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Sprechstunde – die Sprachkolumne
Überhöhte Begriffe

Illustration: TV-Gerät, auf dem ein Auge zu sehen ist; links neben dem Gerät befindet sich eine Sprechblase
Sprache ist niemals neutral | © Goethe-Institut e. V./Illustration: Tobias Schrank

In ihrem letzten Kolumnenbeitrag widmet sich Olga Grjasnowa zwei Begriffen, die in der deutschen Sprache einen besonderen Platz einnehmen: Während „Heimat“ kaum richtig zu fassen ist, kommen die „Wurzeln“ sehr anschaulich daher. Für eine neutrale Sprache stehen sie beide nicht.

Von Olga Grjasnowa

Es gibt zwei Wörter, deren Verwendung im Deutschen fast schon obsessiv überhöht ist: Heimat und Wurzeln. Für die Heimat gibt es in Deutschland seit 2018 sogar ein eigenes Ministerium.

Heimat – was ist das?

Dabei ist Heimat etwas sehr Ungefähres: Der Begriff ist kaum zu fassen, weil er weder geografisch noch zeitlich genau zu verorten ist. Meint man mit der Heimat das eigene Dorf, den vertrauten Landstrich, ein Land oder gar einen ganzen Kontinent? Sogar eine geistige und eine politische Heimat existiert im allgemeinen Sprachgebrauch. Doch wo hört die Heimat auf und wo fängt sie an? Wie viele Kilometer braucht jemand um sich herum, um sich heimisch zu fühlen? Schließlich hat Heimat nicht nur eine geografische, sondern auch eine zeitliche Komponente, meistens handelt es sich um Erinnerungen, die konserviert wurden. Man erinnert sich an Ereignisse, bestimmte Gerüche, die eigene Kindheit. Heimat ist somit eher eine Emotion als eine Verortung und bezieht sich immer etwas mehr auf die Vergangenheit als auf die Gegenwart.
 
Heimat ist einer der wenigen Begriffe, bei dem die sonst so nüchterne deutsche Sprache zur Überhöhung neigt. Und Heimat birgt auch etwas Irrationales, gibt es doch viele Menschen, die es kaum erwarten können, ihre Heimat zu verlassen und das nicht nur aus Zwang. Menschen verlassen die Enge ihrer Dörfer und ziehen in die Städte, oder sie verabschieden sich von der Hektik der Stadt und lassen sich auf dem Land nieder, sie verreisen oder ziehen um, und niemand vermisst dabei die sagenumwobene Heimat oder erwähnt sie auch nur mit einem Wort. Dadurch, dass dieser Begriff so schwammig ist, lässt er sich auch einfach missbrauchen.

Verteidigungslinie

Problematisch wird es, wenn der Begriff im politischen Kontext auftaucht – während Heimat allgemein weit und unklar definiert wird, gewinnt sie plötzlich an „patriotischen“ Konturen, wenn es darum geht, die Heimat gegen Eindringlinge zu beschützen. Der Heimatschutz ist oft der kleinste und einzige gemeinsame Nenner unterschiedlichster Positionen, wobei der Heimatschutz die Verteidigung der Grenzen impliziert und nicht etwa den Umweltschutz. Heimat ist oft das, was die Dominanzkultur von den Minderheiten trennt – und wenn man über Heimat spricht, muss man nicht über Rechte sprechen, über den Zugang zur Staatbürgerschaft, den Schutz der Minderheiten, über bürgerliche Freiheiten oder das Grundgesetz. Eine Heimat wird vererbt, man bekommt sie quasi durch Geburt und kann sie sich nicht erarbeiten. Die Heimat soll nicht geteilt werden, und alles soll so bleiben, wie es noch nie gewesen ist.

Beine statt Wurzeln

Nicht minder merkwürdig ist die Wurzel-Metapher. Sie ist nicht neu, bereits antike Autoren beriefen sich auf sie. Ich verstehe dennoch nicht, weshalb sich erwachsene Menschen freiwillig mit Pflanzen vergleichen. Interessanterweise sind es oft jüdische Autor*innen, die gegen den Begriff „Wurzel“ anschreiben. So konstatierte Joseph Roth: „Der Mensch ist kein Baum“, und Isaac Deutscher stellte fest: „Bäume haben Wurzeln, Juden haben Beine.“ Mir erscheinen natürlich diese beiden Versionen einleuchtender, als die ganze botanische Metaphorik, denn Menschen haben tatsächlich Beine statt Wurzeln, und diese dienen – sofern es keine Einschränkungen gibt – der Bewegung. Wir können keine Fotosynthese betreiben, keinen Schatten spenden, aber man könnte sagen, dass wir geboren wurden, um uns fortzubewegen. Ein Mensch kann relativ einfach den Ort wechseln, sofern keine Hindernisse im Weg stehen. Eine Pflanze muss dagegen ausgerissen und umgetopft werden. Menschen können sich verändern, sie können wandern, reisen, lernen, zurückkehren und wieder reisen. Die Wurzelmetapher suggeriert eine natürliche Verbindung mit der Erde, einer bestimmten Erde, also einer geografischen und ethnischen Zugehörigkeit mit einer bestimmten Gruppe und in letzter Zeit einer kulturellen Tradition, die es so nicht gibt. Denn auch hier gilt: Es gibt nicht die eine Tradition, sondern es gibt viele. Der Philosoph Gilles Deleuze und der Psychiater Felix Guattari entwickelten den Begriff des Rhizoms, um dies zu verdeutlichen.
 
Die Wurzel-Metapher ist im Gegensatz zur Heimat-Metapher sehr anschaulich und das macht sie so gefährlich. Von den Wurzeln ist es nicht weit bis zur Muttererde, und die Muttererde verheißt nichts Gutes. Vor allem in Deutschland. Nicht um sonst war die Blut-und-Boden-Ideologie zentraler Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie. Sprache ist eben niemals neutral und Metaphern sind es noch viel weniger.
 

Sprechstunde – die Sprachkolumne

In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.

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