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Berlinale 2023
Festivalende mit Überraschungen

Sofía Otero in „20.000 especies de abejas“. Regie: Estibaliz Urresola Solaguren
Sofía Otero in „20.000 especies de abejas“. Regie: Estibaliz Urresola Solaguren | Foto (Detail): © Gariza Films, Inicia Films

Das Publikum ist zurück, Steven Spielberg tanzt und der Goldene Bär geht an einen französischen Dokumentarfilm. Was war noch los auf der Berlinale?

Von Ula Brunner

Mit dem Goldenen Bären für den einzigen Dokumentarfilm des Wettbewerbs hatten wohl die wenigsten gerechnet – offensichtlich auch der Regisseur selbst nicht. „Are you crazy or what?“ („Sind Sie verrückt oder was?“), war Nicolas Philiberts Reaktion auf die Preisverkündung.

Seine Doku Sur l'Adamant widmet sich dem Alltag in einer psychiatrischen Tagesklinik, untergebracht  auf einem Hausboot am Seine-Ufer. Über mehrere Monate hinweg hat der 72jährige französische Dokumentarist (Être et avoir, 2002) die Patientinnen und Patienten begleitet. Offen erzählen sie von ihren Ängsten und Wünschen. Einen „meisterhaft gestalteten Film“ nannte Jurypräsidentin Kristen Stewart Sur l'Adamant auf der Abschlussgala.
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„Sur l’Adamant“. Regie: Nicolas Philibert

„Sur l’Adamant“. Regie: Nicolas Philibert | Foto (Detail): © TS Production / Longride

Solides Handwerk

Als Favorit hatte der Film im Vorfeld der Preisverleihung aber nicht gegolten. Insgesamt 19 Beiträge aus 19 Ländern konkurrierten um den Goldenen und die Silbernen Bären, darunter viele Arthousefilme, aber auch Thriller und Melodramen. Sogar ein Anime (Suzume) war dabei. Thematisch wie formell fiel das Wettbewerbsprogramm vielfältig aus, bewegte sich aber überwiegend im künstlerischen Mittelmaß. Innovatives richtungsweisendes Kino war eher in anderen Sektionen zu finden. Konnte man in diesem qualitativ soliden Wettbewerb überhaupt ein Werk mit überragender Strahlkraft ausmachen? Am Ende setzte die siebenköpfige Jury unter dem US-Star Kristen Stewart bei der Preisvergabe vor allem auf etablierte Regisseure.

Familiengeschichten

Philiberts Landsmann Philippe Garrel (Le sel des larmes, 2020) erhielt für Le grand chariot den Regie-Preis. Sein Film erzählt von einer Puppenspieler-Familie in einer existenziellen Krise, besetzt hat ihn der Regisseur mit drei seiner eigenen Kinder. Eine Geschichte in der Geschichte also, das könnte originell sein, wäre es nicht so behäbig erzählt.
Francine Bergé, Louis Garrel, Aurelién Recoing in „Le grand chariot“. Regie: Philippe Garrel Francine Bergé, Louis Garrel, Aurelién Recoing in „Le grand chariot“. Regie: Philippe Garrel | Foto (Detail): © Benjamin Baltimore / 2022 Rectangle Productions - Close Up Films - Arte France Cinéma - RTS Radio Télévision Suisse - Tournon Films Es ist nicht der einzige Beitrag des Wettbewerbs, der um die Untiefen familiärer Beziehungen kreist: Der Portugiese Joao Canijo holte sich den Preis der Jury mit Mal Viver. Canijo lässt fünf zerstrittene Hotelerbinnen aufeinandertreffen. Entstanden ist ein von starken Schauspielerinnen behauptetes Psychodrama. Das Besondere: Der Portugiese hat seine Geschichte in zwei Filmen umgesetzt: Mal Viver erzählt sie aus der Perspektive der Hotelbesitzerfamilie, Viver Mal, der in der Sektion Encounters lief, aus Sicht der Gäste.

Dreimal Silber für den deutschen Film

Drei von insgesamt fünf deutschen Wettbewerbsbeiträgen konnten einen Silbernen Bären mit nach Hause nehmen. Berlinale-Dauergast Christian Petzold erhielt den Großen Preis der Jury für seine wunderbar leichte Tragikomödie Roter Himmel – eine längst überfällige Ehrung für den Berliner Ausnahmeregisseur. Der Film ist nach Undine der zweite Teil seiner Romantik-Trilogie, auch hier spielt Paula Beer eine Hauptrolle.


