Aktuelle Musik aus Deutschland
Popcast
© Max Threlfall
Dezember 2023
Diesen Monat mit Musik von:
OSTZONENSUPPENWÜRFELMACHENKREBS |
Tapete Records
Hotel Rimini |
Eigenproduktion
Kiki Bohemia |
Blankrecords
Boozoo Bajou |
Pilotton
Teichmann & Söhne |
Altin Village & Mine
Autor und Sprecher (Deutsch): Ralf Summer
Doch was vor mir liegt
Ist meine eigene Einsamkeit
Und ich denke manchmal,
dass wir auseinander gehen
liegt doch auch daran,
dass wir uns so gut verstehen
Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs „Von Haus aus allein“
Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs | © Simone Scardovelli
Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs war eine Schlagzeile des Mutterschiffs der deutschen Yellow Press, der Bild-Zeitung und dann, 1991, mit diesem einen gewissen Hang zur Ironie signalisierenden Bandnamen, zu einer der ersten Bands der gerade aufkeimenden sogenannten „Hamburger Schule“ zu werden. Das war die deutsche Antwort auf Lo-Fi und Generation X, und brachte ein Vielzahl sehr interessanter Band zutage, von denen die Ostzonensuppenwürfel eine der ersten und interessantesten waren. Jetzt, zum 25. Jahrestag des Erscheinens ihres fünften und letzten Albums
Leichte Teile, Kleiner Rock von 1998, rückt das Hamburger Label Tapete sie wieder ins Rampenlicht und veröffentlicht die Vinylversion des Albums, das damals nur auf CD erschienen war.
Hotel Rimini | © Max Threlfall
Aus Leipzig kommen
Hotel Rimini, die mit
Allein unter Möbeln gerade ihr erstes Album veröffentlicht haben. Die introvertierten deutschsprachigen Chansons des Sextetts sind für kontrastreiche Arrangements mit klassischen Streichinstrumenten wie Violine, Cello und Kontrabass aber auch den typischen Bandinstrumenten Klavier, Gitarre und Schlagzeug geschrieben. Die kämpferische Melancholie der Texte von Sänger Julius Förster, in denen es um moderne persönliche Phänomene wie gespielten Idealismus oder künstliche Selbstdarstellung geht, sind das Gegenwartselement der zeitlosen Songs und verliehen ihnen aktuelle Relevanz.
The world is full of lonely people
Afraid to make the first move
It’s the hardest part
Kiki Bohemia „Lonely People“
Kiki Bohemia | © Tobias Vethake
Kiki Bohemia, mit bürgerlichem Namen Karla Wenzel, hat stolze 15 Jahre gebraucht, um ihrem fantastischen Debutalbum
All the Beautiful einen Zweitling folgen zu lassen. Doch die Wartezeit hat sich gelohnt. Die psychedelischen Folk-Miniaturen der Berlinerin haben ihre morbide Düsterkeit behalten, wirken jetzt aber reifer und ausgefeilter. Nur selten brechen Synthesizer-Arpeggios durch die atmosphärischen Flächen, und Percussion fehlt weitgehend auf
Those Are Not Songs; vielmehr gibt sich Kiki Bohemia viel Raum für große Melodien und ihren mal ganz intimen, direkten und dann wieder grandiosen und distanzierten Gesang, wie beispielsweise bei der äußerst gelungenen Coverversion von Nicos
Frozen Warning.
Boozoo Bajou | © Horst Schäfer
Auf 300 Compilations sind wie vertreten, haben über 100.000 Alben verkauft und sind bereits seit fast 30 Jahren im Geschäft. Vermutlich hat jede*r schon einmal einen Song von
Boozoo Bajou gehört, und erinnert sich vermutlich nicht mehr daran, zu flüchtig wirken bisweilen die zurückgenommenen Sound-Texturen der Münchner. Zu Unrecht: Ihr entspannter, mit Elementen von Blues, Jazz, Soul und Latin gefärbter Elektroniksound enthält, im Gegensatz zu vielen eher farblosen Downbeat-Produktionen, eine Vielzahl an geschmackvollen Referenzen an ein weites Spektrum der Popkultur, wie zum Beispiel der häufig vorhandene Hauch von Dub Techno, der den Arbeiten Spannung verlieht und ihr Abgleiten in die Belanglosigkeit verhindert.
Teichmann & Söhne (ohne Vater) | © Lost on earth
Auf ihrem neuen Album
Flow haben sich die Gebrüder Andi und Hannes Teichmann mit ihrem Vater zusammengetan, und liefern als
Teichmann & Söhne den Beweis dafür, dass generationsübergreifende Projekte auch ohne Klischees funktionieren. Das Album ist entstanden aus Aufnahmen von Probesessions in den Jahren 2012 bis 2022, in denen die improvisatorische Kraft des Vaters, dem Jazzmusiker Uli, mit den Dub-Techniken und den modularen Synthesizer-Sounds der beiden jüngeren Teichmänner aufeinandertreffen. So harmonisch ging es in der Familie allerdings nicht immer zu – in jüngeren Jahren rebellierten Andi und Hannes gegen den jazzigen Freigeist des Vaters und gründeten eine Punkband, gefolgt von den gradlinigen Technoproduktionen, zum Beispiel für das Kölner Kompakt-Label, für die die Gebrüder Teichmann bekannt geworden sind. Doch jetzt kommen die Generationen zusammen und liefern ein überzeugendes Beispiel dafür ab, wie spannend sich unterschiedliche Ansätze künstlerischen Schaffens ergänzen können.
Popcast November 2023
Mit Musik von:
Pose Dia |
R.i.O.
F.S.K. |
Buback
All diese Gewalt |
Glitterhouse Records
Isabelle Pabst |
Isabelle Pabst
Spirit Fest |
Morr Music
Autorin und Sprecherin (Deutsch): Angie Portmann
Always getting closer to what we call our mind
Pose Dia „Ceiling"
Pose Dia | © pelle buys
Helena Ratka aka
Pose Dia erzeugt in ihrem zweiten Album
Simulate yourself eine außerirdische Atmosphäre, begleitet von poetischen Lyrics und abstraktem Elektro-pop. Der dunkel-rauchige Sprechgesang wird von zart schmelzenden Melodien und innovativem Electrosound unterlegt, was Helenas Tätigkeit als DJ verrät: Seit einigen Jahren ist sie schon Residentin in Hamburgs renommiertem Pudel Club. Zusammen mit Sophia Kennedy veröffentlichte sie unter dem Namen
Shari Vari 2019 das tolle Album
NOW. Auch ihre Arbeit als Filmemacherin und visuelle Künstlerin spiegelt sich in ihren musikalischen Produktionen wider: Das Musikvideo zu
Feuer erinnert an apokalyptische Science-Fiction-Szenen.
