Kurzgeschichte
Der Rückzug

Cape Spear in St-John's
Cape Spear in St-John's | Foto (Ausschnitt): Zach Bonnell

Umhergehen, fühlen und die Distanz beobachten, die uns von Gegenständen, geliebten Menschen, dem Leben und der Zeit trennt. Paradoxerweise kann diese Distanz eine Art Nähe zu unserer Umgebung schaffen und hilft uns, uns zu erinnern. „Der Rückzug“, eine Kurzgeschichte von Autorin Lisa Moore, die in St-John’s, Neufundland lebt.

Die Osterglocken auf der Verkehrsinsel gegenüber von der anglikanischen Kathedrale sind anämisch, als habe der Nebel ihnen das Gelb aus den Blüten gesogen. Die Stiele sind kurz und die blassen Blütenblätter zugefaltet. Ich bin auf dem Weg zu Fixed, um mir einen Kaffee zu holen und dann hinauf zu Signal Hill, um nach Eisbergen Ausschau zu halten.

Ein Klumpen Schleim auf dem Bürgersteig, graugrüner Auswurf, und ein dunkelrotes Blutgerinnsel.

Fast wäre ich hineingetreten.

Ein Mann vor dem Gericht schwingt einen Rasentrimmer. Er zieht an einer Schnur und das Ding heult auf. Jedes Mal, wenn die Schneide auf einen Stein trifft, ertönt ein schrilles Geräusch, das von den South Side Hills widerhallt. Es riecht nach Benzin und gemähtem Rasen.

Ich habe gehört, dass ein Eisberg in der Nähe von Cape Spear auf Grund gelaufen ist. Ich kann seinen kalten Atem im Nebel spüren. Meine Mutter und ich sind vor zwei Wochen hier vorbei gefahren.

Ich möchte deinen Vater exhumieren lassen, hatte sie gesagt.

Ihn exhumieren lassen?

Weil ich will, dass unsere Asche vermischt wird.

Um diese Zeit im Jahr, im Mai, war mein Vater vor vierunddreißig Jahren, gestorben. Selbst in guten Jahren, wenn das Wetter sich von seiner besten Seite zeigt, dauert es lange, bis im Mai alles warm wird. Wir haben keinen richtigen Frühling.

Wie machen sie das, fragte meine Mutter. Tote exhumieren?

Ich glaube, das ist ziemlich teuer, sagte ich. Kannst du dich nicht einfach neben ihm begraben lassen?

Das ist nicht dasselbe, sagte sie. Ich möchte, dass sich unsere Asche vermengt. Er ist wahrscheinlich sowieso nicht mehr da.

Was meinst du, nicht mehr da? fragte ich.

Diesen verflixten Hügel hinuntergespült, sagte sie. Mein Vater ist auf einem Friedhof oben auf dem Hügel in Portugal Cove begraben, eine halbe Autostunde von der Stadt entfernt. Am Fuß des Hügels liegt ein Wald, eine Straße, dann das Meer und Bell Island. Wir gehen nicht häufig auf den Friedhof.

Duckworth Street in St-John's Duckworth Street in St-John's | Foto (Ausschnitt): Zach Bonnell Auf der Duckworth Street sind heute Morgen große Bauarbeiten im Gange. Männer in orangen Arbeitswesten mit einem Kreuz aus Reflektorstreifen auf dem Rücken werfen Holz aus einem Gebäude, das sie renovieren.

Manchmal scheint es mir, als könnte ich die fluoreszierende Farbe, die schimmernden Streifen auf den Sicherheitswesten fast schmecken. Das zitronengelbe Leuchten, gedämpft im Tageslicht und strahlend in der Nacht. Ich stelle mir vor, dass, wenn Farben Geschmack hätten, das unnatürliche, fremdartige Gelb jener irisierenden Streifen wie die Bonbonketten schmecken würde, die mein Vater in unserem Gemischtwarenladen für 25 Cents verkaufte, als ich noch klein war. Das spuckfeuchte Gummi der Kette von meinem Hals über mein Kinn, ziehen, es zwischen die Zähne nehmen und einen Bonbon nach dem anderen zerbeißen. Oder Brausepulver, das auf der Zunge prickelte . Oder saure Schnuller.

Jedes Jahr kümmert sich meine Schwester um das Grab meines Vaters, aber letzte Woche sagte sie mir: Jetzt bist du dran.

Sie sagte: Vor meiner Tür steht ein Sack mit Grassamen, den du abholen kannst. Nimm ihn mit. Streue einfach alles über das Grab.

Die Betoneinfassung des Grabs war geborsten, Stücke ausgebrochen. Der große Leinensack war sehr schwer. Ich löste die Schnur am oberen Ende und die Öffnung klaffte. Es war mühsam, ihn hochzuheben. Ich versuchte, ihn auf meiner Hüfte abzustützen und dabei die Öffnung auf das Grab auszurichten. Dann strömte der Samen hinaus. Ich stützte einen Fuß auf die Reste der Betoneinfassung und versuchte, den Samenstrom in unterschiedliche Richtungen zu schlenkern und zu schütteln, indem ich mit dem angewinkelten Knie von unten gegen den Sack stieß. Staubig und grün riechender Samen, der anfangs unhandliche und dann immer leichtere Sack, der Samen, der über die Risse der zerbrochenen Betoneinfassung und auf den nackten Boden des Grabs rieselte. Bis nur noch ein Rinnsal übrig blieb und dann war der Sack leer. Ich rief meine Schwester auf meinem Handy an und der Empfang war sehr gut. Es war, als stünden wir nebeneinander. Meine Hände waren taub, da es noch so kalt war.

