Joel Garcia
Bindungen an unsichtbare Monumente

Altar von Homeboy Industries im Grand Park im Rahmen der „Noche de Ofrenda“ von Self Help Graphics & Art. Der Altar wurde 2014 von ehemaligen und derzeitigen Bandenmitgliedern errichtet und soll Menschen gedenken, die durch Straßengewalt und Inhaftierung ihr Leben ließen.
Altar von Homeboy Industries im Grand Park im Rahmen der „Noche de Ofrenda“ von Self Help Graphics & Art. Der Altar wurde 2014 von ehemaligen und derzeitigen Bandenmitgliedern errichtet und soll Menschen gedenken, die durch Straßengewalt und Inhaftierung ihr Leben ließen. | Foto: © Javier Guillen

Ich wuchs in den 1990er-Jahren in East Los Angeles auf und besuchte während dieser Zeit dieJunior und Senior High School. In diesem Jahrzehnt wurde ich 18, und ich wurde mir nicht nur meinerselbst bewusst, sondern auch meiner Beziehung zur Welt außerhalb von East Los Angeles. Anders ausgedrückt, politisierte ich mich.

In diesem jungen Alter lernte ich, mit verschiedenen Realitäten zu leben, wie diese ineinandergriffen und sich auch gegenseitig beeinflussten – Intersektionalität, wenn man es so nennen will. Und so trat der Jugendliche, der seit dem ersten Schuljahr eine Begabtenklasse besuchte, der dabei war, vorzeitig seinen Schulabschluss zu machen und aus einer mustergültigen christlichen Familie stammte, der in armen Verhältnissen in einer Sozialbausiedlung aufgewachsen war, einer Bande bei, wurde aktives Mitglied der Punkbewegung in East Los Angeles, Teil der Graffiti-Szene und ging bei dem bekannten Wandmaler Paul Botello in die Lehre.

Der Aufstand der Zapatistas

Dieser Jugendliche radikalisierte sich durch den Aufstand der Zapatistas 1994, die Unruhen 1992 in Los Angeles, die Black Water Mesa Coalition, die 1996 erfolgte Gründung der October 22 Coalition gegen Polizeigewalt, die Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation in Seattle 1999, die Bewegung Food Not Bombs, den Parteitag der Demokratischen Partei 2000, die Wahlinitiative California Proposition 187 von 1994 und andere hoch politische Ereignisse, die vielleicht nicht öffentlich erwähnt werden sollten. Er entwickelte sich zu einem Künstler, Kunstverwalter und Kulturschaffenden, der in indigenen Formen der Organisationsarbeit verwurzelt ist. Im Kern all dessen steht die Beziehung zu Land, Ort und Erinnerung und den mangelnden Zugang dazu, sei es dauerhaft oder zeitweilig.

Der Aufstand der Zapatistas bot meiner Generation die Gelegenheit, an die Arbeit des Chicano Movements (Anm.: Chicano ist eine Bezeichnung für in den USA lebende Mexikaner und ihre Nachfahren) anzuknüpfen. Das war eine Jugendbewegung, die in der Ausstellung „La Raza“ am Autry Museum of the American West sehr eindrücklich vorgestellt wurde. Kurz gesagt, wurde das Chicano Movement nach dem Chicano Moratorium, einer Bewegung von Kriegsgegner*innen, die ein breites Bündnis mexikanisch-amerikanischer Gruppen aufbauten und den Widerstand gegen den Vietnamkrieg organisierten, zu einer nationalen Bewegung.

Unter Führung von Aktivist*innen lokaler Hochschulen und Mitgliedern der Brown Berets, einer Gruppe, die in der Studentenbewegung und den Hochschulbesetzungen von 1968 ihren Ursprung hatte, gipfelte das Bündnis am 29. August 1970 in einer Protestveranstaltung in East Los Angeles, an der sich 30.000 Demonstrant*innen beteiligten und die im Laguna Park ihren Höhepunkt fand. An jenem Nachmittag griff die Polizei die Menge an und tötete vier Menschen, darunter Ruben Salazar, einen Journalisten der LA Times, der die Gewalt der Polizei gegen die mexikanisch-amerikanische Community kritisiert hatte. Der Park ist heute nach ihm benannt. Im vergangenen Jahr wurden drei weitere Menschen in diesem Park von derselben Polizeibehörde getötet. Die Jugendbewegung war international einflussreich und prägte auch meine Arbeit.

