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Sprechstunde – die Sprachkolumne
Vom Hören

Illustration: Sprechblase mit Noten
Das Hören von Texten war an Besonderheit und Schönheit geknüpft | © Goethe-Institut e. V./Illustration: Tobias Schrank

Bisher hat sich Nora Gomringer in ihren Kolumnenbeiträgen dem Übersetzen gewidmet. Nun beschreibt sie die verschiedenen Wege zur Sprache. Zunächst geht es ums Hören. Dabei spielen eine Badewanne, Porzellantassen und Mikrofone eine Rolle.

Von Nora Gomringer

Meine erste Lektüreerfahrung war keine. Keine direkte, es war eine vermittelte. Meine Mutter lag allabendlich schaumbedeckt in der Badewanne vor mir, das Badezimmer, gleich einer Kemenate, war einer der wenigen beheizten Räume des alten Bauernhauses im Oberfränkischen. Ich saß im Schneidersitz vor dieser Badewanne oder legte mich bäuchlings über den Heizkörper, um zu lauschen. Damals war ich klein, auch körperlich noch ein nur auf das Nötigste und bis dahin Möglichste ausgedehntes Familienpartikel. Meine Mutter rauchte eine in elegante schwarze Hornspitze gesteckte Zigarette und las mir aus dem Buch in ihrer anderen Hand vor, in regelmäßigen Abständen unterbrochen von Zügen an der Spitze.

Die Stimme der Mutter

Aus Friedrich Rückerts Herbsthauch wurde ein tatsächlicher, denn sie trug das Gedicht zart und flach atmend vor, schmetterte manchen Heine-Text und gab den Feenwesen und Zwergen in den Balladen und den Märchen in der Bechstein’schen oder Grimm’schen Sammlung verschiedene Stimmen und Wesen. Ihr Vorlesen war wichtiges Ritual, war auch Teil ihrer erzieherischen Praxis. An mir probierte sie Texte für ihre Schüler aus und lernte mit mir Gedichte auswendig, die entweder in meinem Unterricht erwartet waren oder in ihrem Lehrplan vorkamen. Fuhren wir im Auto, tönte Martin Held von Kassette aus der Anlage, Heinrich Heine zitierend. Ich konnte die längste Ballade, die Waldeinsamkeit, bald sehr gut auswendig. Noch heute spreche ich sie für Publikum.

Das Hören der Stimme meiner Mutter, die sich ganz dem Vortrag widmete und mich einlud, diese Zeit mit ihr zu teilen, war eifersüchtig verteidigte Exklusiverfahrung. Das Hören von Texten war an Besonderheit, Schönheit – die besorgte meine im Schaum duftende Mama – sowie Exklusivität der gemeinsamen Frauen- und Kinderstunde im angenehm Warmen geknüpft, kurz: an Vergnügen.

Zwitschernde Riesen

An vielen anderen Stunden des Tages war meine Mutter für mich unsichtbar, mein Vater sowieso. Sie arbeiteten ständig, befanden sich viel auf Reisen, und so war ich bei den Nachbarn ständiger Gast. Die Dörfer des nördlichen Oberfrankens haben zum Teil enge Verbindung mit der Porzellanindustrie, und beim Übergang von aktiver Landwirtschaft auf achtstündige Fabrikarbeit pro Tag zogen die verschiedenen Firmen in Selb die Bauern und deren Kinder an. Meine ganze Kindheit und halbe Jugend hindurch saß ich unter oder an Wirtshaustischen und war überzeugt, grobschlächtige, wortkarge, aber gutherzige Riesen um mich zu wissen. Wenn dann aber ein Kaffee in einer neuen Tasse, einer fein gestalteten, serviert wurde, begannen die Männer diese Tasse mit vogelzwitschernder Leichtigkeit zu besprechen, fast zu beplappern. Der Pinselstrich, der Ansatz des Henkels, die feine Verarbeitung, alles wurde kommentiert und beinahe zärtlich untereinander besprochen. Während vorher Steine am Tisch verschoben wurden, umflatterten diese Männer für ein paar Minuten des Expertengesprächs Schmetterlinge. Nie werde ich diesen Höreindruck vergessen.

Gedankenecho

Das Hören ist immer auch der Täuschung oder besser vor der Täuschung der Manipulation ausgesetzt. Ich kenne alte Menschen, die manchmal Fragen beantworten, die im Laufe eines Gesprächs vor langer Zeit an sie gerichtet wurden. Dies bemerkt habend, bilde ich mir ein, dass das Gehör wie eine raue Planetenoberfläche in Raum und Zeit abbildbar ist. Gedanken, Antworten, Verknüpfungen zu Gefühlen und Erinnerungen scheinen die Atmosphäre rund um diese Landschaft zu bilden und eben dann sichtbar, spürbar oder anderweitig präsent zu werden, wenn nach allen rasch auffindbaren Antwortpartikeln, die schweren, größeren auftauchen. Verzögertes Antworten lässt auf verzögertes Hören deuten. Da kommt rasch der Begriff des Gedankenechos auf. Und das Phänomen der Verzögerung erhält eine verführerische Komponente. In der Verzögerung der Klangperzeption ist Raum für Veränderung, Teilübertragung der Nachricht, Fehler.

Verführerische Kraft

Wir leben in einer Welt, in der die Maschinen fleißig sind, uns sehr genau zuhören und wiedergeben können. Sie spionieren und plaudern uns aus, sind Partner im Alltag und als solche oft unersetzlich geworden. Mikrofone, die Schall, Klang, Melodie, Stimme aufnehmen, wandelbar machen durch technischen Einfluss, sind immer auch Verteiler. Es muss die Menschen bewegt haben, wenn sie Walt Whitman durch die Straßen New York laufen sahen und laut seine Fragen an die Menschengesellschaft stellen hörten, seine Anrufungen aller demografischen Gruppen zu poetischer Welteinheit ins Jetzt proklamierte.

Stimmen verführen, und es ist kein Wunder, dass Hörbuchplattformen und Podcasts, allen voran immer noch das Radio, das Hörspiel, die Live-Lesung, der Poetry Slam, der Stand-Up-Comedy-Monolog, die Arie, das Chorlied, der gesprochene Kommentar, die Trauerrede, der Popsong, die Rede des Brautvaters und das Plädoyer vor Gericht gesellschaftsbildendes Potenzial besitzen. Im Hören liegt stets die Möglichkeit, sich voll und ganz, spontan oder auf lange Jahre hin zu verlieben. Und wer wäre nicht schon einmal treuer Anhänger einer Person, einer Kultur, einer Sprache geworden durch die Liebe für sie?

 

Sprechstunde – die Sprachkolumne

In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.

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