Future Perfect
In der Gasse zu Hause

| Foto: Catherine Nawrocka

Montreal wird mit jedem Sommer etwas grüner. Bürgerinitiativen hauchen den stadttypischen Gassen Leben ein und tauschen Beton gegen Kletterpflanzen und Gemeinschaftsflächen.

„Sehen Sie hier, die Atmosphäre in unserer Gasse im Sommer: Passanten unterhalten sich, Kinder rennen umher, Blumen blühen, Menschen heiraten!“, sagt Catherine Nawrocka, während sie die Fotos ihrer eigenen Hochzeit zeigt. Im Schatten der Magnolien, unterhalb der Sonnenblumen, haben die Nachbarn ein Buffet aufgebaut, das so bunt ist wie ihr Brautkleid. Ein merkwürdiger Ort, um in den Stand der Ehe zu treten? Nicht, wenn man sich diese Gasse anschaut, eine grüne Insel, ein geselliger Ort par excellence. „Diese Gasse hat schon lange eine Seele“, erklärt Catherine, die seit 2000 im Bezirk Rosemont-Petite-Patrie wohnt, einem Teil der kanadischen Stadt Montreal. Schon seit rund 20 Jahren essen dort einige Nachbarn zum Sommeranfang gemeinsam. Sie haben nicht das offizielle Programm der Begrünung von Montreals Gassen abgewartet, um Blumen und Efeu zu pflanzen.

Essen oder Freiluftkino

Historisch waren die Gassen von Montreal, die an den Rückseiten der Hinterhöfe oder Gärten parallel zu den Straßen verlaufen, Verbindungswege und verwandelten sich oft zu improvisierten Spielplätzen. Später wurden betoniert oder asphaltiert und verkamen häufig zu Müllsammelplätzen. Mitte der 1990er Jahre griff eine Handvoll Bewohner des Viertels Plateau-Mont-Royal ein Programm wieder auf, das die Stadt ein paar Jahre zuvor begonnen hatte, das bis dahin nicht viel gebracht hatte: Sie packten die Wiederbelebung dieser Räume an.

1997 bekam die erste Gasse von der Stadt offiziell das Siegel „Ruelle verte“, zu Deutsch: grüne Gasse, verliehen. Inzwischen gibt es davon 230, und die Begeisterung wächst immer noch – seit 2010 legen sich die Bürger sogar noch mehr ins Zeug. Der Bezirk Rosemont-Petite-Patrie peilt inzwischen 15 Umwandlungen pro Sommer an. Dabei entstehen Beete, Kletterpflanzen, begrünte Mauern, aber auch Gemeinschaftsflächen, wo die Nachbarschaft gemeinsam essen oder Freiluftkinos veranstalten kann: Man wird grün, man tut sich zusammen. Selten ist das Autofahren komplett verboten, denn manche Anwohnerinnen haben ein angestammtes Zufahrts- oder Parkrecht. Die Begrünung ist trotzdem möglich, vor allem dank Rasenpflastersteinen.

Einander kennenlernen

„Wenn man in Montreal aufgewachsen ist, dann ist man in der Gasse zu Hause, das gehört zu unserer Identität“, meint Ève Massicotte ein paar Gassen von Catherines entfernt. Im Jahr 2015 brachte Ève die Nachbarschaft dazu, sich auf dieses Abenteuer einzulassen. Aus „drei oder vier Galliern, die ihre Gasse begrünen wollten“, schuf sie die notwendige Mehrheit, um das Ganze offiziell zu machen. Bis die Arbeit losging, brauchte sie viel Geduld und Überzeugungskraft. Doch das Ergebnis war die Mühe wert. „Wenn man Nachbarschaftsprojekte aufziehen will, muss man einander zuallererst einmal kennenlernen“, erläutert ihr Ehemann Nicholas Legault.

Roberto Garcia, Projektleiter für die Begrünungsprojekte im Bezirk, freut sich ganz offensichtlich über jeden Quadratmeter Beton, der sich in Grün verwandelt. Doch für ihn sind die sozialen Auswirkungen eine ebenso große Bereicherung: „Zersiedelung, Fernsehen überall, Leben in der Kleinfamilie ... Wir sind hier in Nordamerika ganz schön atomisiert, uns fehlt es an Gemeinschaft.“ Er hält das Projekt einer „Ruelle verte“ für eine gute Schule in Bürgerschaft, „die es ermöglicht, das Zusammenleben neu zu erschaffen, das uns so sehr fehlt.“ Die Gasse sei dafür wie gemacht.

Sich geistig für Unterschiede öffnen

„Wir brauchen die Bürger gar nicht aufzurufen, die mobilisieren sich von selbst“, stellt der Bezirksangestellte Roberto Garcia fest. Diejenigen, die wegen Starthilfe bei ihm anklopfen, fordere er zunächst einmal auf, einen Gassenrat zu gründen, der die Nachbarschaft informiert und befragt. Mindestens drei Viertel der Bewohner müssen gehört werden, und von diesen muss die Mehrheit das Projekt gutheißen. Der Bezirk übernimmt das Ausbaggern und liefert die Erde; das Pflanzen und Pflegen sind Sache des Gassenrats, also der Bewohnerinnen und Bewohner.

„Man braucht ein gutes Stehvermögen, wenn man eine Ruelle verte zum Leben erwecken will, und man muss sich sehr dahinterklemmen, damit man nicht den Mut verliert“, sagt Catherine Nawrocka. „Im Winter werden die Blumenkästen regelmäßig vom Schneepflug zerstört, Weinreben werden manchmal von Passanten abgerissen.“ Ihr Nachbar Pierre Bonenfant findet, dass nicht viel fehle, und „alles würde verkommen. Freiwillige machen nur zeitweise mit; man braucht ein paar Leitsterne, um sich über Wasser zu halten.“ Diese Leitsterne sind die Catherines und die Èves dieser Welt, die entschlossen, motiviert und optimistisch sind. Weil eine grüne Gasse nach wie vor ein Gewinn für die Gemeinschaft ist – auch wenn es anstrengend ist, auch die größten Skeptiker überzeugen zu müssen.

„Einige Nachbarn, die anfangs nicht so dafür waren, haben uns gesagt, dass sie vor der ‚Ruelle verte’ niemanden kannten, obwohl sie schon seit über 20 Jahren hier wohnten“, erzählt Ève. Für Nicholas tragen die Gassen trotz der Herausforderungen zum sozialen Zusammenhalt bei – oder gerade wegen der Herausforderungen. „Dafür muss man sich auch geistig für Unterschiede öffnen, denn man muss ja mit Menschen Kompromisse schließen, die man sich nicht ausgesucht hat. Da teilt man nicht unbedingt die gleichen Werte, und man muss lernen, sich darauf einzustellen.“ Wenn man in diesen (noch) verborgenen Oasen unterwegs ist, trifft man manchmal auch die Träumerinnen und Flaneure, die lieber über die Gassen durch die Stadt streifen. So wie beispielsweise – hinter dem Haus von Catherine – „der ältere Herr, der sich gern in den Schatten setzt und die Gedichte liest, die auf die Mauern gemalt sind.“