeitig „auf dem Dorf“ Menschen hat, die ihn dort halten. Das Sensationelle, das Berichtenswerte ist aber nicht der Plot an sich, es ist die Zärtlichkeit, mit der Neubau junge wie alte Menschen beobachtet und spielen lässt. Es ist die melancholische, nachdenkliche Ruhe, die dieser Film ausstrahlt, die am Ende, nachdem man ihn gesehen hat, nachhallt.
 


Ihr hattet mit „Neubau“ bisher ja nur ein paar Screenings in kleinerem Rahmen. Ein Rahmen, der vielleicht gar nicht so schlecht passt zu diesem Film, der, glaube ich, darauf angewiesen ist, dass man bereit ist, ihn nah an sich rankommen zu lassen. Was haben dir gegenüber Leute über ihre Seh-Erfahrungen berichtet, nachdem sie Neubau in diesen fast privaten Settings sehen durften?

Tucke Royale: Das war ganz unterschiedlich. Wir hatten zum Beispiel im vergangenen Sommer in der Uckermark ein Screening, das draußen stattfand und nachdem es ein längeres öffentliches Gespräch gab. Da gab‘s zum Beispiel Leute aus der Region, der Film ist ja in der Uckermark gedreht, die es schön fanden, dass man in dem Film so viel Landschaft zu sehen bekommt. Auf der anderen Seite waren bei dem Screening aber auch Tourist*innen, die genau das irgendwie trist oder deprimierend fanden. Und es gab schon auch Leute, die sagten: „Eh, der ist ja die ganze Zeit alleine und dann raucht und trinkt der auch noch so viel – muss das sein?“ Was dann vermutlich eine Frage der Sehgewohnheiten ist – vielleicht waren die, die das beobachtet haben, Menschen, die in der Regel eher eine andere Art von Film gucken.

die Provinz ist nicht automatisch heterosexuell

Insgesamt hatte ich aber das Gefühl, dass die Leute in der Uckermarck Neubau so ähnlich verstanden habe, wie ich den Film selbst sehe. Ich meine den Aspekt, dass der Markus, der Protagonist, eine sehr enge, vielleicht auch erotische Beziehung zur Landschaft hat. Interessanterweise empfanden Leute aus der Stadt genau das als bedrückend, oder stritten diese Beziehung sogar ab und neigten dazu, ihn zu vereinzeln. Deren Gedanken gingen in die Richtung: „Das kann ja nichts werden, der muss in die Großstadt.“

Klar, das ist natürlich ein in der Großstadt weit verbreitetes Urteil: als in irgendeiner Art und Weise von der sogenannten „Norm” abweichender Mensch kannst du nicht auf dem Dorf bleiben. War vielleicht genau das einer der Gründe für euch, überhaupt diese Geschichte zu erzählen? Wolltet ihr erkunden, ob nicht auch das Gegenteil vorstellbar wäre?

Ich glaube schon. Es ging schon auch darum wertzuschätzen, was „auf dem Land” auch möglich ist, was es dort auch für Realitäten gibt. Es ist ja so, dass alle größeren Rollen in dem Film queere Menschen sind, was natürlich eine starke Setzung ist und ein expliziter Anspruch an uns selbst war. Klar wollten wir auch sagen: die Provinz ist nicht automatisch heterosexuell; und selbst dann, wenn sie es ist, ist sie queeren Menschen gegenüber nicht automatisch feindlich eingestellt. Letztlich ist es glaube ich so, dass die Beziehungen unter den Menschen in Gegenden, die relativ dünn besiedelt sind, oft auch ganz anders sind als in der Großstadt. Hilfsbereitschaft ist wichtiger, weil man es sich als Gemeinschaft letzten Endes nicht so sehr erlauben kann, aufeinander zu verzichten.

Natürlich kann sich in einer Großstadt wie Berlin jeder Mensch seine eigene Wohlfühlblase bauen. Auf dem Land muss man, ob man will oder nicht, mit seinen Nachbar*innen klarkommen – auch generationsübergreifend. Das zeigt ihr ja auch in eurem Film.

