Future Perfect
Forschungen über Umweltrassismus

Boat Harbour, a contaminated site in Pictou Landing First Nation
Boat Harbour, a contaminated site in Pictou Landing First Nation | @ Silver David Cameron

In Nova Scotia liegen unverhältnismäßig viele Kommunen mit Minderheiten und geringen Einkommen in der Nähe von Umweltzerstörungen und belasteten Gebieten. Gerade läuft ein Forschungsprojekt, das ein Bewusstsein für diese Problematik weckt und außerdem betroffene Anwohner zum Handeln mobilisiert.

Als sich ein Aktivist, der zum Thema Umweltrassismus arbeitet, 2012 zum ersten Mal mit Ingrid Waldron traf und sie bat, sich an seinen Anstrengungen zu beteiligen, zögerte Waldron zunächst. Die Soziologin und Lehrbeauftragte für Krankenpflege an der Dalhousie University in Halifax in Nova Scotia wusste nicht viel über Umweltrassismus. Dieser Begriff beschreibt Situationen, in denen Umweltverschmutzung und Umweltzerstörungen – zum Beispiel Deponien, Müllverbrennungsanlagen oder Kohlekraftwerke – unverhältnismäßig oft in der Nähe von Gemeinden mit geringen Einkommen oder hohem Minderheitenanteil stattfinden.
 
Fälle von Umweltrassismus sind weltweit dokumentiert, und einer der ersten Fälle, der große öffentliche Aufmerksamkeit erregte, ereignete sich in den 1980er-Jahren in Warren County im US-Bundesstaat North Carolina, als eine Sondermülldeponie in einer kleinen, vorwiegend afroamerikanischen Gemeinde errichtet wurde. Häufig verleitet die Kombination preisgünstiger Grundstücke mit dem vermeintlich geringen Widerstandspotenzial einer Gemeinde die Industrie, die Umwelt gefährdende Anlagen in solchen Gemeinden zu errichten.
 
„Ich zögerte, das Projekt zu übernehmen, denn es gehörte nicht zu meinen Interessengebieten und ich hatte keine Ahnung davon“, so Waldron. „Doch ich dachte darüber nach. Es schien eine Herausforderung zu sein. Es würde politisch sein und es wäre eine Gelegenheit, in den Gemeinden wirklich etwas zu verändern. Diese Aspekte begeisterten mich.“ Die Forscherin beschloss, zuzusagen.
 
Vier Jahre später nimmt das Projekt ENRICH (Environmental Noxiousness, Racial Inequities, and Community Health = Umweltschädlichkeit, Rassenungleichheit und Gesundheit in Gemeinden) Waldron immer noch voll in Anspruch. Als Direktorin leitet sie ein Team aus 14 Gemeindemitgliedern, sieben Wissenschaftlern, drei wissenschaftlichen Mitarbeitern – darunter Dave Ron, der Aktivist, der das Projekt ins Leben gerufen hat – und zehn Studenten. Alle sind entschlossen, den Umweltrassismus in afrikanischen Gemeinden und Mi’kmaq-Gemeinden (die Mi’kmaq waren die Ureinwohner der kanadischen Atlantikprovinzen, heute gibt es in Nova Scotia 13 Mi’kmaq-Gemeinden) zu erforschen und dagegen anzugehen.
 

  • Ingrid Waldron © Ingrid Waldron/Dalhousie University
    Ingrid Waldron
  • Landfill in Lincolnville © Silver Donald Cameron
    Landfill in Lincolnville
  • Boat Harbour, a contaminated site in Pictou Landing First Nation © Silver Donald Cameron
    Boat Harbour, a contaminated site in Pictou Landing First Nation
  • Landfill in Lincolnville © Silver Donald Cameron
    Landfill in Lincolnville 2

Forschung für die Mobilisierung von Gemeinden nutzen
 
„Wir betrachten die Problematik aus einer Forschungsperspektive und wir nutzen die entsprechenden Forschungen und Daten, um Gemeinden zum Handeln zu mobilisieren“, sagt Waldron. Das Projekt betreibt vielfältige Aktivitäten, die von einem Kunst- und Bildungsprojekt für Jugendliche über eine Reihe von Workshops, die 2013 und 2014 veranstaltet wurde, bis dahin reicht, dass die Betreiber sich die Bedenken der Anwohner anhören und sie dazu ermuntern, aktiv zu werden. Diese Aktivitäten hat ein Dokumentarfilmer in dem online verfügbaren Film In Whose Backyard? dokumentiert (Link: siehe rechts).
 
