Als Künstler in Berlin
Die kanadische Sensibilität leidet
Ein sonniger Tag im Juli. Heiße 30 Grad. Menschen sitzen auf einer Picknickdecke im Parc La Fontaine in Montréal. Der deutsche Gast wird vorgestellt. Nette Gespräche entstehen. Und was ist das bestimmende Thema nach kurzer Kennenlernphase? Der Winter! Es wird sich über die bittere Kälte und die zähen Tage am Ende unterhalten, wenn sich die Stadt den Frühling herbeisehnt. Fotos von Schneemassen und vereisten Seen machen die Runde. Mitten im Sommer!
Ein Dreivierteljahr später in Berlin. Es ist Frühling, angenehme 20 Grad, T-Shirt-Wetter. Viele kanadische Musiker sind hier, um an der Spree zu leben. Berlin sei eine großartige Stadt mit vielen kulturellen Angeboten, wäre da nicht, tja, auch dieser Winter: „Wir sind sehr gerne hier, aber der Winter ist brutal!“ lautet der gemeinsame Tenor.
Scott Montieth stammt ursprünglich aus Ontario und nennt sich als Künstler Deadbeat. Er lebt nun schon seit etlichen Jahren in Deutschland. Sein bisheriges Fazit: „Wenn ich etwas ändern könnte, dann würde ich die Winter von Montréal nehmen, also die Minus 40 Grad und Sonne im Gegensatz zu Minus 5 Grad und dem Grau.“ In Berlin heißt es: Wer drei Winter überstanden hat, der darf sich „Berliner“ nennen. Das alles klingt erst einmal nicht so einladend. Doch was hat die Hauptstadt Deutschlands in den vergangenen Jahren trotzdem so interessant für Menschen aus Kanada gemacht?
Kanadische Sensibilität
Dafür muss man sich die Geschichte vor Augen führen. Als 1989 die Mauer zusammenbrach und Ost und West vereinte, entstanden Freiräume. Die alten Häuser luden zum Tanzen und Träumen ein. Der Kommunismus ließ seine Institutionen von der Leine. Übrig blieben marode Gebäude, die mit neuem Leben gefüllt wurden. Techno war zu der Zeit gerade von Detroit herübergeschwappt und seine Anhänger machten sich auf, ihn in Berlin aufleben zu lassen. Es wurde in alten Tresorräumen, Fabriken und Wohnungen gefeiert. Billig war es. In den 90ern regierte in Berlin der pure Hedonismus. Freiheit!Dieses Gefühl durchzieht immer noch die Musikszene, obwohl einiges von dem alten Charme verloren gegangen ist. Durch die Gentrifizierung mussten etliche Clubs schließen. Die Preise gingen nach oben. Trotzdem: Berlin ist im Vergleich zu anderen Großstädten (noch) preiswert. Genau das hat auch Stephen Paul Taylor geschätzt. Mit seinem Projekt „Trike“ und dem Video „Everybody knows shit fuck“ gelang dem in Montréal geborenen Musiker in Deutschland ein viraler Hit. Es zeigt ihn an einer Berliner Straßenecke mit Keyboard: „Ich bin in diese kleinen Clubs und Bars in seltsamen Kellern gegangen, die manchmal schwer zu finden waren. In Kanada sind die Wände schön gestrichen. Alles wurde renoviert. Hier ist es eher heruntergekommen. Das hat viel mehr Charakter und ist lebendiger.“
Auch Alex Zhang Hungtai hat diese Atmosphäre bei seiner Ankunft gesucht und gefunden. Sein Projekt „Dirty Beaches“ ist zwar mittlerweile Geschichte, aber Berlin ist ein Teil davon: „Die Berliner Elektro-Szene hatte auf jeden Fall einen Einfluss auf meine Psyche, da ich in Kanada eigentlich nie in Clubs gegangen bin. Das war nichts für mich. In Berlin habe ich das Ausgehen aber geliebt, weil man hier keine Fotos auf der Tanzfläche machen durfte. Das hatte fast schon eine meditative Qualität.“