Ja, natürlich gibt es eine gewisse Arroganz seitens der Großstadt. Die zeigt sich zum Beispiel durch die Diskurse, die man in der Großstadt führt, und die, mag sein, in der Provinz oft nicht wirklich ankommen, weshalb man auf Basis dessen über die Menschen dort urteilt. Aber: in der Großstadt verhalten sich die Menschen auch nicht automatisch besser, nur weil sie diskursfester sind. Und: Nur, weil man sich in gewissen Debatten auskennt, sagt das ja nicht automatisch etwas darüber aus, wie zugewandt man sich anderen Menschen gegenüber verhält. Eine Großmutter, wie man sie in dem Film sieht, die hat vielleicht nicht Judith Butler gelesen, aber die kann trotzdem aus sich heraus eine sehr herzliche, wendige Begleiterin sein.
  • Tucké Royale © Amelie Kahn-Ackermann & André Simonow
    Tucké Royale zuhause
  • Tucké Royale © Amelie Kahn-Ackermann & André Simonow
    Tucké Royale draußen
  • Tucké Royale © Amelie Kahn-Ackermann & André Simonow
    Tucké Royale ganz nah
  • Tucké Royale © Amelie Kahn-Ackermann & André Simonow
    Tucké Royale draußen

ein Geschenk an uns selbst

Würdest du sagen, dass ihr diesen Film „für” bestimmte Menschen gemacht habt, beziehungsweise steht eine bewusste Intention dahinter? Du hast ja zum Beispiel ein Manifest verfasst, deshalb liegt vermutlich der Gedanke nahe, davon auszugehen, dass auch „Neubau“ auf eine Art ein programmatischer Film ist...

Ich glaube, der Film zeigt in verschiedene Richtungen. Zum einen ist er ein Geschenk an uns selbst. An das Team, das ihn produziert hat und letztlich auch an mich selbst. Ich hab mir ja mit dem Drehbuch, was ich geschrieben habe, eine Rolle geschenkt, die mir so nicht angeboten worden wäre. Der Film ist zur selben Zeit aber auch ein Geschenk für viele andere Leute, die sich darüber freuen könnten einen Film zu sehen, der selbstverständlicher mit verschiedenen Biografien arbeitet und diese nicht gegeneinander ausspielt. Außerdem steckte hinter Neubau auch eine professionelle Sehnsucht danach, eine Rolle spielen zu dürfen und sich aufs Schauspiel und die Kameraarbeit konzentrieren zu können. Als ich das Drehbuch schrieb, hatte ich ursprünglich eine Widmung mit drin. Ich habe mich letztlich dazu entschieden, sie zu rauszunehmen, weil mir das zu dem Zeitpunkt als zu persönlich erschien, aber am Ende ist der Film schon auch stark meiner verstorbener Großmutter gewidmet. Mir ist das beim Schreiben erst in der dritten Fassung oder so aufgefallen, aber ich glaube ich nehme mit dem Buch vor allem auch nochmal Kontakt zu ihr auf, beziehungsweise versuche sie nochmal zu lieben.

Wann ist das Drehbuch eigentlich entstanden?

Kurz vor dem Dreh. Ende Juni 2019 fingen wir an zu drehen, mit dem Drehbuch angefangen hatte ich im Januar. Es war auch ursprünglich gar nicht geplant, dass ich das Drehbuch schreibe, aber jemand anderes ist abgesprungen. Ich hatte aber nichtsdestotrotz schon Ideen dazu im Kopf, welche Geschichte ich erzählen wollen würde, weshalb mir das leicht von der Hand ging. Zwischen Januar und Mai habe ich dann fünf Fassungen produziert, bevor ich das Drehbuch abgegeben habe.

Aber du wusstest zu dem Zeitpunkt bereits, dass du den Protagonisten selbst spielen würdest?