FSK | © Katja Ruge
Trotz der verschiedenen Hauptberufe der Bandmitglieder von
F.S.K. aka
Freiwillige Selbstkontrolle sind Kunsthistoriker Hoffmann, Schriftsteller Meinecke, bildende Künstlerin Melián und Fotograf Petzi der Band treu geblieben, die seit 1980 noch immer in Originalbesetzung spielt. Der Diskurs-Pop mit viel Witz und Schläue machte auch außerhalb Deutschlands auf sich aufmerksam. John Peel erklärte F.S.K. zu seiner deutschen Lieblingsband und so waren sie auch eine der wenigen Bands aus Deutschland, die eine Peel Session bei der BBC aufnehmen durfte. In ihrem neusten Album beschreibt der Titelsong
Topsy Turvy mit chaotischen Sprachbildern und Sounds eine verkehrte Welt, denn F.S.K. scheuen nicht vor Verwirrung und kulturellen Brüchen zurück.
Drei Ja
Max Rieger | © Erik Weiss
hre nach der Veröffentlichung seines letzten Albums
Andere, ist Max Rieger alias
All diese Gewalt am 10. November mit einem neuen Album
Alles ist nur Übergang zurück. In Max Soloprojekt kommt seine sanfte Seite zum Vorschein: Während er normalerweise als Gitarrist und Sänger für die Nerven auf der großen Bühne steht, klingen seine eigenen Produktionen eher ruhig und poetisch. Auch außerhalb des Rampenlichts ist Max Rieger erfolgreich und verdiente sich mit Soundtracks zu Filmen, wie
Berlin Alexanderplatz oder Produktionen für Drangsal, Ilgen Nur und Mia Morgen, den Titel des deutschen Rick Rubin.
Weißt du grade, wer du bist?
Isabelle Pabst, „Alice”
Isabelle Pabst | © Relja Vukelić
Die Kölner Musikerin
Isabelle Pabst verbringt schon seit den Kroatienurlauben ihrer Kindheit gerne Zeit im Wasser, genauer gesagt unter Wasser. Beim Tauchen kann sie entspannen, sich auf ihre Gedanken konzentrieren und alle Hektik ausblenden. So ist das Wasser nicht nur auf dem Cover ihres neuen Albums
Als die Stille aus der Zeit fiel, sondern auch in den mystischen, ruhigen und experimentellen Klängen ihrer Musik präsent. Ihre Songs kreieren eine geheimnisvolle, nächtliche Atmosphäre, deren einzelne Spuren die selbsternannte Perfektionistin in zahllosen Nächten teils dutzende Male aufgenommen hat, bis sie endlich zufrieden war.
Spirit
Spirit Fest | © Andreas Staebler
Fest ist eine Supergroup, zu der sich die Künstler*innen Markus und Micha Acher (The Notwist), Mat Fowler und die Bands Tenniscoats und Aloa Input zusammengeschlossen haben. Das japanische Avant-Psychedelic-Folk-Duo Tenniscoats entdeckte Acher im Rahmen einer Japan-Tour und war direkt von ihrem Klangkosmos begeistert. Sie versammelten sich im Jahre 2016 beim Münchner Alien Disko Festival und entschlossen sich zu dem gemeinsamen Projekt. Auf ihrem jetzt erschienenen vierten Album kommen die verschiedenen Charaktere der transnationalen Gruppe zum Vorschein: Die englischen und japanischen Songtexte werden mit melancholischen, übernatürlichen und tröstlichen Tönen untermalt, Gitarrenpop sanft mit Klavier und Elektronik ausgeschmückt. Ein Kleinod des versponnenen Folk-Pop.
Text: Laura Stretz
Popcast Oktober 2023
Mit Musik von:
Die Türen |
Staatsakt
Erregung öffentlicher Erregung |
Schlappvogel Records
Berliner Doom |
Berliner Doom
Chilly Gonzalez |
Gentle Threat LTD
Artur & Vanessa |
Wagram Berlin
Autorin und Sprecherin (Deutsch): Angie Portmann
Alles in die Luft sprengen!
[Tout faire sauter !]
Die Türen, « Grunewald is Burning »
Die Türen | © Gabriele Summen
Für deutsche Verhältnisse kann man bei Bandmitgliedern wie Maurice Summen, Chris Imler und Andreas Spechtl (Ja Panik) bei
Die Türen durchaus von einer Supergroup sprechen. Die Band, die gleichzeitig eine Plattenfirma ist, nämlich staatsakt, das beste, oder sagen wir diplomatisch eines der besten Labels des Landes, ist mittlerweile seit 20 Jahren im Musikbusiness und kündigt mit
Kapitalismus Blues Band jetzt ihr sechstes Album an. Wie der Name und die dazugehörige Videoauskopplung
Grunewald is Burning (siehe unten) vermuten lassen, feiern auch hier die Türen mit ihrem typischen lakonischen Humor voller Begeisterung die Apokalypse. Kantig und voll funky-er No Wave-Energie und im nervösen AI-generierten Schnipsel-look ein würdiger Vorbote auf ein weiteres Meisterwerk aus dem Hause Türen/staatsakt.
Erregung Öffentlicher Erregung | © Robin Hinsch
Ebenfalls in apokalyptischer Stimmung befinden sich
Erregung Öffentlicher Erregung auf
Speisekammer des Weltendes, ihrem zweiten Album. Ihr gradliniger Post Punk, eine perfekte Wiederbelebung der „Neuen Deutschen Welle“ der 1980er Jahre erinnert nicht zuletzt textlich an die Band Ideal, damals die größten Superstars der jungen deutschen Musikszene. Sängerin und Texterin Anja Kasten zeigt sich in absoluter Hochform, ob es nun um französische Speisen oder ihre Haare geht. Geschickt und mit viel sarkastischem Humor nutzen EöE das Alltägliche als Vehikel für die größeren Themen des Heute.
Berliner Doom | © Delia Baum
Gradliniger, wütender No Wave Punk kommt vom Trio
Berliner Doom, deren Debutalbum
Wer das hört ist Doom mit immerhin 12 Songs gerade mal 8 Minuten in Anspruch nimmt – einige sind noch nicht mal 30 Sekunden lang. Jede Idee wird, musikalisch wie textlich angerissen, kurz skizziert und dann ist der Song auch schon vorbei. Umwege oder Kompromisse kennt die Band offenbar nicht, und das ist auch vollkommen in Ordnung so.
Je vous French Kiss
Avec la langue de Molière
Chilly Gonzales, « French Kiss »
Chilly Gonzales | © Anka
Der kanadische Weltbürger Jason Beck alias
Chilly Gonzalez nennt zur Zeit das deutsche Köln sein Zuhause, gibt sich aber auf seinem neuen Album French Kiss frankophil. Kein Wunder, hat er doch zuletzt einige Jahre in Paris gelebt. Der begnadete Pianist und Songwriter hat eine Sammlung skurriler bis romantischer Neo-Chansons zusammengestellt, die man nebenbei auch hier in Montreal Gelegenheit haben wird live zu erleben. Er ist
Mitte Oktober im Théâtre Rialto zu Gast. Allerdings sollte man sich schleunigst um Karten bemühen – zwei der drei geplanten Shows sind bereits ausverkauft.
