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Pop und Elektronische Musik 2022
Nie wieder Krieg

Bild der Gaddafi-Gals
Gaddafi-Gals | Foto (Ausschnitt): © Marcel Moos

2022 war geprägt von Widersprüchen: Während es auf Festivals und bei ausverkauften Stadionkonzerten so wirkte, als sei alles wieder wie vor der Corona-Pandemie, wurden kleinere Konzerte und Touren reihenweise abgesagt – wegen mangelnder Nachfrage. Ökonomisch war es ein angespanntes, musikalisch ein umso spannenderes Jahr – von der Debatte um den sexistischen Partyschlager „Layla“ bis hin zu krachigen Grunge-Hymnen und Retro-R&B, der genau zum Y2K-Trend passte. In den USA schrieb derweil Kim Petras Geschichte: als erfolgreichste deutsche Popsängerin seit Nena.

Von Jan Kedves

Vor einem Jahr bestand die Hoffnung, mit zunehmender Immunisierung der Bevölkerung gegen das SARS-CoV-2-Virus könne das Nacht- und Konzertleben, das durch die Corona-Lockdowns monatelang lahmgelegt war, endlich zur Normalität zurückkehren. Diese Hoffnung hat sich zerschlagen – nicht nur, weil sich die Menschen in Deutschland weiter recht impffaul zeigen (erst 62,5 % von ihnen haben, Stand Dezember 2022, ihren Impfschutz mit einer mindestens dritten Dosis boostern lassen). Vor allem zeigte sich in den Clubs, Konzerthallen und Stadien eine vermeintlich widersprüchliche Situation, nennen wir sie: Event-Maximalismus.
 
Konzerte in Arenen waren in diesem Jahr oft restlos ausverkauft, etwa die der Band Rammstein. 70.000, 90.000, 130.000 Fans im Wörthersee Stadion in Klagenfurt, im Hamburger Volksparkstadion, im Olympiastadion in Berlin. Der brachiale Teutonen-Metal mit Pyrotechnik-Spektakel wurde gefeiert, als hätte es diese Pandemie nie gegeben. Auch auf dem Tempelhofer Feld in Berlin, bei den Konzerten der Punk-Veteranen Die Ärzte vor je 60.000 Fans: Jubelstimmung, Mitgrölchöre, wilde Moshpits. Aber bei kleineren Konzerten sah es oft trist aus: miese Ticketnachfrage, gähnende Leere, teils sogar Absagen. Und Hilferufe: „Seit der Lockerung der Corona-Regeln läuft wider Erwarten der Kartenverkauf bei vielen kleinen Veranstaltungen oft schleppend“, schrieben die Macher*innen des Import Export, eines kleinen Münchner Veranstaltungsorts, an dem neben Konzerten auch Lesungen und Performances stattfinden. Sie sahen sich gezwungen, im Herbst eine Crowdfunding-Kampagne zu starten, über die mehr als 25.000 Euro zusammenkamen, die das Überleben des Ortes vorerst sichern. 

Das Publikum drängte also eher in die Menge (90.000 bei Rock am Ring, 75.000 beim Technofestival Fusion), aber es machte einen Bogen um das Segment, das man popkulturellen Mittelbau nennen könnte. Auf diese Situation machten in Interviews, auf Social Media und in Pressemitteilungen auch Künstler wie Jens Friebe, Rocko Schamoni und die Band Tocotronic aufmerksam. „Wir wollen ganz ehrlich sein: Im Augenblick sind die Vorverkäufe zu schwach, als dass sich eine Durchführung der Tour für die Clubs, die örtlichen Veranstalter*innen, uns und unsere Crew gerechnet hätte“ – mit diesen Worten sagten Tocotronic Teile ihrer geplanten Tour zu dem neuen Album Nie wieder Krieg ab. Das erschien Ende Januar, einen Monat vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine und wirkte wie die Konsensmusik zur Zeit. Vor der Pandemie wäre es undenkbar gewesen, dass eine der erfolgreichsten deutschen Indierock-Bands einmal Probleme haben könnte, Säle zu füllen. Jetzt reihte sich die Nachricht ein in einen Strom ähnlicher Hiobsbotschaften von anderen Bands.

Woran es lag? Sicher nicht allein daran, dass in einem Stadion oder auf einem Festival unter freiem Himmel weniger Viren durch die Luft fliegen als in geschlossenen Clubs oder Konzerthallen. Und eher auch nicht daran, dass 2022 offenbar noch jene Tickets verfeiert wurden, die man sich vor der Pandemie schon gekauft hatte. Nein, Corona scheint bei vielen Menschen eine sehr starke Sehnsucht nach dem größten gemeinsamen Nenner geweckt zu haben, nach dem Motto: Wenn schon ein Kulturevent, dann eins, bei dem ich endlich wieder richtig auf Tuchfühlung mit anderen komme. Dieser Wunsch nach Massenmomenten dominierte das Jahr.

