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Klassikszene 2018
Die Zukunft der Klassik ist weiblich

Salome 2018: Asmik Grigorian (Salome)
Salome 2018: Asmik Grigorian (Salome) | Foto (Ausschnitt): © Salzburger Festspiele/Ruth Walz; E-Mail: ruthwalz@gmx.de

Die Debatte über sexuelle Übergriffe in der Film- und Kulturbranche hat 2018 die Klassikszene erreicht, gleichzeitig sind Frauen am Dirigenten- und Regiepult auf dem Vormarsch. Die Festivals in Bayreuth und Salzburg punkten mit interessanten Produktionen und in Wuppertal boomt der digital unterstützte Operngenuss.

Von Michael Struck-Schloen

Seit dem Jahr 2018 ist klar: Auch in der Klassikszene stimmt etwas nicht zwischen Frauen und Männern. Der Skandal um den sexuell übergriffigen Filmproduzenten Harvey Weinstein hat ‒ unter dem Label „#MeToo“ ‒ eine umfassende Debatte über mehr oder weniger subtile Machtstrukturen in unserer Gesellschaft freigelegt, die jetzt in der Welt der klassischen Musik angekommen ist. James Levine wurde im März 2018 nach vier Jahrzehnten als Musikchef der Metropolitan Opera in New York wegen „glaubhafter Beweise“ für sexuellen Missbrauch an jungen Männern entlassen, Daniele Gatti musste nach knapp zwei Jahren Amtszeit beim Concertgebouw-Orchester in Amsterdam wegen „unangemessenen Verhaltens“ gegenüber Musikerinnen gehen, nach ähnlichen Vorwürfen legte der Dirigent Gustav Kuhn im Oktober sein Engagement bei den Tiroler Festspielen in Erl nieder.
 
Nach der Bestrafung der großen Sündenböcke folgte auf den unteren Ebenen der Kulturbetriebe die bis heute anhaltende Analyse und Bewertung des Umgangs miteinander. Der Deutsche Bühnenverein, der die Orchester und Theater auf Arbeitgeberseite vertritt, hat einen Wertebasierten Verhaltenskodex zur Prävention von sexuellen Übergriffen und Machtmissbrauch veröffentlicht. Hinterfragt werden Hierarchien und Abhängigkeiten im Opern- und Konzertbetrieb, Wut und Verunsicherung bestimmen – nicht zuletzt in den sozialen Medien – die Diskussion. Dass damit die Musikbranche generell hellhörig geworden ist für offene oder latente Diskriminierungen jeder Art, zeigt auch der Untergang des Echo Klassik ‒ seit 1994 der renommierteste deutsche Musikpreis in den separat ausgezeichneten Sparten Klassik, Pop und Jazz, mit dem die Musikindustrie ihre verkaufsträchtigsten Produkte honorierte. Nach vehementen Protesten gegen die als antisemitisch und homophob empfundenen Texte des preisgekrönten Rapper-Duos Farid Bang und Kollegah wurden alle Echo-Preise abgeschafft. Ob der eilig gegründete und im Oktober erstmals verliehene Opus Klassik die Kritik am kommerziellen Charakter der Auszeichnung entkräften kann, wird die Zukunft zeigen.

Rabiate Frauen, kopflose Männer

Bei all diesen Diskussionen und zum Teil überzogen-hitzigen Reaktionen stellt sich auch die Frage, ob die männerdominierte Musik- und Theaterwelt wirklich das ganze kreative Potenzial der Republik abbildet. Der mit 250.000 Euro ausgestattete Ernst von Siemens Musikpreis wurde seit 1974 überhaupt nur ein einziges Mal an eine Frau (die Geigerin Anne-Sophie Mutter) verliehen, auch 2018 bekam ihn ein Mann zugesprochen, der zweifellos großartige Komponist Beat Furrer. An den Musiktheatern ist das Verhältnis von Regie führenden Männern und Frauen immer noch vier zu eins ‒ und doch scheint sich einiges zu bewegen. Nicht nur große Opernhäuser laden zunehmend Regisseurinnen ein: An der Bayerischen Staatsoper hat zuletzt Amélie Niermeyer Verdis Otello inszeniert. Vor allem an mittleren und kleineren Häusern waren auch 2018 bemerkenswerte Arbeiten von Eva-Maria Höckmayr (Weimar), Elisabeth Stöppler (Mainz) oder Barbora Horáková Joly (Wuppertal) zu sehen ‒ um drei Regisseurinnen der jüngeren Generation zu nennen. Auch Chefdirigentinnen setzen sich hier und da an Opernhäusern durch: die hochbegabte und ideenreiche Joana Mallwitz in Nürnberg oder ihre erfahrene Kollegin Julia Jones in Wuppertal; 2019 werden Anna Skryleva in Magdeburg und Ariane Matiakh in Halle an der Saale ihre Posten antreten.
 