Artur & Vanessa | © Martin Lamberty
Die vielköpfigen (wir haben 8 gezählt)
Artur & Vanessa sind aus einem Literaturprojekt entstanden. Moritz Krämer und Francesco Wilking von der Band Die Höchste Eisenbahn schickten sich Textstücke hin und her, und mussten nach einiger Zeit feststellen, dass sich die Geschichte der beiden Protagonist*innen, (Überraschung…) Artur und Vanessa, die um ein Haar in einem Freizeitpark ihr Ende finden, eher für ein Konzeptalbum als für ein Buch eignen. Nach kurzer Suche fand sich eine Supergroup mit Mitgliedern von CATT, AnnenMayCantereit und anderen zusammen, die aus der skurrilen Geschichte ein opulentes, verträumtes, wunderschönes Popalbum mit einer Menge Soul gemacht haben.
Popcast September 2023
Mit Musik von:
Enji |
Squama
Vincent von Flieger |
Ghost Palace
Skuff Barbie |
365xx
LOBSTERBOMB |
Duchessbox
Wareika |
Ornaments
Autor und Sprecher (Deutsch): Ralf Summer
Everything is going wrong
But I really love this song
Lobsterbomb, „I Love This Song“
Enji | © Hanne Kaunicnik
Die mongolische Jazzsängerin
Enji hat ihr drittes Album
Ulaan in Unterföhrings Mastermix Studio für das einzigartige Münchener Squama-Label aufgenommen. Wie schon beim Vorgängeralbum
Ursgal, vereinen die vorwiegend ruhigen Kompositionen traditionelle mongolische Musik, Sprache und Storytelling mit heutigem Folk und Jazz. Ihr Trio erweitert sie jedoch bei dieser Veröffentlichung um zwei brasilianische Musikerinnen an Klarinette und Schlagzeug, die das stilistische Spektrum auf überraschende und faszinierende Weise bereichern. Ein außergewöhnliches Werk voller Schönheit und Erhabenheit.
Vincent von Flieger | © Aurelie Raidron
Der elektronische Folk von
Vincent von Flieger hat zauberhafte Qualitäten. Das Quartett aus Nürnberg vermengt auf ihrem zweiten Album
Mechanisms of Maximalism charmante Singer-Songwriter Kompositionen mit subtilen Flächen aus verfremdeten Blechbläsern, etherischen Chören, knochigem akustisch-elektronischem Schlagwerk und diversen Saiteninstrumenten. Die elf Songs, für die die Band insgesamt gerade mal 38 Minuten braucht, scheinen genau ihren Punkt zu treffen, alles wirkt durchdacht und präzise ausgeführt. Ein kleines, leicht zu unterschätzendes Meisterwerk, das hoffentlich trotzdem dort gehört werden wird, wo es verstanden wird.
Diese Stimme Kapital
Skuff Barbie, „Meine Freunde, eure Feinde“
Skuff Barbie | © Katharina Töws
Die musikalische Welt von
Skuff Barbie aus Münster ist auf ihrem Debutalbum
Passiflora, das kürzlich auf dem famosen 365XX-Label erschienen ist, zu bewundern. Mit ihrem deutschsprachigen Dancehall mit HipHop und R&B Einflüssen ist sie eine Ausnahmeerscheinung in der deutschen Musiklandschaft, und diese Rolle füllt sie mit enormem Selbstbewusstsein und großer künstlerischer Kompetenz. Ihr größtes Kapital, wie es auch in
Meine Freunde, Eure Feinde treffend heißt, ist ihre Stimme, die scheinbar mühelos durch die kurzen und abwechslungsreichen Tracks schwebt und die Mischung der verschiedenen Musikrichtungen zu ihrem ganz eigenen Stil macht.
Lobsterbomb | © Sophia Giesecke
Garagenrock wie in alten Zeiten ist das Markenzeichen des Berliner Trios
Lobsterbomb. Die schnittigen 3-Minüter ihres Debutalbums
Look Out, das gerade –wenn man will, in rotem Vinyl– erschienen ist. Die kurzen geradlinigen Songs mit den häufig mehr gerufenen als gesungenen Texten rund um das wilde Partyleben der Band, den kratzigen Gitarren und den wütenden Drums bleiben gut im Ohr. Dabei wäre es ein Fehler, die Drei als spaßige Retro-Truppe abzutun – hinter der bunten Fassade verbirgt sich ein spannender künstlerischer Gegenentwurf zur doch aktuell recht konformistischen Poplandschaft, die sich durchaus lohnt ernst zu nehmen.
Wareika | © Signe Reibisch
Aus Hamburg im Norden Deutschlands kommt das Trio
Wareika, deren ausufernde, versponnene Downbeat-Nummern wie ein Echo vergangener Sommer wirken. Als hätten sich die zeitlebens an südeuropäischen Stränden gehörten Gitarrenimprovisationen schnipselweise in den Sampler gestohlen, um jetzt, Jahre später, auf
Tizinabi neben soften Bassdrums, Klavieren und anderen Fundstücken aus der elektronischen Musikkiste gekonnt wieder zusammengesetzt zu werden. Und wie es sich gehört, gibt es neben den einzelnen Tracks auch den Album-Gesamtmix, denn beheimatet ist das Projekt auf dem schwer glaubwürdigen Berliner Afterhours-Label Ornaments.
Popcast August 2023
Mit Musik von:
JJ Whitefield |
Madlib Invazion Music Library Series
Kosmo Kint |
Toy Tonics
Palila |
Devil Duck
Sepalot |
Eskapaden
V.A. 365 XX Vol. 1 |
365xx
Autor und Sprecher (Deutsch): Ralf Summer
JJ Whitefield © Stefanos Notopoulos
In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich
JJ Whitefield als Gitarrist, Produzent und Bandleader schon an mehrere Subgenres abgearbeitet. Die Produktionen des Innovators in der experimentellen Kraut-, Deep-Funk- und Neo-Jazz-Szene sind von zeitloser Qualität. Schon seit seinen Teenagerjahren ist er besessener Plattensammler. Nun erreicht er mit seinem Kraut-Jazz-Debüt für Kyptox Music eine neue Ebene: Das neue deutsche Label soll zeigen, was sich im wachsenden Neo-Jazz-Underground so alles bewegt und schafft es dabei, äthiopischen Jazz mit psychedelischem Funk zu verbinden.
Welcome to the groove religion
Come join the groove religion
Leave your problems at the groove religion
Things get better at the groove religion
Kosmo Kint, „Groove Religion“
Kosmo Kint © Max Popisil
Kosmo Kint schreibt Songs, die das übliche von Kummer geprägte Narrativ von Sängern innerhalb des Genres der soulgetriebenen Tanzmusik verändern: mit einer humorvollen Perspektive behandeln sie Lebenslektionen und legen den Fokus auf die einfachen Dinge. In New York geborene und aufgewachsene Kosmo Kint besuchte renommierte Kunst- und Musikhochschulen und teilte sich als Backgroundsänger bereits die Bühne mit Größen wie Elton John, Alicia Keys und Winton Marsalis. 2016 verließ Kosmo NYC und zog in den kreativen Schmelztiegel von Berlin, in dem er noch heute ansässig ist. Zusammen mit der Toy Tonics Crew verbindet er seine Sensibilität für amerikanischen R&B, Soul und Hip-Hop mit dem charakteristischen, warmen Disco- und House-Sound der Gruppe.