Techno-Musealisierung und Schließungsgerüchte 

In Frankfurt am Main eröffnete im April das MOMEM, kurz für Museum of Modern Electronic Music, mit einem Festakt in der Paulskirche und einer Ausstellung über den deutschen DJ-Star Sven Väth. Den Aktivist*innen des feministischen DJ- und Produzent*innen-Kollektivs female:pressure gefiel das nicht, denn zur Eröffnungsfeier waren nur weiße männliche DJs gebucht. Zudem kritisierte das Kollektiv in seinem offenen Brief an den Frankfurter Bürgermeister die Formulierung aus dem Einladungstext, das neue Museum stehe „mitten in Frankfurt, wo Techno seinen Ursprung hat“. Dies sei, so der offene Brief, nicht in Einklang zu bringen mit „akademischen Untersuchungen und Einschätzungen zu den Ursprüngen der Techno-Kultur, die ihre Vielstimmigkeit aus den diversen Kulturen der Queerness und BPoC hat und im Besonderen in den urbanen Zentren der USA entstanden ist“. Will man in Frankfurt etwa den schwarzen Techno-Pionieren aus Detroit wie Juan Atkins, Derrick May und Kevin Saunderson die Erfindung dieses Musikstils streitig machen? 

Nun, es ist kompliziert. Denn es stimmt ja, dass der Frankfurter DJ Andreas Tomalla alias Talla 2XLC, der zu den Initiatoren des MOMEM gehört, schon 1982 als Verkäufer im Frankfurter Plattenladen City Music ein Fach mit der Aufschrift Techno einführte – für elektronische, meist europäische Tanz- und Club-Musik. Und es stimmt auch, dass er ab 1984 in der Stadt den Technoclub organisierte. Aber es stimmt eben auch, dass Juan Atkins in Detroit seine Musik ab Anfang der Achtzigerjahre als Techno bezeichnete. 1984 veröffentlichte er unter dem Pseudonym Cybotron den Track Techno City. Genau diese musikhistorische Parallelität, die bis heute für Irritation sorgt, hätte man im MOMEM zur Eröffnung aufgreifen und diskutieren können. Dass man diese Chance verpasst hat, und dass man bei der Programmierung der Eröffnungsparty keine Sensibilität für Diversity erkennen ließ, wirft kein so gutes Licht auf die neue Institution. Der Bayrische Rundfunk witzelte in einem Beitrag, wenn so viele Männer gern unter sich bleiben, könne man das Museum ja gleich umbenennen – in Museum of Bromance

Weiter geöffnet bleibt in Berlin der Club Berghain, trotz aller Falschmeldungen. Wie genau es dazu kommen konnte, dass Mitte Oktober eine ganze Reihe von Medien – vom Berliner Kurier über die Berliner Zeitung bis zum Musikexpress – die Ente von der Berghain-Schließung verbreiteten: Es würde hier zu weit führen. Was stimmt ist: Die hauseigene Booking-Agentur Ostgut Booking schließt Ende 2022. Sie vertrat 28 Musikacts und DJs und beschäftigte acht Mitarbeiter*innen. Und auch auf dem Berghain-Musiklabel Ostgut Ton ist seit November 2021 nichts Neues erschienen, das Label scheint seinen Betrieb eingestellt zu haben. Warum der berühmte Club seine Aktivitäten so stark reduziert beziehungsweise warum er sich auf sein Kerngeschäft, also Klubnächte, konzentriert: Man kann darüber nur mutmaßen. Das Berghain beantwortet in alter Manier keine Fragen von Journalist*innen. Die legendär langen Warteschlangen vor dem Club gibt es aber immer noch, beziehungsweise gab es sie 2022 wieder, und das Programm wird erweitert: Ende Oktober startete Honey Dijon in der Panorama Bar ihre neue Residency namens Jack Your Body. Die aus Chicago stammende House-DJ, die seit einigen Jahren in Berlin lebt, hatte ein überaus erfolgreiches Jahr – nicht nur weil Madonna sie als „meine liebste DJ auf der ganzen Welt“ bezeichnete. Sondern weil sie als Produzentin an zwei Songs (Cozy und Alien Superstar) auf dem Ende Juli erschienenen Renaissance-Album von Beyoncé beteiligt ist. Im November veröffentlichte Honey Dijon ihr eigenes neues Album Black Girl Magic. Auf ihm bringt sie in einer reizvollen Mischung aus Routine und Raffinement unterschiedliche Stränge der afroamerikanischen House-Music-Tradition zusammen, von technoid-minimalistischen Jack-Tracks bis zu jazzigem Deep-House.