Und vergessen wir nicht, dass zwei der wichtigsten deutschen Musikfestivals von Frauen aus der Nachkommenschaft Richard Wagners geführt werden: das Bonner Beethovenfest, das unter Leitung von Nike Wagner diesmal das gewichtige Thema „Schicksal“ umkreiste und dabei auch eines der letzten Werke des im Mai verstorbenen Komponisten Dieter Schnebel im Programm hatte ‒ und die Bayreuther Festspiele, Deutschlands meistdiskutiertes Opernfestival, das von Nikes Kusine Katharina Wagner geleitet wird und damit seit 1876 in „Familienbesitz“ ist – wenn auch nicht finanziell. Die Festivalchefin hat für Richard Wagners Lohengrin den amerikanischen Regisseur Yuval Sharon und das Leipziger Künstlerpaar Neo Rauch und Rosa Loy engagiert, das die Legende vom Schwanenritter ganz in Blau getaucht hat, ein rätselhaftes Stromhäuschen im Zentrum. Unter Strom stand auch die musikalische Umsetzung durch den Bayreuther Musikchef Christian Thielemann, der ein exquisites Sängerensemble mit dem polnischen Tenor Piotr Beczala in der Titelrolle dirigierte.
 
Während der Bayreuther Lohengrin mit dem Auftritt eines grünen DDR-Ampelmännchens eher liebenswürdig endete, hat der italienische Regiephilosoph Romeo Castellucci das gruselige Finale von Richard Strauss‘ Salome bei den Salzburger Festspielen im wahrsten Sinne vom Kopf auf die Füße gestellt: Nicht der abgetrennte Kopf des Propheten Jochanaan erschien, wie vom Komponisten gewollt, als Trophäe der Salome (Asmik Grigorian), sondern sein kopfloser, nackter Körper, an dem sich die Prinzessin mit einem schwarzen Pferdehaupt zu schaffen machte ‒ ihre Art von Frau holt sich eben, was sie will – während Salome in der Kölner Inszenierung von Ted Huffman, ähnlich rabiat, alle Männer über den Haufen schoss.

Notstände und Kreativität

Während viele Konzertorchester in Deutschland heute über funktionale oder sogar repräsentative neue Häuser wie die Hamburger Elbphilharmonie oder das Anneliese Brost Musikforum in Bochum verfügen, sieht es im Opernbereich mit der architektonischen Substanz nicht so rosig aus. Bei den meisten der in der Nachkriegszeit (wieder)errichteten Bauten besteht ein Sanierungsstau. In Frankfurt am Main, Bonn und Düsseldorf wird darüber debattiert, ob nicht ein Neubau der notwendigen Renovierung vorzuziehen sei ‒ in Frankfurt haben am Jahresende finanzkräftige Bürger eine Stiftung zur Finanzierung eines neuen Opernhauses gegründet. Die Kölner Oper am Offenbachplatz dagegen ist schon seit 2012 wegen Sanierung geschlossen, durch Pfusch am Bau muss man bis auf Weiteres Ausweichspielstätten nutzen. Aber solche Notstände können auch enorme Kreativität freisetzen ‒ wie man an der Kölner Oper sieht, die in den ehemaligen Messehallen des „Staatenhauses“ ein vielfältiges Programm anbieten von Mauricio Kagels szenischer Kantate Mare nostrum aus dem Jahr 1975 und dem Singspiel Im weißen Rössl bis hin zu Richard Wagners Ring des Nibelungen als Kinderoper.
 
Kreativ in Richtung einer digitalen Erweiterung des Kulturerlebnisses ist vor allem die Oper in Wuppertal. Ihr Intendant Berthold Schneider ging das Thema offensiv an und entwickelte zusammen mit Forschern der Universität Wien eine App fürs Smartphone, mit der man während der Vorstellung – allerdings nur in den hinteren Reihen – den Inhalt des Stücks erklärt bekommt, in einer erweiterten Version aber auch Hintergründe der Produktion und Arbeitsprozesse am Theater erfahren kann ‒ auf Deutsch, Japanisch, Russisch, Türkisch, Englisch und Italienisch. Das Projekt rief geteilte Reaktionen hervor und wird derzeit weiterentwickelt. Die Inszenierung von Francesca Caccinis Barockoper La liberazione di Ruggiero dall’isola d’Alcina, bei der das Publikum die Szene mit dem Smartphone in der Hand durchwandelte, hat jedenfalls gezeigt, dass man sich in Wuppertal nicht mit dem traditionellen Opernpublikum begnügt, sondern auch die „digital natives“ an die Wunder von Caccini, Verdi oder Offenbach heranführen will.
 

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