Toronto
Earls Name ist Legion

Earl Street in Toronto
Earl Street in Toronto | Foto (Ausschnitt): Shawn Micallef

Mitten in der Innenstadt von Toronto, nicht weit von „Yonge und Bloor“, dem Hauptverkehrsknotenpunkt, wo sich Yonge Street und Bloor Street kreuzen, liegt eine europäisch anmutende Straße. Earl Street ähnelt europäischen Straßen darin, dass sich ihr Name bei jedem Häuserblock ändert. Wenn man durch eine Stadt wie Berlin läuft, kommen einem viele Straßen wie nur ein und dieselbe vor, nur an den Straßenschildern kann man erkennen, dass sie die Namen wechselt.

In Berlin Mitte wird die Chausseestraße zur Friedrichstraße, an der Stelle, wo sie sich an der Kreuzung Torstraße leicht biegt. Die Torstraße selbst wird zur Mollstraße und dann zur Landsberger Allee, wenn sie gen Osten geht. Auf dieser Seite des Atlantiks behalten die meisten Straßen über lange Strecken ihren Namen, nicht aber die Earl Street, die über zwei Blocks zwischen Jarvis St. und Sherbourne St. im “Upper Jarvis” Viertel verläuft. Toronto ist im Wesentlichen wie ein Gitternetz angelegt. Es gibt einige wenige Ausnahmen, aber dieses Viertel gehört fest ins Hoheitsgebiet der rechten Winkel, daher gibt es nicht mal den Hauch einer Kurve, die darauf hindeuten würde, dass eine Straße ihren Namen geändert hat. Die kurze Existenz der Earl Street als solche, täuscht darüber hinweg, wie lang sie tatsächlich als durchgehende Straße fortbesteht. 

An der Yonge Street verläuft eine andere Straße, Gloucester Street, über nur zwei Blocks und wird dann zu Earl Place. Gloucester St beherbergt eine Mischung aus viktorianischen Häusern und modernen Apartmenthäusern aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Die beiden Stile und Epochen vermischen sich unerwartet leicht, wie so oft in Toronto, dank seines ohnehin uneinheitlichen Stadtbildes. Kein Stil dominiert über andere, alles gehört zusammen. Es mag vielleicht eine Verbindung bestehen zwischen Torontos multikultureller Identität und seiner heterogenen Bauform; jeder kann hierher kommen und entweder etwas Vertrautes vorfinden, oder einen Stil, den er mag.

Die erste Hälfte von Earl ist bekannt als „Platz“, die zweite, längere Strecke ist eine „Straße“. Eine Straße, die „Platz“ genannt wird, hat etwas von Verkleinerung, aber eine niedliche Art von Verkleinerung, vielleicht sogar etwas Malerisches. Earl Place hat von all dem ein bisschen, mit ein paar recht hübschen Vorkriegs-Apartmenthäusern ohne Aufzug, und zwei Reihen an relativ neuen Reihenhäusern – bei der einen wurde versucht, den viktorianischen Stil nachzuahmen, die andere verfolgt einen zeitgenössischeren Stil. Die „falschen“ viktorianischen sind in keinster Weise hässlich, aber die auf alt machende Ehrenhaftigkeit wirkt immer etwas seltsam. Warum soviel Skepsis gegenüber dem Neuen?

No Exit

Earl Place endet an der Huntley Street, obwohl sie früher einmal weiter ging bis Sherbourne St, wo sie mit Huntley St eine mustergültige T-förmige Kreuzung bildet. Doch aufgrund eines Straßenbauprojekts aus den späten 80ern oder frühen 90ern, am Stil der Betonpollern gemessen, wurde eine Sackgasse daraus gemacht, damit die Autos in dieser Straße, die hauptsächlich Wohngegend ist, nicht so rasen können. Sie werden so stattdessen einen Block weiter nördlich gezwungen, längs der Isabella Street.

Earl ist eine der Sackgassen in Toronto, die zwar ein “No Exit”-Schild hat, was aber nur für Autos gilt, da Fußgänger und Fahrradfahrer leicht durch kommen. Die Zementschwelle hat Aussparungen, die ermöglichen, dass kleine Räder hindurch rollen können. Die Sackgasse sorgt hier für eine ruhige Stelle in der Stadt, gut geeignet, um seinen Hund auszuführen, denn man muss nicht so sehr auf Autos achten. Doch es gäbe auch Potential für noch Schöneres, z.B. könnte man Blumenkübel aufstellen, oder sogar ein paar Bänke, etwas, das den Leuten den Anreiz geben würde, noch ein bisschen zu bleiben, anstatt gleich weiter zu gehen. Toronto ist immer noch dabei, zu lernen, wie es seine öffentlichen Räume entspannend und einladend gestalten kann. Doch diese durchlässige Barriere, in der Art, wie alle städtischen Barrieren sein sollten, markiert die Hälfte der Länge unseres „Earl mit vielen Namen”.