Palila © duffé
Palila war früher der Name des Schwarzmasken-Kleidervogels – und ist heute der, den sich Sänger, Songwriter und Gitarrist Matthias „Mattze“ Schwettmann und Bassist Christoph Kirchner für ihre gemeinsame Band ausgesucht haben, als sie diese 2019 gründeten. Mit
Try To Fail Again veröffentlichten die Hamburger die zweite Single ihres im Mai erschienenen Albums
Mind My Mind.
Die Single handelt davon, dass es in Ordnung ist, zu scheitern. Zwischen all der inhaltlichen Düsternis wird der Sound von tröstender Harmonie und Beschwinglichkeit getragen: Die Vertonung eines vorübergehenden Glücks und eines eigenständigen Indie-Rock-Hits.
Your bus is late again
While you’re yelling at some guy
Who rides his bike on the wrong side of the road.
Palila, „Try To Fail Again“
Sepalot © Christian Brecheis
Wenn DJ
Sepalot in einem Club auflegt, garantiert das nicht nur ein volles Haus, sondern auch ein musikalisches Feuerwerk, frei von künstlerischen Zwängen. Mit einer wilden Mischung aus Hip Hop, Jazz, Soul und Funk zieht er schon seit Anfang der Neunziger eine Schneise der Begeisterung hinter sich her. Bei seinem Solodebüt-Album verpasste er neun AC/DC-Klassikern einen neuen, elektrischen Anstrich und ging – auf Einladung des Goethe-Instituts – auf eine umfangreiche Tour durch den Nahen Osten. Dabei hat er nie den Kontakt zu sich selbst verloren, legt zwischen seinen unzähligen Projekten immer wieder auf und lässt sich dabei nicht in eine musikalische Schublade stecken.
Mariybu & Skuff Barbie © 365XX
365XX wird 2020 geboren – in einem Moment, in dem alle Zeichen auf Veränderung stehen und es endlich mehr Debatten über Diversität vor und hinter der Bühne gibt. Es ist das erste Musiklabel in Deutschland, das ausschließlich weiblichen, Transpersonen und nicht-binären Artists eine Plattform gibt.
Neben der bereits hier im Popcast vorgestellten Künstlerin Die P sind insgesamt sieben weitere Artists auf der Platte
Vol. 1 vertreten – und jede davon ist einzigartig. Die musikalische Bandbreite könnte kaum größer sein: von Dancehall-geprägtem R&B über Elektro-Rap bis hin zu feministischem Battlerap ist alles dabei. Die Autorin, Musikpromoterin und Gründerin Lina Burghausen hat sich dafür mit dem deutschen Ableger der Plattenfirma Pias zusammengetan. Gemeinsam könnten sie eine Lücke besetzen, die es nicht nur in der hiesigen Rap-Landschaft gibt, sondern in der gesamten, nach wie vor patriarchalisch geprägten Musikindustrie.
Text: Regina Lang
Popcast Juni 2023
Diesen Monat mit Musik von:
Joyce Muniz |
Joyce Muniz Music
Daniel Haaksman |
Man Recordings
Raz Ohara |
Denature Records
Angela Aux |
Inselgruppe
MD Pallavi & Andi Otto |
Pingipung
Autor und Sprecher (Deutsch): Ralf Summer
Joyce Muniz | © Katja Ruge
Treffend
Zeitkapsel benannt ist das das zweite Album der in Brasilien geborenen und in Berlin lebenden DJ
Joyce Muniz, denn das im Lockdown geschriebene Album zeichnet einige Stationen ihrer Karriere nach. Bemerkenswert ist ihr Gespür für die besten Momente des Electro-House der 2000er Jahre, und ihre hörbare Freude an der großen Feierei. Ihr Kalender liest sich dann auch wie es sich gehört – von Berlin über Ibiza nach Australien und zurück nach Wien, wo sie in den 1990 Jahren gelebt hat. Und das ist nur der Juni, der Sommer hat noch nicht einmal richtig angefangen.
Esta es la Rumba
La Rumba de la Bruja
La Bruja que te embruja
La Bruja del Volcán
Daniel Haaksman „Bruja“ ft. MALAGÜERA + Los Bulldozer
Daniel Haaksman | © Man Recordings
Daniel Haaksman, Autor, Musiker und Labelbetreiber, haben es südamerikanische, insbesondere brasilianische Rhythmen angetan. Und dieser Leidenschaft geht er so konsequent nach, dass seine Veröffentlichungen niemals auch nur ein bisschen an das regnerische Berlin erinnern, sondern er sogar zahlreichen brasilianischen Musiker*innen eine Plattform für ihre internationalen Veröffentlichungen bietet. Aber es ist weit mehr als Musik für den Strandurlaub. Die meisterhafte Verbindung der Kulturen, die knallige Produktion lateinamerikanischer Stile wie Funk Carioca (von Haaksman in Baile Funk umbenannt), Soca oder Cumbia, aber auch afrikanischer Sounds wie auf seiner Compilation
African Fabrics, sind wichtige Beiträge nicht nur zur deutschen Musiklandschaft.
Raz Ohara | © Cristobal Rey
Raz Ohara ist kein Rocker. Das ist aber ziemlich die einzige Kategorisierung, die zu ihm einfällt, zu vielschichtig sind seine liebevoll zusammengetragenen Songcollagen, in denen er, so sagt man ihm nach, gern auch sich selber sampelt. Häufig trägt neben seiner ganz nah aufgenommen Stimme ein simples Wandklavier die Harmonien, und auf seinem neuen Album
Tyrants spielt auch Jazz zunehmend eine Rolle. Bei so viel analogem Charm verwundert ein
Blick auf seinen Katalog, der wesentlich durch elektronische Kollaborationen geprägt ist. Dieses neue Album knüpft hingegen an seine Arbeit mit dem Odd Orchestra an, mit dem er seine Liebe zu Singer/Songwriter-Genre ausleben konnte, und gefällt in seiner gut ausbalancierten Mischung aus Melancholie und Verklärung.
Angela Aux | © Milena Wojhan
Instinctive Travels on the Paths of Space and Time, das neue Album des Münchner Autoren, Poeten, Musikers und (studierten) Politologen
Angela Aux, kommt als Trilogie daher, flankiert von einem Science Fiction-Roman und einem Theaterstück (
Introduction To The Future Self, uraufgeführt letztes Jahr in den Münchner Kammerspielen). Aber schon für sich genommen ist der Weird Folk des Bassisten und Sängers der Münchner Band Aloa Input wert, angehört zu werden. Seine ausufernde Sci-Fi-Erzählung eines Aliens mit existentiellen Fragen zum Universum ist ein geschmeidiges, mit Luftigkeit und unglaublicher Sanftheit produziertes Werk, das mit Synthie-Slides, Streicher-Melodie-Bögen eine tröstende Zukunft zeichnet, in der die Fragen der Menschheit und Menschlichkeit zum Wohl aller Aliens und Nicht-Aliens gelöst werden können.