Ist das alles? fragte ich.

Meine Mutter stützte eine Hand auf das Armaturenbrett des Autos, als wollte sie verhindern, bei einem Unfall durch die Windschutzscheibe zu fliegen, dabei fuhr ich mit vernünftiger Geschwindigkeit und bin ein vorsichtiger Fahrer.

Hätten wir in bloß einäschern lassen, sagte meine Mutter. Damals wurde niemand eingeäschert.

Nach einer Pause sagte sie, Tante Darlene hat sich verliebt.

Die Schwester meiner Mutter. Sie ist achtzig. Seit mein Onkel Kevin vor sechzehn Jahren starb, sind beide zusammen Witwen gewesen. Jedes Jahr seit Kevins Tod sind sie um diese Jahreszeit zusammen nach Florida gereist. Sie gehen an den Strand und trinken Whisky Cola, betrachten den Sonnenuntergang. Manchmal gehen sie baden. Manchmal liegen sie nur den ganzen Tag in der Sonne und werden dabei so schwarz wie die Moorleichen, die sie in Dänemark ausgegraben haben.

Wir saugen einfach die Schönheit in uns auf, pflegt meine Tante Darlene zu sagen.

Doch dieses Jahr konnte meine Mutter nicht mitkommen, und so reiste Tante Darlene mit ihrem neuen Freund.

Meine Mutter klappte den Make-up-Spiegel herunter und prüfte ihren Lippenstift. Ich nehme an, sie war mit dem Ergebnis zufrieden, denn sie ließ die Sonnenblende wieder hochschnellen.

Sie erzählte, dass sie Tante Darlene und ihr neuer Freund einen Tag nach deren Rückkehr aus Florida zum Mittagessen eingeladen hatten. Darlene wollte mich sofort sehen, sagte meine Mutter.

Darlenes Freund erzählte meiner Mutter, dass Tante Darlene ganz in Schwarz gekleidet in Florida angekommen war.

Er hat sie dazu gebracht, es abzulegen, sagte meine Mutter. Er sagte, Darlene, zieh dir was Buntes an. Und das hat sie gemacht. Da unten trug sie bunte Farben. Und die trägt sie immer noch.

Was hältst du davon, fragte ich.

Ich finde das großartig, sagte meine Mutter

Danach stritten wir uns darüber, ob ich vor der Universität bei Gelb hätte über die Ampel fahren sollen oder nicht. Ich sagte, ich hätte reichlich Zeit gehabt, über die Kreuzung zu fahren, bevor es rot wurde. Meine Mutter sagte, es eile doch nicht. Sie fragte mich, weshalb es verdammt nochmal überhaupt so dränge. Wir hatten dann noch einmal einen kurzen Streit, diesmal über den besten Weg zum Krankenhaus. Ich sagte, ich würde sie gerne hinfahren, egal welchen Weg sie nehmen wollte. Sie sagte, sie wolle überhaupt nicht dort hinfahren.

Dann waren wir still. Sie hatte ihre Handtasche vom Boden des Autos aufgehoben, wo sie neben ihren Lederstiefeln gestanden hatte. Sie hatte das Streusalz mit Essig vom Leder entfernt, eine Methode, über die sie im Internet gelesen hatte. Im Auto roch es jetzt wie Pommes frites, doch ihre Stiefel waren in einwandfreiem Zustand. Sie hielt die Handtasche fest gegen ihre Brust.Ich fragte sie, ob sie schon auf dem Hügel gewesen war, um die Eisberge zu sehen. Ihr Gesicht hellte auf: Sind sie nicht herrlich!

Den großen hatte ich gestern sogar kalben sehen. Ich war oben auf Signal Hill, als es geschah. Es dauert lange. Anfangs geht es sehr langsam. Man bemerkt das Geräusch, wie ein Schrei. Ein Schmerzensschrei. Aber vielleicht hat das nichts Menschliches. Das Auseinanderbrechen.

Ein Teil gleitet vom andern herab. Gleitet weg. Beide Teile brechen auseinander, eine Hälfte rutscht hinunter und kippt dabei nach hinten um. Das Wasser spritzt zwei Stockwerke hoch. Das Meer brodelt, während der Eisbrocken versinkt.

Meine Mutter sagte: Die beiden sind wirklich in einander verschossen. Er sagte mir, Darlene habe Angst, mich zu verlieren.

Was hast du dazu gesagt, fragte ich sie.

Ich sagte ihm, das sei reiner Unsinn.

Bei Fixed riecht es nach Kaffee und Brot. Die Fenster sind beschlagen. Ich besorge mir einen Kaffee zum Mitnehmen. Dann gehe ich den Hügel hinauf, an Dead Man’s Pond und dem Geo-Center und dem neuen Interpretationszentrum vorbei. Dicke Nebelschwaden ziehen herauf. Aber den Eisberg draußen bei Cape Spear kann ich sehen. Das Blau des Eisbergs ist eisbergblau. Nichts sonst hat diese Farbe. Nichts auf der ganzen Welt. Der Farbton hat eine Intensität, die irgendwie mit dem Alter zusammenhängen muss. Das Eis ist natürlich sehr alt, und es schmilzt, löst sich auf. Da haben wir den großen Rückzug des Eises. Vielleicht hat die Farbe etwas damit zu tun. Wie diese Farbe schmecken würde, kann ich mir nicht vorstellen.