Bei den erwähnten Workshops trafen sich Waldron und andere Teammitglieder mit Menschen in betroffenen Gemeinden, zum Beispiel in Lincolnville, einer afrikanischen Gemeinde in Nova Scotia, die 1784 von sogenannten Black Loyalists besiedelt wurde, schwarzen Gegnern der Unabhängigkeit. Die Einwohner hatten viele Befürchtungen wegen einer Deponie, die 1974 in weniger als einem Kilometer Entfernung angelegt wurde, und wegen einer zweiten, die 2006 eröffnet wurde.
 
Sie berichteten über häufiges Auftreten bestimmter Krankheiten, darunter Krebs und Diabetes, sie äußerten Bedenken, dass in den Boden sickernde Giftstoffe das Wasser kontaminieren, beschwerten sich über die schlechte Luftqualität sowie die Zunahme von Bären, Waschbären, Stinktieren und Insekten wegen des Mülls. Indes sagte die Gemeindeverwaltung, die Bevölkerung schrumpfe und die ökonomische Basis gerate ins Wanken, weil viele junge Menschen wegziehen.
 
Die von den Bürgern von Lincolnville geäußerten Klagen sind kein Einzelfall, denn auch Forschungsteilnehmer in der vorwiegend afrikanischen Gemeinde North Preston und in der Mi’kmaq-Gemeinde Membertou sprachen von hohen Krankheitsraten. Das ENRICH-Team kam zu dem Schluss, dass mehr Forschungen nötig sind, zum Beispiel sollen Zahlen zur Häufigkeit von Krebs und anderen Erkrankungen in den Gemeinden erfasst werden und den Einwohnern soll zu unabhängigen Tests von Wasser- und Bodenproben verholfen werden.
 
Laut der 2011 von Statistics Canada durchgeführten Erhebung National Household Survey (das sind die jüngsten verfügbaren statistischen Angaben) lebten in der Provinz Nova Scotia 20.790 „Afrikaner“, bei einer Gesamtbevölkerung von 906.175 Menschen. Laut der gleichen Erhebung bezeichneten sich 33.850 Menschen als Ureinwohner.
 
Der nächste Schritt nach der anfänglichen Informationsbeschaffung bestand für Waldron darin, die Erkenntnisse ihrer Forschungsgruppe mit Gesundheitsbehörden, Schulen, Kirchen und Medien zu teilen. Sie traf sich mit diversen staatlichen Stellen, um herauszufinden, was man darüber hinaus noch tun könnte. Über ihre vielen entsprechenden Termine sagt Waldron: „Eigentlich hat das überhaupt nichts gebracht.“ Manche Menschen, mit denen sie sich traf, sagten, sie seien dafür nicht zuständig, während andere sagten, sie hätten nicht die erforderlichen Ressourcen für die Anstrengungen, die Waldron einforderte. „Wir steckten in einer Sackgasse.“
 
Ein Gesetz gegen Umweltrassismus
 
Ein Teamkollege schlug Waldron vor, es anders zu versuchen und sich nicht an die Mitarbeiter diverser Regierungsstellen zu wenden, sondern an Provinzpolitiker, also gewählte Volksvertreter. Und so traf sie sich mit Leonore Zann, Mitglied des Parlaments von Nova Scotia, und diese schien von Waldrons Projekt hellauf begeistert zu sein.
 
Als Zann die Möglichkeit andeutete, als Abgeordnete (und nicht als Ministerin) einen Gesetzentwurf zum Thema Umweltrassismus einzubringen, war Waldron, wie sie sich erinnert, von dem Angebot und von den Möglichkeiten, die es eröffnen konnte, zunächst schockiert. Sie hatte nicht vorgehabt, auf eine solche politische Weise an die Problematik heranzugehen.
 