Lange bevor das wiedervereinte Berlin zur multilingualen Techno- und Partymetropole wurde, saß Manuel Göttsching in seinem Studio Roma in der Fuggerstraße in Schöneberg und ließ Improvisationen auf seiner elektrischen Gitarre mit pulsierenden elektronischen Synthesizer- und Percussionsounds verschmelzen. In den Siebzigerjahren hatte der Multi-Instrumentalist schon in der legendären Krautrockband Ash Ra Tempel gespielt, doch im Dezember 1981 standen die Sterne offenbar besonders günstig. Goettschings Improvisation e2-e4, benannt nach einem beliebten Eröffnungszug im Schach, wurde mit zwei minimalen Akkorden, maximaler Wärme im Klang und einer sagenhaften Länge von 59 Minuten zum Warm-up-Klassiker im New Yorker Club Paradise Garage und zum Sundowner-Soundtrack auf der Drop-out-Insel Ibiza. Samples aus dem Stück tauchten Ende der Achtzigerjahre als tragende Elemente im Italo-House-Hit Sueño Latino auf, in Detroit zitierten und remixten Techno-Pioniere wie Carl Craig und Derrick May das Stück immer wieder. Göttsching wurde, das betonte er immer wieder, dank e2-e4 ganz unbeabsichtigt zum „Göttfather“ der heutigen Techno- und Trance-Welt – so nannte ihn der Guardian einmal. Er ist am 4. Dezember 2022 im Alter von 70 Jahren in Berlin gestorben.

Lust am Krach, queer-migrantischer R&B und Jodeleien

2022 war ein starkes Jahr für Ebru Düzgün, die sich als Rapperin und Sängerin Ebow nennt. Im März veröffentlichte die Münchnerin mit kurdischen Wurzeln ihr Album Canê voller magnetisch-düsterer Hip-Hop-Beats. Über ihnen reflektiert sie ihre queere, migrantisch geprägte Identität in Deutschland. Im Track Prada Bag spricht Düzgün einen beeindruckenden Monolog, in dem sie das Prahlen mit Luxus im Rap zugleich kritisiert und als Survival-Strategie deutet: Wenn man von der Mehrheitsgesellschaft immer nur „als Mensch zweiter Klasse gesehen“ werde, könne man Anerkennung nur erlangen, „wenn du dir etwas nimmst, wovon sie denken, dass es dir nicht zusteht“. Gerichtet an „Almans“, also an weiße Deutsche, spricht Düzgün: „Das Traurige daran ist, dass du mehr Respekt vor dem Kapitalismus an mir hast als vor mir selbst“. Im Juli folgte dann das Album Romeo Must Die des R&B-Trios Gaddafi Gals, in dem Düzgün sich Blaqtea nennt und zu dem neben ihr die Sängerin Slimgirl Fat und der Produzent Walter P99 Arke$tra gehören. Das Album passt mit seinen Anspielungen an den Timbaland-Sound der späten Neunzigerjahre zum allgegenwärtigen Y2K-Retrotrend wie Matrix-Sonnenbrillen zu Low-Rise-Jeans. Der Albumtitel ist ein Zitat: Romeo Must Die hieß 2000 der Action-Film, in dem der R&B-Star Aaliyah mitspielte. Es war ihr erster und zugleich letzter Film. Die amerikanische Sängerin kam 2001 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben und wird heute von Millennials aus der Generation Y ähnlich als Pop-Ikone verehrt wie Kurt Cobain von der Generation X.  
Die Nerven haben mit ihrem selbstbetitelten neuen Album erneut bewiesen, dass sie zu den wichtigsten Rockbands im Land zählen. Mit riesiger Lust auf wütend-krachige Grunge-Hymnen singt das Trio über Themen wie Heimatkritik ("Deutschland muss in Flammen stehen, ich will alles brennen sehen"), Angst vor Krieg ("Ich dachte irgendwie, in Europa stirbt man nie") und digitalen Kulturpessimismus ("Ein Influencer weint sich in den Schlaf"). Derweil überraschten Deichkind mit ihrer Single In der Natur, in der gejodelt wird. Der Refrain basiert auf einem Sample aus dem Jodelstück Triohatala (1997) von der Schweizer Gruppe Stimmhorn: "Hu loin-de-u ah wabbi-didl-loin dejo hu-de-u". Gespenstisches Timing. Denn ebenfalls Mitte August veröffentlichte die amerikanische Star-Rapperin Megan Thee Stallion ihre Single Anxiety, die auch auf einem Jodel-Sample basiert. Was ist da los? Scheinbar kommt man im Rap und Elektropop auf der Suche nach neuen „ethnischen“ Würzmöglichkeiten nun bei alpenländischen Volkstümeleien an. Warum auch nicht? Vielleicht wird aus diesem Mikrotrend im Jahr 2023 noch ein globaler Poptrend.