Begegnungsräume

In den 1990er-Jahren gab es nur einen stationären Raum, der den Leuten in East Los Angeles als Gemeindezentrum diente. Dabei handelte es sich um Self Help Graphics & Art, das jedoch für meine Generation größtenteils nicht zugänglich war. Es war keine bewusst konzipierte Begegnungsstätte, sondern wurde von Leuten für ihre Aktivitäten in Bezug auf die oben aufgeführten Auseinandersetzungen genutzt. Und als solches wurden viele Räume und Veranstaltungsorte zu einem Treffpunkt für radikale Politik, von Punkshows in Hinterhöfen über Benefizveranstaltungen in den Lagerhäusern des heute gentrifizierten Arts District bis zu dem 1995 existierenden Peace & Justice Center, einem besetzten Gebäude, in dem Jugendliche einer kulturellen Revolution in Los Angeles Vorschub leisteten, die ein paar Jahre zuvor aufgekeimt war. All das beeinflusste meine Herangehensweise bei der Arbeit mit bestimmten Communitys wie meiner hier in East Los Angeles und anderen in Downtown Los Angeles, Highland Park, Pomona im östlichen Zipfel des County und international.

Wer hätte ahnen können, dass ich Jahre später eng mit einigen der Anführer*innen der Bewegungen zusammenarbeiten würde, die mich als Jugendlicher geprägt hatten? Ich habe mit hochrangigen indigenen Vertreter*innen von ganz Mexiko zusammengesessen, habe mit ihnen zusammengesessen und von ihnen gelernt, Seite an Seite mit ihnen organisiert. Durch den Kampf gegen die Räumung der South Central Farm in Los Angeles konnte ich mein Organisationsvermögen schulen und meine künstlerische Fähigkeit und Kreativität einbringen, um Botschaften für ein unpolitisches wie auch politisches Publikum zu visualisieren und zu kommentieren. Beruflich hatte ich die Ehre, Albumcover für Musiker*innen von Epitaph Records zu entwerfen und so in ihre Herangehensweise und Philosophie bei der Arbeit mit Kreativen einzutauchen. Von ihnen lernte ich, kreative Einzelpersonen und Gruppen als Ökosysteme zu betrachten, die genährt werden müssen. Bei meiner Tätigkeit im Self Help Graphics & Art von 2010 bis 2018 brachte ich diese Welten zusammen.
JornARTleros ist ein von Joel konzipiertes Projekt. Es verwandelte Self Help Graphics & Art in ein Designzentrum für Geringverdiener*innen. Es war auf Straßenverkäufer*innen und Tagelöhner*innen ausgerichtet, die dort im Siebdruck unterrichtet wurden. Diesen Unternehmer*innen am Rand der Gesellschaft standen nach dem Workshop mit ihrem Logo versehene Kleidung und ein personalisierter Siebdruck zur Verfügung.
JornARTleros ist ein von Joel konzipiertes Projekt. Es verwandelte Self Help Graphics & Art in ein Designzentrum für Geringverdiener*innen. Es war auf Straßenverkäufer*innen und Tagelöhner*innen ausgerichtet, die dort im Siebdruck unterrichtet wurden. Diesen Unternehmer*innen am Rand der Gesellschaft standen nach dem Workshop mit ihrem Logo versehene Kleidung und ein personalisierter Siebdruck zur Verfügung. | Foto mit freundlicher Genehmigung des Autors
In den vergangenen 15 Jahren haben wir in Communitys, die ebenso vernachlässigt wie East Los Angeles sind, einen Rückgang von Gemeindezentren und einen schwindenden Zugang zu stationären kulturellen Veranstaltungsorten erlebt. Grundstücksspekulationen im Rahmen von Infrastrukturprojekten wie der neuen Metro-Linie „Gold Line“ machten einige Orte unerschwinglich. Veranstaltungs- und Begegnungszentren wie das Self Help Graphics & Art, das East LA Community Youth Center (Cleland House) und der Boys & Girls Club sind aufgrund der Mieterhöhungen entweder weggezogen, geschlossen oder hängen in der Luft, und das betrifft nur die Cesar Chavez Avenue. Dadurch sind Freiflächen wie Parks zu wichtigen Orten für Zusammenkünfte und Veranstaltungen geworden. Durch diesen Wandel und den Fortschritt der Kulturarbeit war die Generation der 1990er-Jahre in der Lage, diese Orte in Orte des Heilens zu verwandeln. Ein solcher Ort ist der Grand Park.