Theodora Exertzi, Odysseas Psaras, Nikolas Tsibliaris, Aliocha Schneider in „Music“. Regie: Angela Schanelec Theodora Exertzi, Odysseas Psaras, Nikolas Tsibliaris, Aliocha Schneider in „Music“. Regie: Angela Schanelec | Foto (Detail): © faktura film / Shellac

Angela Schanelec bekam für ihre lose Ödipus-Adaption Music einen Silbernen Bären für das Beste Drehbuch. Die Österreicherin Thea Ehre wurde für die beste Nebenrolle ausgezeichnet. In Christoph Hochhäuslers Thriller Bis ans Ende der Nacht spielt sie eine Transfrau, die mit einem Polizisten im Drogenmilieu ermittelt. Ehre liefert eine starke schauspielerischer Leistung und ist neben Timocin Ziegler die Hauptprotagonistin des Films, hätte also auch einen Silbernen Bären für die Hauptrolle verdient.

Jüngste Bären-Preisträgerin 

Doch diese Trophäe sprach die Jury Sofía Otero zu. In dem spanischen Coming-of-Age-Film 20.000 especies de abejas verkörpert die Neunjährige glaubwürdig ein Kind auf der Suche nach seiner geschlechtlichen Identität. Das atmosphärische und sensible Debüt der baskischen Regisseurin Estibaliz Urresola Solaguren wäre auch ein überzeugender Kandidat für den Goldenen Bären gewesen.
Sofia Otero in „20.000 especies de abejas“. Regie: Estibaliz Urresola Solaguren Sofia Otero in „20.000 especies de abejas“. Regie: Estibaliz Urresola Solaguren | Foto (Detail): © Gariza Films, Inicia Films Nun wurde der kleine Star des Films, Sofía Otero, die jüngste Berlinale-Preisträgerin aller Zeiten. Silber für eine herausragende künstlerische Leistung ging an Hélène Louvart, die Kamerafrau des Wettbewerbs-Beitrags Disco Boy, mit Franz Rogowski in der Hauptrolle.

So viele Baustellen

Es war die vierte Berlinale unter der Führung von Mariette Rissenbeek und Carlos Chatrian. Und es war, wie vielfach erwähnt, ihre erste, auf die die Pandemie nicht ihre Schatten warf. Doch trotz Präsenzkino ohne Masken blieb der Festivalgenuss nicht ungetrübt: Der Berlinale Palast, das traditionelle Festivalzentrum, fand sich inmitten einer Baustelle, die Wege zu den Spielstätten waren verstellt von Zäunen und Sperren. Die Berlinale-Kinos hatte man auf verschiedene Bezirke verteilt, wer sich viel anschauen wollte, musste viel hin-und-herfahren. Und leider machte die Stadt den Festivalfans das Pendeln nicht leicht: Für die S-Bahn gab es einen Schienenersatzverkehr, die U-Bahn fuhr in unregelmäßigen Abständen.

Politik und Prominenz

Das Publikum konnte das unterdessen nicht verschrecken, die Veranstalter meldeten hohe Verkaufszahlen. Das lag möglicherweise auch daran, dass die Festivalleitung ungewöhnlich stark auf Prominenz setzte: Anne Hathaway kam zum Eröffnungsfilm, Steven Spielberg legte bei der Verleihung des Ehrenbären ein Tänzchen hin, Sean Penn präsentierte seine Ukraine-Doku Superpower und die erst 32jährige Jury-Präsidentin Kristen Stewart war zehn Tage lang das Gesicht der Berlinale.

Sean Penn und Wolodymir Selenskyj in „Superpower“. Regie: Sean Penn und Aaron Kaufman Sean Penn und Wolodymir Selenskyj in „Superpower“. Regie: Sean Penn und Aaron Kaufman | Foto (Detail): © 2022. THE PEOPLE’S SERVANT, LLC. ALL RIGHTS RESERVED Zugleich blieb man dem dezidiert politischen Anspruch treu. So standen von Anfang an der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Proteste im Iran im Fokus zahlreicher Filme und Veranstaltungen. Was vielen als Ereignis im Gedächtnis bleiben wird, sind die Standing Ovations bei der Videobotschaft des ukrainischen Präsidenten Wolodymir Selenskyj auf der Eröffnungsgala.

Mit ihrem geschickten Mix zwischen Arthouseprogramm, politischer Mission und Star-Aufgebot haben Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian vieles richtig gemacht: Wie jedes große Festival wird eben auch die Berlinale nicht ausschließlich an ihren Filmen gemessen.

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