Selbst- oder fremdbestimmt? Pop über Sexarbeit

Der Sommerhit des Jahres 2022 war zugleich der meistdiskutierte Song des Jahres: Layla ist ein Techno-Schlager von zwei Ballermann-Helden namens DJ Robin und Schürze. Er stand neun Wochen lang auf Platz 1 der deutschen Popcharts. „Ich hab’ ’n Puff, und meine Puffmama heißt Layla, sie ist jünger, schöner, geiler, la-la-la-la-la-la-la-Layla“, so geht der Refrain, angepeitscht von derben Schunkelklatschern und Scooter-Trashsound. Im Jahr 2022 war Layla nicht nur der Soundtrack für Sauftourismus auf Mallorca, sondern ein Sommerhit mit eingebautem Shitstorm. Das Stück traf jenseits des Ballermanns nämlich auf eine Öffentlichkeit, die in weiten Teilen durch die #MeToo- und Cancel-Culture-Debatten der vergangenen Jahre stärker für Sexismus sensibilisiert ist – oder gar übersensibilisiert? Es wurden jedenfalls Rufe nach einem Verbot des Hits laut. Gegner eines Layla-Verbots schrien „Zensur!“ und wedelten mit dem Grundgesetz. Bei Volksfesten und Kirmessen, in Würzburg und Düsseldorf, sollte der Song dann nicht gespielt werden, was jedoch kein Verbot war, denn: Veranstalter – seien es Schützenvereine, seien es Städte – können in Berufung auf ihr Hausrecht festlegen, welche Musik sie hören wollen. Und wenn ein derb sexistischer Schlager, in dem Zuhälterei glorifiziert wird, nicht dazu gehört, ist das noch keine Beschneidung der Meinungsfreiheit. Auch Bundesjustizminister Marco Buschmann beschäftigte die Debatte: „Man muss Schlagertexte nicht mögen. Man kann sie sogar doof oder geschmacklos finden. Sie aber behördlich zu verbieten, finde ich, ist eins zu viel“, twitterte der FDP-Politiker. Von Zensur also keine Spur. Der Layla-Streit zeigte auch, dass es einen Unterschied macht, aus welcher Perspektive man über Prostitution singt. In diesem Song grölen besoffene Partyproleten in der Rolle von Luden – da schwingen sexualisierte Gewalt und die Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen schon mit.

Ganz anders in Unholy, einem weiteren Riesenhit des Jahres. In ihm ist es die Sexarbeiterin selbst, die singt, und um dieses Duett von Sam Smith und Kim Petras gab es keinen Shitstorm. Der supereingängige Song mit der arabesken Melodie und dem fetten Bass stand in Australien, Bulgarien, Indien, Litauen, Singapur, der Türkei und vielen anderen Ländern auf Platz 1 der Charts. Unholy gehört in diesen Jahresrückblick mit hinein, weil Kim Petras 1992 in Köln geboren wurde. Die Deutsche ist trans und zog mit 19 nach Los Angeles, um Popstar zu werden. „Mm, daddy, daddy, if you want it, drop the addy, give me love, give me Fendi, my Balenciaga daddy“, singt sie in der zweiten Strophe des Hits aus Perspektive eines Callgirls, das den transaktionalen Sex mit einem Familienvater genießt. Petras nimmt diese Rolle mit solch einer Selbstbestimmtheit ein, dass jegliche Ludenklischees in weite Ferne rücken. Die Kollaboration mit dem nicht-binären britischen Popstar Sam Smith stand auch in den USA an der Spitze der Charts, weswegen Kim Petras dort nun die erfolgreichste deutsche Popsängerin seit Nena ist. Die kam 1983 mit 99 Luftballons in den Billboard-Charts auf Platz 2. Unholy ist sogar für einen Grammy nominiert, in der Kategorie Best Pop Duo/Group Performance. Als sie davon erfuhr, twitterte Petras: „OMG maybe i’ll be a tranny with a grammy“. Klarheit wird es im Februar 2023 geben, bei der Grammy-Verleihung. Die deutsche Heimat drückt die Daumen!

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