Let the ships of the mind sail, dear clouds and stars
MD Pallavi & Andi Otto, „Prayer To The Cloud“
MD Pallavi & Andi Otto | © Andi Otto
Eine ganz besondere Zusammenarbeit sind die klassische Hindustani Sängerin
MD Pallavi aus Bangalore
& der Hamburger Komponist und DJ
Andi Otto eingegangen. Nachdem sie sich im bei einer Theateraufführung in Berlin kennengelernt und im Rahmen einer Residenz in Indien gemeinsam Musik zu machen begonnen hatten, entstand eine sehr fruchtbare jahrelange künstlerische Kollaboration. Auf
Songs for Broken Ships zeigt sich eine aus zwei ganz unterschiedlichen Herkünften verwobene Vision von elektronischer Popmusik, die geprägt ist von den in der indischen Sprache Kannada vorgetragenen Gedichten Pallavis und Ottos elektronischen Produktionen, die man mal Slow House, mal Folktronica nennen könnte. Dabei entwickelt das interkulturelle Werk eine intensive Schönheit, in der aus den Geschichten der Gedichte musikalische Erzählungen werden.
Popcast Mai 2023
mit Musik von:
Robocop Kraus |
Tapete Records
Hendrik Otremba |
Trocadero
Doc Sleep |
Tartelet
Kid Empress |
Frische Luft
Jungstötter |
Pias
Autorin und Sprecherin (Deutsch): Angie Portmann
Everything in me is new and light like air
Every thing is freed
It is new and free of care
Jungstötter, „Air“
The Robocop Kraus | © David Häuser
Die Nürnburger
Robocop Kraus, Veteranen des deutschen Alternativpop, sind zurück. Ihr neues Album
Smile weht wie ein frischer Wind durchs Zimmer, mal treibend wie eine 1960er-Jahre Garagenband, mal reduziert und verschmitzt mit lustigen Synthesizer-Linien, und dann wieder großzügig ausgepolstert mit warmen, freundlichen Westcoast-Anleihen. Was diese Band ausmacht, ist ihr treffsicheres Gespür für humorvolle Observationen: das Album steckt voller kleiner und großer Geschichten, die den musikalischen Ausdruck validieren. Das bisher beste Album einer schlauen Band. Hier zum Beispiel im Devo-Modus:
Hendrik Otremba | © Kat Kaufmann
Hendrik Otremba ist der Sänger der Band
Messer und hat gerade sein erstes Soloalbum veröffentlicht. Der Maler, Autor und Dozent (usw.) versteht Musik als eine seiner gleichberechtigt nebeneinander existierenden Ausdrucksformen; eine Idee kann durchaus zu einem
Gemälde, einem Roman oder eben zu einem Song werden. Sein Album
Riskantes Manöver geht allerdings, wie der Name andeutet, einige Risiken ein: Die vorgetragenen Gedichte sind voller geheimnisvoller Andeutungen und kryptischer Halbsätze und werden mal mit zitternder Stimme gesungen, mal gerufen oder geflüstert. Bei all der Theatralik ist bisweilen offen, ob es sich nicht vielleicht um Satire handelt. Musikalisch ist das Werk allerdings makellos und lotet die verschiedensten Ausprägungen düsterer Genres von industrieller Brutalität bis zum tiefgängigen Chanson aus.
Doc Sleep | © Lindsey Dodge
Sehr viel bescheidener geht Melissa Maristuen aka
Doc Sleep zu Werke. Die Berlinerin ist als Betreiberin eines Labels normalerweise mit den Karrieren Anderer beschäftigt. Jetzt aber hat sie
Birds (in my mind anyway) abgeliefert, ihr Debutalbum. Grob als Ambient Techno einzuordnen, zeigt sich die Stärke ihrer Musik in ihrer Subtilität, aber auch ihrer Wandlungsfähigkeit. Eines gilt immer – Zeit scheint nie eine Rolle zu spielen, und selbst wenn mal ein Breakbeat durch die traumhaften Sequenzen dringt, bleiben die Kompositionen geerdet und es entsteht das wohlige Gefühl, einem zeitlosen Meisterwerk beizuwohnen.
As far as I can tell, everyone loves you with your silly heart, your pretty smile
Kid Empress, „Forever Young“
Kid Empress | © Manuel Vescoli
Kid Empress aus dem kreativen Umfeld des Frische Luft-Labels fallen als erstes durch ihr konsequentes Artwork auf, das eine Vorliebe für abstrakte Acrylgemälde offenbart. Musikalisch allerdings zeigen sie sich offener. Die Wahl der Arrangements ordnen sie konsequent ihren Kompositionen unter, was vor allem deswegen gelingt, da die Mitglieder gemeinsam Jazz studiert haben. Jazz spielt bei Kid Empress allerdings keine große Rolle, ähnlich wie bei der US-Band Midlake wendet sich das Quartett lieber dem Alternative Pop-Universum zu.
Jungstötter | © Clemens Schmiedbauer
Wohl kaum ein zweites Album wurde so lang und mit Spannung erwartet wie das von Fabian Altstötter alias (haha)
Jungstötter. Sein Debutalbum
Love Is, erschienen im Jahr 2019, etablierte den Bariton als eine Art deutschen Scott Walker, dessen opulente, aber durchdachte Orchesterarrangements und atmosphärische Lyrik der deutschen Musikgeschichte eine bisher unbekannte Facette hinzufügte. Sein geschmackvollen Pathos und die wohlige Ernsthaftigkeit seines Vortrags sind ihm geblieben:
One Star knüpft dort an, wo der Vorgänger das Publikum hinterlassen hat. Die langen, ruhigen Kompositionen versöhnen mit der langen Wartezeit und entfalten eine magische Sogwirkung, aus der es kaum ein Entkommen gibt. Dabei ist es homogener und zugänglicher als das Debütalbum, was dem kommerziellen Erfolg des Albums ohne Zweifel zuträglich sein wird.
Popcast April 2023
Niels Frevert | © Dennis Dirksen
mit Musik von:
Feh |
Trikont
Cava |
Buback
Niels Frevert |
Grönland Records
Tristan Brusch |
Four Music/Tautorat Tonträger
Zoe Mc Pherson |
SFX
Autorin und Sprecherin (Deutsch): Angie Portmann
FEH | © Gerald von Foris
Der Trip Hop der 90er Jahre ist zurück - allerdings in neuem Gewand: Mit seinem Album
Right on Song liefert das aus Bayern kommende Trio
FEH ein besonderes Debüt. Bassist Oliver da Coll Wrage und Schlagzeuger Manuel da Coll dürften vielen als (Ex-)Mitglieder der bayrischen Pop-Brass Band LaBrassBanda bekannt sein. Wer bei FEH allerdings Lederhosen und Mundart erwartet liegt gehörig falsch: Das Trio um Sängerin Julia Fehenberger liefert lässig eleganten Trip Hop, der mal minimalistischer und mal souliger daherkommt. Eindrucksvoll – nicht zuletzt aufgrund der geschulten Stimme Fehenbergers, die scheinbar mühelos über die Arrangements ihrer Band-Kollegen hinweggleitet.