John Farah ist Pianist, Komponist und Klangkünstler. Sein erstes Konzert im Stadtteil Moabit spielte er unglücklicherweise in einer kleinen Jazzkneipe vor einem nicht interessierten deutschen „Stammtisch“. Mittlerweile hat er aber die vielseitigen Auftrittsmöglichkeiten und besonders das Publikum zu schätzen gelernt: „In Toronto gab es viele großartige Konzerte. Es war für mich tatsächlich die beste Stadt für originelle und moderne Musik, ob das nun elektronische, experimentelle, improvisierte, klassische Musik oder auch Jazz war. Das Problem war: Niemand interessierte sich dafür.“
Anders in Berlin. Hier seien die Menschen zwar neugierig, aber auch für die so genannte „Berliner Schnauze“ bekannt. Für Farah eine ganz neue Erfahrung: „In Kanada sind die Menschen alle ganz selbstverständlich so freundlich, dass wichtige Themen manchmal nicht angesprochen werden. Niemand will direkt sein. Dadurch entsteht aber auch eine Art Schutzraum. Die kanadische Sensibilität leidet, wenn sie dir hier sagen: Der dritte Teil in dem Song war scheiße. Das schockiert.“
Arm und sexy in Europa
Wer als Musikerin oder Musiker im Herzen von Europa lebt, profitiert außerdem von einem großen Vorteil: Barcelona, London, Paris oder Stockholm sind alle nur einen Katzensprung entfernt. Die billigen Flüge erlauben das Touren auf dem ganzen Kontinent, ohne große Strecken zu fahren. Scott Montieth weiß das zu schätzen: „Von Berlin aus kann man in ein oder zwei Stunden überall in Europa sein.“Doch wie viel Deutschland bleibt am Ende in jedem Einzelnen übrig? Überall in der Stadt wird Englisch gesprochen. Viele Cafés und Bars leben von den ausländischen Gästen, die entweder auf Englisch bestellen oder sogar dort arbeiten und häufig wenig bis gar kein Deutsch sprechen. Alex Zhang Hungtai findet das aber nicht schlimm. Für ihn seien die Berliner damit viel internationaler als Menschen in Québec, die nach seinem Empfinden einem die französische Sprache fast schon aufzwängen. Er würde deshalb in Zukunft sogar lieber Deutsch als Französisch lernen.
„Trike“ hat mittlerweile einige Brocken der Sprache aufgegriffen und sich musikalisch auch von ihr inspirieren lassen. Auf seinem neuen Album befindet sich ein Stück, das direkt von der 80er-Jahre-New-Wave-Band Trio beeinflusst worden ist. Ihr berühmtestes Stück „Da Da Da“ war weltweit ein Hit. „Eine Freundin hat mir gesagt, ich solle mir diese Live-Aufnahme von Trio anschauen. Ich war von der Art und Weise des Gesangs total beeindruckt. Ich mochte den Stil. Das mache ich mit einem deutschen und englischen Akzent auf dem neuen Album nach.“
Aber nicht nur Berlin hat einen Einfluss auf die kanadische Musik. Das gilt auch anders herum. Feist, Chilly Gonzales, Peaches und auch Mocky waren vor ungefähr zehn Jahren ein prägender Bestandteil der ansässigen Szene. Diese Brücke über den Atlantischen Ozean besteht immer noch. Besonders Montréal wird oft mit Berlin verglichen. Warum eigentlich? Viele zugezogene Künstler sorgen dafür, dass die zwei Metropolen einen Boom erleben. Das Kreative sucht sich seine Nischen in den Strukturen längst vergangener Tage. Das große Geld wird damit zwar nicht gemacht, aber die Lebensqualität gesteigert. Scott Montieth dazu: „Wie sagte doch der ehemalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit: „Berlin ist arm, aber sexy.“ Das gilt wohl für beide Städte.“