Der Salazar Park und der Grand Park als Orte des Heilens

Der Grand Park umfasst ein Gebiet, auf dem sich auch einst ein Sklavenmarkt befand, wo Angehörige der Tongva und anderer indigenen Völker verkauft wurden. Ebenso wie der Salazar Park ist das Terrain, auf dem sich der Grand Park erstreckt, ein Ort des Traumas für Indigene, einschließlich der Chicano. Kürzlich unternahm ich mit einer Gruppe von Tongva-Ältesten und anderen Einwohner*innen von Los Angeles einen Spaziergang durch die Geschichte am Grand Park, und sie erzählten mir von den Schwierigkeiten, auf denen ihre Familien bei der Gründung von Los Angeles stießen. Um zu überleben, entschieden die Familien irgendwann, dass es besser war, sich zu integrieren, als Tongva zu sein. Zusammen mit vertriebenen Pueblo, Navajo, Lakota, Tohono O‘odham und Angehörigen anderer Stammesvölker, die nach East Los Angeles und Boyle Heights umgesiedelt wurden, schlossen sie sich als Chicano zusammen und spielten eine aktive Rolle im Chicano Movement, besonders die Frauen.

Teil meiner Arbeit bei Self Help Graphics & Art war, ein Programm für die jährlichen Feierlichkeiten zum Día de los Muertos zu erstellen. Das ist ein Fest der indigenen Bevölkerung, das entscheidend dazu beiträgt, Menschen aus allen Teilen der Stadt zusammenzubringen. Aus dieser Aufgabe entwickelte sich 2013 eine Partnerschaft mit dem Grand Park im Rahmen einer als „Noche de Ofrenda“ bekannten gemeinschaftlichen Altarnacht. Als Jugendlicher arbeitete ich in Downtown Los Angeles und pendelte durch den Grand Park. Daher kannte ich die Kolumbus-Statue und erfuhr später, dass einige dagegen protestiert hatten. Als ich als Kulturschaffender in den Park zurückkehrte, um eine Veranstaltung in der Nähe der Statue zu organisieren, war es mir wichtig, deren Sichtbarkeit so weit wie möglich in den Hintergrund zu drängen. Das Narrativ, wonach Kolumbus dieses Land entdeckte und wir davon profitieren, hüllt den Mantel des Vergessens über den Genozid an der indigenen Bevölkerung, der auf Kolumbus‘ Ankunft folgte, und die Leute wandten sich gegen die Statue und wollten die wahre Geschichte dieses Mannes aufdecken.