Tristan Brusch | © Rebecca Kraemer
Am Wahn angekommen, aber keineswegs verrückt geworden ist Songwriter
Tristan Brusch mit seinem neuesten Album. Als Gratwanderung zwischen Chanson und Popmusik gepaart mit viel Drama führt uns Selbiges zurück in das Frankreich der Sechzigerjahre. Wie bei den großen französischen Chansonniers, darf auch bei Brusch eine gewisse Portion Herzschmerz nicht fehlen. So bildet sein neuestes Album die Facetten toxischer Liebesbeziehungen ab. Zigarettenrauch und Rotwein lassen sich förmlich riechen, während Bruschs Stimme klar über Streicher-Arrangements und melancholischen Klavier- und Gitarrenklängen schwebt.
Just because I’m not a man
I cannot be objective, I can’t control my feelings,
I am just a casualty in your fucking life
CAVA, „Touch my skin“
CAVA | © Anna Wyszomierska
Benannt nach dem spanischen Schaumwein zeigt sich das Berliner Duo
CAVA auf seinem Debüt-Album
Damage Control ebenso quirlig wie sein perliger Namensgeber. Gitarristin Peppi Ahrens und Schlagzeugerin Mela Schulz liefern mit eingängigen Melodien, trotzigen Texten und viel Feedback Garage-Punk wie er im Buche steht. Hin und wieder schwingt dabei eine Brise Feminismus und Kapitalismuskritik mit. Das Duo findet seine Inspiration unter anderem in der Riot Girrrl Bewegung. Die Musik von CAVA ist energiegeladen und auch bei der Veröffentlichung des Albums konnte es nicht schnell genug gehen:
Damage Control haben sie in Eigenregie schon in Berlin veröffentlicht, bevor sie zu ihrem Hamburger Label Buback kamen.
Niels Frevert | © Dennis Dirksen
Mit seinem mittlerweile siebten Album gehört Nordlicht
Niels Frevert bereits zu den „alten Hasen“ der Deutschpop-Landschaft.
Pseudopoesie folgt auf sein 2019 veröffentlichtes Album
Putzlicht und ist anders als der Titel vermuten lässt mitnichten „pseudopoetisch“. In gewohnter Frevert-Manier werden Worte gedreht und gewendet, Wörter wie „Waschbeckenrand“ werden kurzerhand zum Song-Titel umfunktioniert und eine Person kann auch schon mal „flatterhaft wie Flatterband“ sein. Wie auch
Putzlicht ist
Pseudopoesie im Vergleich zu früheren Alben deutlich tanzbarer, was sich in Titeln wie
Fremd in der Welt oder
Kristallpalast zeigt. Einen Anteil daran hat vermutlich auch Freverts neuer Produzent Tim Tautorat, der vor allem für seine Zusammenarbeit mit Deutschpop-Acts wie AnnenMayKantereit, Provinz oder Faber bekannt ist.
Ich sing' in einem Käfig, in dem der Algorithmus nicht greift
Niels Frevert, „Fremd in der Welt“
Zoë McPherson | © Lucie Rox
Von den Niederlanden, über Kasachstan bis hin nach Uganda:
Zoë McPhersons kreatives Schaffen als DJ, Performer und Multimedia-Artist führte McPherson schon in die verschiedensten Länder. Das neueste Album
Pitch Blender ist von experimentellem Techno geprägt und wurde über das eigene Label SFX veröffentlicht, das McPherson gemeinsam mit Alessandra Leone gegründet hat. SFX ist nicht nur ein Label, sondern soll gleichzeitig auch eine Plattform für audiovisuelle Künste sein und Raum für Experimente und Kreativität bieten. McPherson probiert sich gerne aus und diese Vorliebe spürt man auch auf
Pitch Blender.
März 2023
Mit Musik von:
Harmonious Thelonious |
Bureau B
Gemma Ray |
Bronze Rat Records
PASCOW |
Rookie Records & Kidnap Music
Mira Mann |
Euphorie Records
Sam Goku |
Permanent Vacation
Autor und Sprecher (Deutsch): Ralf Summer
Harmonious Thelonious | © Foto Schiko
Stefan Schwander hat sich in den letzten Jahren als
Harmonious Thelonious eine ganz besondere Nische geschaffen, indem er afrikanische, südamerikanische und mittelöstliche Rhythmen mit minimalistischer Elektronik mischte. Auf seinem neuen Album
Cheapo Sounds kehrt er all dem den Rücken zu. Reduziert auf ein einziges Instrument, dem vor rund einem Jahrzehnt erschienenen (und keineswegs billigen) Synthesizer Monomachine der schwedischen Firma Elektron, hat er eine auf wenige Spuren reduzierte Sammlung von Songskizzen geschaffen. Diese wirken bisweilen äußerst spröde, entwickeln aber einen hypnotischen Zauber, dem man sich nur schwer entziehen kann.
Elektron MonoMachine | © Elektron
Sam Goku | © Sam Goku
Techno und Leftfield House markieren das Schaffen des Münchner Djs und Produzenten
Sam Goku. Während Auftritte in einigen der bekanntesten Clubs Europas und sein eklektisches Set bei der letzten Ausgabe der englischen Secret Garden Party ihn international machten, hat er nie aufgehört, seine Fähigkeiten als Mixer und Selektor und auch als Produzent zu verfeinern. Das man dem neuen Material, Vorboten auf sein jetzt erscheinendes zweites Album
Things We See When We Look Closer, auch deutlich anhören kann.
Wir laufen nebeneinander 1,5 Meter Abstand
Mira Mann, „Abschied“
Mira Mann | © Rosanna Graf
Zurückgenommen, überlegt, abstrakt und poetisch, so wirkt die Musik auf
Mira Manns Debutalbum
weich. Die als Autorin unter anderem für das Kulturmagazin
Das Wetter und die
Süddeutsche Zeitung tätige Künstlerin spricht ihre kühlen Betrachtungen zu knochigem, weitgehend elektronischem und oftmals leierndem Sound. Das Tempo ist durchweg moderat, kein Ton zuviel, man spürt wieviel Überlegungen in die Produktion investiert wurden. Aufmerksame Popcast-Hörende erkennen in ihr eines der Gründungsmitglieder der Münchner Post Punk-Band Candelilla, deren zweites Album von keinem geringeren als Steve Albini produziert wurde. Ein fantastisches Werk.
And we will never sympathize with these iron jaws
Until the coast is clear – hide
Grow stronger
Colder
Gemma Ray, „Be Still“
Gemma Ray | © Fredrik Kinbom
Gemma Ray & The Death Bell Gang ist ein kantiges Experiment cineastischer Electronica, in gewisser Weise eine Abkehr von dem sonst für sie typischen geschmeidigen Pop-Noir. Aber auch bei der
Death Bell Gang mischen sich das Traurige und das Böse mit Zärtlichkeit und Sehnsucht, und irgendwo schwingt immer eine Glocke mit. Die in Großbritannien geborene Wahlberlinerin blickt schon auf eine Vielzahl von Veröffentlichungen zurück, zeigt sich aber auch auf diesem neuesten Werk erfrischend und neugierig.