Schließlich arbeiteten Zann, Mitglied der Nova Scotia New Democratic Party, und Waldron gemeinsam einen Entwurf für Bill 111: An Act to Address Environmental Racism (etwa: Gesetz zur Bewältigung des Umweltrassismus) aus. Das war die erste Gesetzesinitiative einer Abgeordneten in Kanada zu diesem Problem und darin wurde dargelegt, dass die Regierung einen Ausschuss einrichten müsse, der sich mit Mi’kmaq-Gemeinden, afrikanischen und akadischen Gemeinden in der ganzen Provinz beraten und so den Einwohnern Gelegenheit geben solle, ihre Bedenken mitzuteilen sowie mit dem Staat gemeinsam an Strategien und Lösungen zur Bewältigung des Umweltrassismus zu arbeiten.
 
Zann brachte den Gesetzentwurf am 29. April 2015 in die gesetzgebende Versammlung ein. Er schaffte es im Herbst 2015 in die zweite Lesung und wurde diskutiert, doch trotz leidenschaftlicher Bemühungen seitens ENRICH, das Gesetz durchzubringen, wurde es nicht verabschiedet. Waldron sieht für dieses Scheitern politische Gründe – Zann gehört der New Democratic Party an, die im Provinzparlament nur fünf Sitze hat, während die regierende Liberal Party 34 Sitze und die oppositionelle Progressive Conservative Party zehn Sitze hat. „Das war zwar eine Enttäuschung, doch es freut mich sehr, das überhaupt darüber debattiert wurde“, so Waldron, und sie setzt hinzu, dass die Gesetzesinitiative mediale Aufmerksamkeit auf sich zog und dazu beitrug, sowohl bei Politikern als auch in der breiten Öffentlichkeit wertvolles Bewusstsein für die Existenz von Umweltrassismus in Nova Scotia zu wecken.
 
Die Reise geht weiter
 
Um ihr Anliegen weiter voranzutreiben, schreibt Waldron derzeit ein Buch über Umweltrassismus in Nova Scotia, das im Herbst 2017 erscheinen soll. Bereits in diesem Jahr hat ENRICH eine interaktive Landkarte herausgegeben, die Beispiele für Umweltschäden und die Lage afrikanischer Gemeinden und Ureinwohner-Gemeinden zeigt.
 
Waldron räumt ein, dass einige von Umweltrassismus betroffene Gemeinden in Nova Scotia müde und frustriert sind und dass sie selbst sich natürlich auch schon so gefühlt hat. Wenn sie über die vergangenen vier Jahre nachdenkt, spricht sie zwar von Herausforderungen, doch sie bleibt positiv gestimmt: „Immer wenn ich das Gefühl habe, das Projekt stehe vielleicht vor seinem Ende, kommt jemand in mein Büro spaziert und sagt: ‚Was halten Sie denn davon?’ Das Projekt schickte mich auf eine ganz andere Reise und ermöglichte es mir, Dinge zu lernen und Dinge zu tun, die von Haus aus nicht zu meinem Repertoire gehören. Ich werde immer wieder gefordert und bin immer wieder fasziniert.“
 
Zwar hat ENRICH bislang weder politisch noch hinsichtlich der Geografie der Umweltverschmutzung etwas bewirkt, doch konnte das Team Beiträge zu eher subtilen Verbesserungen leisten: Dank des Forschungsprojekts haben nun Gemeinden den Mut, ihre Situation gemeinsam anzupacken und eine objektive Dokumentation zu erlangen. Beispielsweise bekommen im Rahmen eines laufenden ENRICH-Projekts in Lincolnville die Bewohner betroffener Gemeinden unter anderem erklärt, wie sie ihr Wasser selbst auf Schadstoffe untersuchen können. Falls dieses Projekt erfolgreich ist, so Waldron, könnte es auch in andere Gemeinden getragen werden: „Das ist ein realer, greifbarer Aspekt des Projekts, der in den Gemeinden Fähigkeiten aufbaut, und das halte ich für wichtig. Die Menschen sehen, dass sich wirklich etwas tut.“