Berlinale-Blogger 2017
Ein Streifzug durch den Wettbewerb

Helle Nächte begibt sich auf eine physische und emotionale Reise.
Helle Nächte begibt sich auf eine physische und emotionale Reise. | © Schramm Film / Marco Krüger

Seit Gründung der Berlinale im Jahr 1951 nehmen die Filme im offiziellen Wettbewerb ihre Zuschauer mit auf einen Streifzug, der sie so viel weiter führt als nur von ihrem Zuhause ins Kino. Vom Gerichtssaal-Drama „12 Angry Men", über die Darstellung des Landlebens in „Red Sorghum", bis hin zur animierten Magie in „Chihiros Reise ins Zauberland", haben alle Preisträger und Mitbewerber ihre Zuschauer auf eine Reise geschickt. So auch mit „Taxis" Fahrt durch das gegenwärtige Theran und „Fire at the Seas" intimer Betrachtung von Flüchtlingen, die das Mittelmeer überqueren - den beiden aktuellsten Preisträgern des Festivals.

Diese Ausflüge manifestieren sich auf unterschiedliche Weise. Sie nehmen die Zuschauer mit an einen Ort an dem sie noch nie zuvor waren oder zeigen ihnen eine Lebensweise, die ihnen bisher unbekannt war. Dies erlaubt es ihnen, die strapaziöse Reise anderer zu beobachten, zum Beispiel in der Darstellung einer physischen Entwicklung oder auch in der Navigation durch eine innere Wandlung. Tatsächlich durchqueren die ausgewählten Filme des offiziellen Wettbewerbs 2017 eine Vielzahl von Abenteuern, aber was sie gemeinsam haben ist, dass sie die Berlinale Zuschauer auf diese Abenteuer mitnehmen. In den drei bisher gezeigten Wettbewerbsfilmen werden die Zuschauer zu einem haarsträubenden Versuch, einem mondänen Leben zu entfliehen, transportiert, zu einem Kampf um Akzeptanz und Würde und an einen Platz, an dem die Sonne durch den Abend brennt.

Nackt durch Schnee laufen

In Wilde Maus wieselt Georg (Josef Hader) umher, wie die Kreatur, die dem Film seinen Namen gibt und, obwohl er sich ständig bewegt, kommt er nie wirklich weit. Er ist ein Musikkritiker, der über Jahrzehnte hinweg zufrieden war, für dieselbe Zeitung zu schreiben. Aber er verliert alle Bodenhaftung, als er aufgrund einer Einsparungsmaßnahme entlassen wird. Seine Rastlosigkeit und Apathie versinnbildlichen bald seine größeren Probleme. Anstatt mit seiner Frau Johanna (Pia Hierzegger) über ihre Versuche, eine Familie zu gründen, zu sprechen, vermeidet er es, nach Hause zu kommen. Rache und Selbstmordgedanken, Fahrten mit Miniatur-Zügen und nackt durch den Schnee laufen, sind die Folgen. Komiker, Drehbuchautor, Regisseur und Hauptdarsteller Hader stellt sicher, dass einen sein Porträt eines verwirrten Mannes – durch die Pfade, die er eingeschlagen oder ignoriert hat - verfolgt.


Vor der Realität davonzulaufen und Verantwortung als eine Form der Ablenkung zu verwenden ist selbstverständlich etwas anderes, als wenn man sein eigenes Leben führen möchte, aber dies aus Gründen über die man keine Kontrolle hat, nicht kann. Es ist letzteres, das auf Marina (Daniela Vega), die titelgebende Figur in Sebastián Lelios A Fantastic Woman, zutrifft. Als ihr älterer Partner unerwartet stirbt, findet sie sich auf einmal schutzlos gegenüber der kritischen Außenwelt, wenn es um ihren transsexuellen Status und ihre Liebe geht. Das Krankenhaus, die Polizei, die Ex-Frau, der erwachsene Sohn und andere Familienmitglieder bleiben skeptisch und stellen ihre Kleinkariertheit zur Schau. So begibt sich Marina auf ihren Weg, um einen Platz in der Welt - fern von Marginalisation - einzufordern. Sie ist gezwungen, nicht nur zu trauern, sondern gleichzeitig zu versuchen, sich gegen allgegenwärtige Stereotype durchzusetzen.

Reisen durch das Medium Film

Die Protagonisten in Wilde Maus und A Fantastic Woman bewegen sich wohl mehr symbolisch als wortwörtlich; aber Helle Nächte bringt das Konzept zu seinem offensichtlicheren, gegenteiligen Extrem. Eine abenteuerliche Reise führt ins Seelenleben, wird hier aber begleitet von einem tatsächlichen Trip von Berlin in einen entlegenen Teil Norwegens - in die Dichte des andauernden, brennenden Sommers. Als sein Vater stirbt, lässt Michael (Georg Friedrich) seinen Teenager-Sohn (Tristan Göbel) seine Sachen packen. Dies ist ihre Möglichkeit, sich näher zu kommen und ein Familienmitglied zu verabschieden. Ihr emotionaler Weg ist vielleicht offensichtlich, aber ihr physischer Trip rückt dieses Gefühl von Entdeckung durch das Medium Film in den Vordergrund – vor allem mit einer atemberaubenden, hypnotisierenden, späten Sequenz, die aus der Perspektive der ersten Person einfängt, wie sie durch Wälder fahren. Dies ist zugleich eine visuelle Manifestierung der Höhen und Tiefen ihrer angespannten Vater-Sohn Beziehung.