Pascow | © Simon Gelbert
Pascow, das schon über 20 Jahre alte Punk-Projekt der Brüder Alex und Ollo Thomé aus dem beschaulichen Rheinland gehören zu einer sehr stabilen Szene des deutschsprachigen Punkrocks, der allerdings außerhalb des deutschsprachigen Raums kaum Gehör findet. Dafür in Deutschland umso mehr – ihr letztes Album konnte sich zur Veröffentlichung im Jahre 2019 in den Top 50 der Albumcharts platzieren. Vom Mainstream sind sie dennoch meilenweit entfernt – eigener Aussage zufolge sind sie im Laufe der Jahre eher härter als sanfter geworden.
Popcast Februar 2023
Diesen Monat mit Musik von:
DJ Gigola |
Live From Earth Klub
Dobrawa Czocher |
Modern Recordings
Power Plush |
Beton Klunker Tonträger
Yosa Peit |
Firerecords
Wildes |
Kommando-84
Autorin und Sprecherin (Deutsch): Angie Portman
Haven’t you heard of gravity?
It’s making it hard to move forward, let me say
It’s holding us close to the places
In which we live, in which we stay.
Power Plush, „Heavenly“
Power Plush | © Janine Kuehn
Der Osten Deutschlands ist meist nur aus den falschen Gründen in den Nachrichten. Abwanderung, Rechtsradikalismus, Stagnation sind die häufigsten Assoziationen, die in den Medien geweckt werden. Dabei ist es leicht zu übersehen, wie lebendig die Musikszene in den Städten ist, deren Bevölkerung sich nach und nach durch die ausgezeichneten Universitäten Ostdeutschlands verjüngt. So hat auch Chemnitz eine lebendige Subkultur, und die vierköpfige Indiepop-Truppe
Power Plush ist der beste Beweis dafür. Auf
Coping Fantasies stellt sich eine junge Band vor, die nicht nur schon seit Jahren in der Umgebung reichlich Liveerfahrung sammeln konnte, sondern auch bei den VUT Awards im letzten Jahr als „Bester Newcomer“ ausgezeichnet wurde.
Yosa Peit | © Sinistra Ging
Die fantastische
Yosa Peit, deren Album
Phyton im November des letzten Jahres erschien, sieht die Musik als fehlerfreien Raum. Durchweg spürt man bei den Tracks des Albums einen Freigeist, die Lust am Experimentieren und die Abwesenheit von Furcht. Die minimale Funkiness ihrer Tracks, die Vielzahl der teils merkwürdigen Instrumente, das Klickern ferner Hi-Hats sind ein selten erfrischendes Hörerlebnis. Dazu passt es, dass sie neben ihrer künstlerischen Tätigkeit Workshops für Mädchen und nicht-binäre Menschen unter dem Projektnamen Error Music organisiert, bei denen musikalische Technik ergebnisoffen ausprobiert und frei von Erwartungen werden kann.
Heute bin ich eingeladen auf einer Party in der City
Wildes, „Leger in Schwarz“
Wildes | © Rosanna Graf
Electroclash, aber auch Neue Deutsche Welle-Retrogefühle kommen bei dem Münchner Duo
Wildes auf. Der hier vorgestellte Track, der Opener ihres Debutalbums
Klischee ist eine einfach gehaltene Elektropop-Nummer mit unterkühltem Gesang und luftiger Kapitalismus-Kritik. Live sind die beiden aus Zürich und München vor allem in ihren Heimatstädten präsent gewesen, unter anderem als Support von Deutschlands Indierock Helden Die Nerven und Tocotronic.
DJ Gigola | © Neven Allgeier
„Wir leben in einem Zeitalter des Wiederverwertens“, so Pauline Schulz aka
Dj Gigola im
Interview mit der deutschen Musikzeitschrift
Groove, und es ist die Rede von verschiedenen Einflüssen und Offenheit, der lustigen DJ Gigola und der ernsten Paulina, von Pop und Techno, Trance, HipHop und Clubkultur. Aber was in einem ausgedehnten Liveset spannend, überraschend und schlau wirkt, wird auf Tracklänge verdichtet zur Herausforderung, die nicht immer gelingt. Auf
Fluid Meditations aber, ihrem Debutalbum, arbeitet sie mit aus Mediationen bestehenden gesprochenen Passagen, was den Tracks eine Extraportion Originalität verleiht.
Dobrawa Czocher | © Modern Recordings
Mit ihrem Debutsoloalbum
Dreamscapes erweitert die polnische Cellistin
Dobrawa Czocher die Grenzen der Neoklassik um elektronische Klänge, meisterhaft aufgeschichtete Atmosphären, die aber stets hinter den diversen Streicherspuren zurückbleiben. Das Album bleibt immer fest in der Klassik verankert, potenziert aber auf effektvolle Weise die meditative Stimmung der spiralförmig evolvierenden Tracks. Wie der Albumtitel suggeriert, soll es inhaltlich um die Welt der Träume und ihre Rolle für das Unbewusste gehen, aber außerhalb dieser esoterischen Thematik bietet sich ein äußerst geerdetes, ansprechendes und kompetent und anspruchsvoll arrangiertes Kleinod.
Popcast Januar 2023
Diesen Monat mit Musik von:
Die P |
365xx
Tom Liwa |
Tom Liwa
Pole |
Mute
Popp |
Squama
Zucker |
Krokant Music
Autor und Sprecher (Deutsch): Ralf Summer
Die P | © Daniel Reineke
Vor über einem Jahr wurde an dieser Stelle eine Künstlerin vorgestellt, die damals zwar nicht im strengen Sinne „neu“, aber noch weitgehend unbekannt war. Das hat sich inzwischen ein wenig geändert: Aus der HipHop-Szene der ehemaligen deutschen Hauptstadt Bonn heraus hat sich
Die P schon seit 2017 eine treue Fanbase erarbeitet, jetzt geht es nach einem fulminanten Auftritt auf dem
Splash Festivalmit neuem Labelumfeld in die nächste Runde. Schon die zweite EP des vergangenen Jahres erschien auf dem Label 365XX, das ausschließlich als weiblich identifizierende Acts unter Vertrag nimmt. Labelchefin Lina Burghausen betreibt auch den beliebten Blog
365FemaleMCs, dessen Name Programm ist: Ein Jahr lang wurde täglich eine neue Musikerin vorgestellt.
Me again, allow me to pick up where I left off
Lina Burghausen
Tom Liwa | © Saskia Lippold
Ohne
Tom Liwa wäre die deutschen Musikszene bedeutend ärmer. Der ehemalige Kopf der wunderbaren Flowerpornoes ist mit dem 1994 erschienenen
Red‘ nicht von Straßen, nicht von Zügen für eines der schönsten deutschsprachigen Alben überhaupt verantwortlich, und hat in der Tradition des leichten, poetischen Folks sowohl mit Band als auch als Solokünstler weitergemacht. Jetzt veröffentlichte er ein, wie er selbst sagt „weiteres Alterswerk“, das mit neuer Band und diversen tollen Features glänzt.