Von der Sackgasse bei Huntley Street geht die Earl Street weiter nach Osten, entlang einer langen Reihe von Reihenhäusern im viktorianischen Stil; eins davon ziert ein steinernes Schild, “Windsor Terrace 1877”. Auch hier gegenüber befinden sich neuere Versionen von Reihenhäusern, die in ihrer Art einer „condominium community“ (Eigentumswohnungen, gewöhnlich in Gruppen von Hochhäusern) ähneln. Sie sehen genau aus wie die älteren Gebäude – nebeneinander gebaute Häuser – aber die neuen sind alle durch eine gemeinsame Tiefgarage miteinander verbunden, die nur einen Eingang hat; alter Stil auf neue Art.

Auf der Südseite, etwa auf halber Strecke, steht das Pfarrhaus der katholischen Kirche “Our Lady of Lourdes” auf einem großen Grundstück. Die Kirche selbst liegt an Sherbourne St und hat, verglichen mit anderen hiesigen Kirchen, eine seltsame Form: sie sieht in etwa aus wie zwei getrennte Gebäude mit einer Skulptur in der Mitte, die die Szene in Lourdes darstellt. Mit dem Garten ist auch das ein hübscher Ort, auch wenn sich dort nicht viele Leute aufhalten, außer bei schönem Wetter nach dem Gottesdienst. Von der gegenüberliegenden Straße hatte man bis vor kurzem einen fantastischen Blick auf die Kirche, weil dort drei hohe Mehrfamilienhäuser auf der Ebene des zweiten Stocks mit einer riesigen, mehrere Acres großen Plattform miteinander verbunden waren. Ein parkähnlicher Ort mit Wegen, die sich zwischen Bäumen und Rasenflächen schlängelten. Doch nur wenige Leute haben sich dort hinauf gewagt, oder wussten von der Existenz des Ortes, weil es nur wenige Treppen nach oben gab. Der öffentliche Platz darunter war immer dunkel, und Earl Street wurde an der Stelle zur St. James Avenue, wo sie unter all dem Beton hindurch verlief. Es war dort wenig einladend, auch nicht für Bewohner auf dem Weg nach Hause.

Eine Art Insel

Das hat sich nun alles verändert, da die Plattform größtenteils abgerissen wurde: während der bröckelnde Park auf der oberen Etage durch den Brutalismusstil der Architektur reizvoll war – man stelle sich den vielen rohen, unverputzten Beton vor, der die gesamte Parkfläche einrahmte – entstand bei seinem Abbruch etwas, das ein großartiger neuer Zugang zu St. James Town werden könnte. Bei einem Spaziergang durch Earl Street mit ihrer Straßenlandschaft des 19. Jahrhunderts bekommt man nun durch die Straßenbiegungen einen schönen Blick auf die Türme von St. James Town, da die St. James Avenue nicht dem Toronto’schen Straßenraster treu bleibt, sondern sich vielmehr sanft durch das Viertel schlängelt, um schließlich an der Parliament Street und dem St. James Friedhof zu enden. Im Sommer sprießen mitten im Viertel viele spontane Marktplätze hervor. Es bestehen also gute Chancen, dass dieser vernachlässigte Straßenabschnitt zu einem Ort werden könnte, an den man gerne kommt – entweder der Märkte wegen, oder einfach, um Leute zu treffen. Der schwierigste Teil in der Stadtgestaltung ist oftmals, zu erreichen, dass Leute herkommen. In St. James Town sind sie bereits da.

Wenn die Earl Street, mit etwas Augenmerk auf ihre Gestaltung, und mit Zugängen, die den Zulauf vereinfachen, ein bisschen mehr wie eine Berliner Straße werden könnte, die von sich aus schon Leute zum Spazierengehen und Neues-Entdecken einlädt, indem sie eine angenehme Atmosphäre für Fußgänger schafft, dann könnte die ganze Gegend von Yonge St bis hin zu Parliament St ein neuer Korridor der östlichen Innenstadt werden: mehrere Viertel würden miteinander verknüpft und für die über 20.000 Einwohner von St. James Town bestünde so eine bessere und einladendere Verbindung mit dem Rest von Toronto.

Zum jetzigen Zeitpunkt ist St. James Town eine Art Insel, die vor der östlichen Innenstadt vor sich hin schwimmt, wobei die Abtrennung keine geographische ist, sondern vielmehr im Kopf und in der Vorstellung besteht. Das Einreißen der greifbaren Barrieren mag die bisher beste Gelegenheit sein, diese Gegend wieder mit der sie umgebenden Stadt zu verbinden.