Ja, das wusste ich. Ich hab deshalb dann mit mir selbst Gewerketrennung gespielt. Ich habe den Text geschrieben, abgegeben, ihn dann ein paar Wochen liegen lassen und erst dann angefangen, den Text zu lernen, bin also vom Autor zum Schauspieler geworden, hab dann ein paar Proben, Rollenarbeit gemacht, um herauszufinden, wie dieser Charakter geht, wie der spricht, was das fürn Typ ist. Interessanterweise war ich zum Beispiel zu dem Zeitpunkt, als ich das Drehbuch geschrieben habe, gerade seit zwei Jahren Nichtraucher und hab erst, als ich dann geprobt hab wieder gemerkt, dass meine Figur quasi die ganze Zeit raucht – und hab dann halt selber wieder mit dem Rauchen angefangen. Außerdem musste ich für die Rolle meinen Führerschein machen, weil schon klar war: Der wird Auto fahren. Und: Ich setz mir in dem Film ja auch selber so ne Spritze – und das konnte ich auch nicht. Ich hatte sogar ziemlichen Schiss davor, das selbst zu machen. Aber durch diese Dinge, die ich für die Figur neu lernen musste, fiel es mir letztlich auch leichter, neu an den Text heranzugehen.

Ich finde in kleinen Dingen oft sehr Schönes

Ist diese neue Arbeitspraxis, das Drehbuchschreiben, eine die sich für dich so sehr bewährt hat, dass du sie in der Zukunft beibehalten möchtest?

Ja, auf jeden Fall. Ich habe schon Pläne, ein weiteres Drehbuch zu schreiben. Allerdings ist noch nicht klar, ob ich dort auch selber mitspielen werde. Lust habe ich natürlich immer, aber das ist nicht meine vordergründige Motivation, etwas zu schreiben.

Welche Rolle spielt eigentlich dein „Manifest für die Neue Selbstverständlichkeit“ beim Schreiben für dich? Ist das eine Art Grundregelwerk für deine Drehbuch-Projekte?

Ich glaube schon, dass das immer wieder eine Rolle spielt. Natürlich stellt sich mir auch die Frage, wie die Figuren, die ich schreibe, aus ihrem Alltag heraus agieren können, ohne sich einem vermeintlich unwissenden oder empathielosen Publikum erklären zu müssen. Ebenso stellt sich mir im Prinzip auch immer die Frage: Was gibt es eigentlich für Konflikte zwischen den Figuren? In welchen Schichten liegen die? Natürlich liegen die nicht immer auf der Ebene von Fragen nach Identität, aber wenn sie dort liegen, dann stellt sich mir die Frage, wie ich diese Menschen darstellen kann, ohne die Charaktere zu beschädigen oder ein Publikum zu retraumatisieren, das ohnehin verletzlich ist. Vor allem bei Gewaltdarstellungen stellt das für mich eine große Rolle. Ich arbeite beispielsweise gerade auch an einem Roman-Vorhaben, das zu einem großen Teil in Sachsen-Anhalt in den Neunziger Jahren spielen wird. Ich frage mich in Bezug auf dieses Projekt, wie ich die neo-nazistische Gewalt und die Mobs auf den Straßen, die in dem Text vorkommen, beschreiben kann, ohne dass die Bedrohung verkleinert wird, aber gleichzeitig auch, ohne dass ich den Nazis ein Schlachtengemälde hinschiebe.

Unabhängig von der Form und dem Stoff: Wie arbeitest du? Bist du jemand, der für das Arbeiten an dem Ort sein muss, an dem die Geschichte stattfinden soll? Liest und recherchierst du viel?