Pole | © Kai von Rabenau
Ebenfalls ein Fixpunkt in der deutschen Kulturlandschaft, und Montrealer*innen durch seine vielzähligen Besuche auf der MUTEK bekannt, ist Stefan Betke aka
Pole. Der Meister des dubbigen Technosounds ist aber nicht nur als Musikschaffender, sondern auch als gewiefter Mastering-Engineer (Dubplates & Mastering) und Labelbetreiber (~scape) bekannt. Mit dem eben erschienenen
Tempus hat Pole ein weiteres stilsicheres und technisch ausgefeiltes listening-Album abgeliefert, das sich nahtlos in sein Schaffen einfügt.
I like it when things are allowed to appear and develop in the moment. In the studio I have everything ready to go. I want to be able to start right away and see where it takes me.
Simon Popp im Webmagazin „15Questions“
Simon Popp | © Manuel Nieberle
Eine äußerst Interessante Entdeckung ist der Münchner Schlagzeuger Simon
Popp, der auf seinem mittlerweile dritten Album auf die Suche danach geht, was man mit metallener Percussion so alles anstellen kann. Herausgekommen ist eine Sammlung komplexer, aber wunderschöner Kompositionen. Helle und dunkle, organische und synthetische Klänge sind die Mittel, mit denen Popp auf
Blizz die Grenzen seiner Instrumente auslotet. Eine fantastische Entdeckung für echte Fans organischer Elektronik, minimaler Percussion und Instrumentalmusik von (quasi) Jazz bis Neoklassik ist das Label
Squama, ebenfalls Münchner.
Schlag zu, schlag zu
Zucker
Zucker | © Nils Hansen
Rauer geht es bei den Hamburger Elektropunks von
Zucker zu. Das queerfeministische Duo Pola und Chris (aka Gigolo Tears) haben bereits weite Teile der Hamburger Musikprominenz, darunter Frank Spilker (Die Sterne), Sophia Kennedy und Stella Sommer als Fans gewinnen können, und öffnen sich mit ihrem selbstbetitelten Debutalbum nun endlich auch dem Massenmarkt. Ihre minimalistisch arrangierten 3-Minuten Elektrohymnen haben auf jeden Fall das Potenzial, das alternative Deutschland zu karamellisieren.
Diesen Monat mit Musik von:
Derya Yıldırım & Grup Şimşek |
Les Disques Bongo Joe & Catapulte Records
Malva |
Trikont
Mulay |
Groenland
To Rococo Rot |
Bureau B
What Are People For? |
Alien Transistor
Autor und Sprecher (Deutsch): Ralf Summer
Derya Yildirim & Grup Şimşek | © Allegra Kortlang
Die Hamburger Sängerin
Derya Yildirim und ihre international besetzte
Grup Şimşek sind eine absolute Ausnahmeerscheinung in der deutschen Musiklandschaft. Auf den Spuren der türkischen Wurzeln ihrer Familie wandelt Ihr traditioneller anatolischer Folk und steht vor der schweren Aufgabe, eine respektvolle und authentische Version traditioneller Musik in eine in der Gegenwart relevante Form zu gießen. So finden sich auf
Dost 2 auch experimentellere, psychedelische und funkige Klänge. So macht „Volksmusik“ Spaß.
What Are People For? | © Enid Valu
Wozu sind Leute eigentlich gut? Dieser existentiellen Frage gehen Anna McCarthy und Manuela Rzytki bei ihrem Projekt
What Are People For? nach. Humorvoll, poetisch und politisch möchten sie ihre fröhlichen, einfallsreichen und rauen Tracks gelesen haben. Die geloopten Beats, die meist gesprochenen (gerufenen) Texte und allerlei analoge Elektronik schaffen eine anarchistische Energie, der man sich nur schwerlich entziehen kann. Erschienen ist das selbstbetitelte Debutalbum mit „dystopischer Tanzmusik“ jetzt auf Alien Transistor, dem Label der deutschen Indierock-Helden Notwist.
I’ve lived a thousand lives to get here
Failed a thousand tests
Tried my best, but this path takes as long
as my sins to confess
Mulay, „Ivory“
Mulay | © Shauna Summers
Nach dem Jazzstudium an der ArtEZ University of Arts in Arnheim zog die gebürtige Münchnerin
Mulay nach Berlin, von wo aus die talentierte Sängerin seit dem Jahr 2020 eine Reihe von Veröffentlichungen produziert hat, die auf eine große Zukunft hoffen lassen. Der soulige R&B auf Ivory behauptet sich mühelos auch gegen die stärkste internationale Konkurrenz, die selbstbewussten Kompositionen sind absolut makellos umgesetzt und der Gesang scheint bisweilen aus einer anderen Welt zu kommen. Die von Mulay selbst komponierten fünf Tracks mäandern mühelos zwischen kontemplativer Ballade und experimentellem Rhythm & Blues. Beeindruckend.
Malva | © privat
Die erst 20-jährige
Malva Scherer hat sowohl ihren Schulabschluss als auch ihr erstes Album
Das Grell in meinem Kopf pandemiebedingt zuhause machen müssen. Sie und ihr partner-in-crime Quirin Ebnet sind bis zur Veröffentlichung des Albums noch nie aufgetreten, haben aber reichlich Übung im Schreiben und Produzieren luftigen Indie-Pops sammeln können. Vielleicht passenderweise nennt Malva die Youtube-Sensation Dodie Clark als Einfluss, was aber nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass man es hier mit einem riesigen Talent zu tun hat. Während das Album in seinem Abwechslungsreichtum stellenweise noch etwas unentschlossen wirkt, ist die alle Arbeiten durchdringende poetische Melancholie und natürlich der mehr als kompetente Gesang eine perfekte Grundlage für eine erfolgreiche Karriere. Ob allerdings die lederhosigen Trikont das richtige Labelumfeld für die junge Sängerin sind, könnte man bezweifeln.
It was something new, something that sounded like it could only be done in Germany; and, as I discovered later, could only be done by guys who were born in the east of Germany in the days before the wall came down.
Daniel Miller (Mute Records) über To Rococo Rot
To Rococo Rot | © Wyndham Wallace
John Peel Sessions sind für Band aus deutschen Landen ein eher seltener Ritterschlag. Stefan Schneider und Robert und Ronald Lippok haben es als
To Rococo Rot geschafft. Bereits 1997 und 1999 wurde die Band nach London geholt, um dort ihren einzigartigen verspielten Sound zu präsentieren. Nicht ganz zu Unrecht kommt bei der Beschreibung der Musik immer wieder der Begriff Krautrock ins Spiel, aber das greift erheblich zu kurz. Der hypnotisch-trippige Postrock des Trios ist wie gemacht für diese Peel-Sessions, deren Veröffentlichung erst mit einer unerklärlichen Verspätung von über 20 Jahren erfolgt. Aber besser spät als nie, das sagte ja schon Konfuzius.
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