Beides. Ich brauche meistens schon ein Jahr, in dem ich mich in einem Stoff bewege. Ich habe schon oft eine Grundkonstruktion, die ich mir an die Wand klebe, an der ich dran rum schiebe. Ich arbeite im Grunde schon sehr strukturiert und weiß gewisse Dinge über einen Stoff sehr früh. Manchmal träume ich auch gewisse Sachen, die dann Eingang finden. Zum Beispiel bei gibt es bei Neubau diesen Golf mit dem Fraktur-Aufkleber darauf – ja, den hab ich geträumt. Nichtsdestotrotz bin ich eigentlich immer gerne vor Ort. Ich habe immer das Gefühl, dass sinnliche Erlebnisse an einem Ort etwas sehr Spezifisches sind und ich kann mich auch an meinem Küchentisch an sie erinnern, aber nur, wenn ich vorher da war. Sonst käme ich ja gar nicht auf sie. Von hier aus gesehen ist es ja im Winter schon wieder schwer, sich daran zu erinnern, wie diese eine geschmolzene Teer-Ritze auf dem Weg zum See aussieht. Ich finde in diesen kleinen Dingen oft sehr Schönes. Dazu kommt dann allerdings immer auch eine intensive Recherche. Wie intensiv die ist, das kommt natürlich immer ganz auf den Stoff an. Zum Beispiel beschäftige ich mich für das Buch, an dem ich gerade schreibe, viel mit der Treuhand und den Chroniken rechtsextremer Übergriffe. Ich versuche zum Beispiel gerade selbst eine solche Chronik für die Stadt, aus der ich komme, anzufertigen und schreibe von Tag zu Tag auf, was ganz faktisch passiert ist. Das ist natürlich eigentlich ein riesengroßer Umweg, dieser quasi Historiker-Anteil an einer Arbeit, von dem nie ganz klar ist, wie stark der letztlich Eingang in den Text finden wird. Ich mach ja natürlich kein Geschichtsbuch und werd das nicht eins zu eins wiedergeben. Die Frage für mich ist ja eher: Welche Effekte haben diese Realitäten auf meine Figuren? Auf welche Art spielt das in deren Leben eine Rolle?
  • Tucké Royale © Amelie Kahn-Ackermann & André Simonow
    Tucké Royale zuhause
  • Tucké Royale © Amelie Kahn-Ackermann & André Simonow
    Tucké Royale auf großer Fahrt
Wie findest du die Lösungen für diese Fragen?

Ja, das versuche ich gerade auch wieder für mich selbst herauszufinden. Ich denk immer, ich muss „hart“ an meinen Stoffen arbeiten, merke dann aber immer wieder, wie sehr ich es brauche, lange Spaziergänge zu machen, tagzuträumen, mir dabei mit meinem Handy Notizen zu machen und in einen Rhythmus reinzukommen, der nicht von Büroarbeit oder so unterbrochen ist. Das ist natürlich sehr luxuriös und nicht immer möglich, aber ich glaub das ist für mich am Ende die Hauptaufgabe: in einen Gedankenstrom reinzugeraten. Interessant ist, dass das dann passiert, wenn ich mir eigentlich Zeit nehme, um für einen Moment mal von meiner Arbeit wegzukomme und spazieren gehe. Dabei ist es vermutlich eigentlich ganz anders: Ich sollte mehr spazieren gehen. Dann geht‘s mir zum einen besser und es werden Notizen gemacht. Daran anschließend kommt dann natürlich der Teil, während dem man fokussiert am Dokument arbeitet - das geht natürlich nicht im Wald.

Seit wann weißt du denn, dass du diese Tagträumerei zum Arbeiten brauchst?

Ich glaube, schon seit der Pubertät. Damals habe ich auch geschrieben – und das kam auch viel über Spaziergänge. Und über Kneipenbesuche. Was vielleicht auch eine Art eine andere Form von Spaziergang ist. Letztlich fand ich meine Arbeitsweise, meine Methode, nach dem Ende meines Studiums. Geringfügig ändert die sich natürlich bis heute. Ich hatte zum Beispiel kürzlich, und das klingt jetzt sehr mimosenhaft, erhebliche Schwierigkeiten damit, herauszufinden, wie ich anfange an meinem Manuskript zu schreiben. Da bin ich eine kurze Zeit lang fast wahnsinnig geworden, weil ich mit meinem digitalen Dokument nicht klarkam, bis ich dann merkte, dass ich die Notizen erstmal auf Papier niederschreiben muss, um sie dann von dort abtippend zu überarbeiten. Dann wiederum hab ich mich lange mit der Frage nach dem richtigen Stift beschäftigt, was nun vermutlich noch alberner klingt. Aber ich bin mit vielen Stiften einfach nicht klar gekommen – aber jetzt hab ich den richtigen gefunden. Ich hab ihn mir dann erstmal zwanzigmal schicken lassen.
 

„Neubau“ im Kino

sehen Sie Neubau in der Reihe Achtung Film!:

am 5. Mai 2022 um 19:00 Uhr im Cinéma du Parc in Montreal

am 18. Mai 2022 um 19:00 im Cinéma Cartier in Quebec

(beide in der Originalfassung mit französischen Untertiteln)

am 31. Mai 2022 um 19:00 im ByTowne Cinema in Ottawa

(in der Originalfassung mit englischen Untertiteln)

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