Glücklicherweise gelang es uns, während der „Noche de Ofrenda“ mit Imbisswagen den Blick auf die Statue zu verstellen. Aber im Herbst 2017, als Stadt und County die Umwidmung des Kolumbus-Tags in den Tag der indigenen Völker feierten, nahm die Statue eine andere Bedeutung an, denn die Umbenennung machte deutlich, dass die Stadt dem falschen Entdeckungsmythos nicht länger folgte. Das war auf den ersten Blick großartig, bewirkte aber im Grunde genommen rein gar nichts, weil keine echten Mittel eingesetzt wurden, um der eigentlichen Geschichte der Landenteignung durch Genozid und/oder der Geschichte der Tongva und Tataviam zur Wahrheit zu verhelfen. Und die Anwesenheit der Statue unterstrich den Wunsch des Countys und der Stadt, die wahre Geschichte zu verschweigen. Großer Dank gebührt den Mitarbeiter*innen des Grand Park, weil sie sensibel für diese Thematik und sich der vielschichtigen Geschichte des Parks bewusst waren und sie würdigten.
Jugendliche feiern auf dem Sockel, auf dem noch Minuten zuvor die Kolumbus-Statue prangte. Die Jugendlichen sprachen darüber, was ihrer Meinung nach anstelle des ehemaligen Monuments treten sollte.
Jugendliche feiern auf dem Sockel, auf dem noch Minuten zuvor die Kolumbus-Statue prangte. Die Jugendlichen sprachen darüber, was ihrer Meinung nach anstelle des ehemaligen Monuments treten sollte. | Foto von Kenneth Lopez
Im September 2017 hatte Hurrikan Maria gerade Puerto Rico verwüstet und tausende Menschenleben gefordert. Doch die Medien berichteten kaum darüber, und da wir mitten in den Feierlichkeiten des Día de los Muertos und der einwöchigen Installation der „Noche de Ofrenda“ im Grand Park waren, wollten die puerto-ricanische (Taino) Künstlerin Tanya Melendez und ich die Kolumbus-Statue zu einem Altar für die Puerto-Ricaner*innen machen, die gerade gestorben waren. Kurz zuvor war die Statue umzäunt worden, weil sie Ziel von Angriffen geworden war. Die Polizei kam und hinderte uns daran, den Altar fertigzustellen. Doch durch unseren Versuch wurde das County zu einer Antwort auf die Forderungen der indigenen Community von Los Angeles nach der Beseitigung der Statue gezwungen. Als die Statue im Jahr darauf demontiert wurde, sprang eine Gruppe von Schülerinnen aus der einzigen indigenen K-12-Schule in Los Angeles auf den Sockel, auf der die Statue soeben noch gestanden hatte, und erhob die Faust. Das war das Gefühl, das viele der hunderten Anwesenden sowie die Tausenden teilten, die Videos und Fotos von der Demontage der Statue verbreiteten.

Ebenso verwandelten im März 2019 eine Mahnwache und ein Altar, ähnlich denen zum Día de los Muertos, den Salazar Park in einen Ort der Heilung – in einen Ort, der den Menschen gedachte, die durch Polizeigewalt den Tod fanden, fünf allein in East Los Angeles im Jahr 2018. Ein spiritueller Lauf, der an drei verschiedenen Orten begann, brachte Familien mit vielen Mitgliedern der Community zusammen und verband Familien, die ohne diese Tragödien einander vielleicht nie begegnet wären. Jahrzehnte nach der Ermordung von Ruben Salazar hat sich wenig geändert — ermutigt durch das derzeitige politische Klima, töten Polizeibeamte und die Polizeibehörde von Los Angeles weiterhin.

Meztli Projects als Plattform der Indigenen

Nach meiner Anstellung bei Self Help Graphics & Art rief ich Meztli Projects ins Leben, um mit indigenen Künstler*innen zusammenzuarbeiten und dabei indigene Völker wie die Tongva, Tataviam und Acjachemen in den Mittelpunkt zu rücken, die ursprünglichen Hüter dieses Landes. Diese Arbeit fußt auf indigenen Formen des Dialogs und der Entscheidungsfindung, ist also nicht hierarchisch und fördert nicht-institutionelle Kompetenz. Mithilfe einer vorgeschlagenen Decolonial Initiative Task Force hoffe ich, Mechanismen schaffen zu können, die Macht und Entscheidungsfindung in die Hände der indigenen Bevölkerung legen, sodass wir die Handlungsgewalt über die Orte gewinnen, die wir zur Zusammenkunft und Heilung nutzen.

Die Geschichte von Los Angeles wird konstant durch den Zustrom von Menschen bedroht, die sich hier in der kreativen Wirtschaft engagieren wollen. Es sind die Abspaltung von der Geschichte und die Auswirkungen des Erinnerungsverlustes, die die Verwurzelung eines Volkes mit einem Ort durchtrennen. Und das können wir nicht zulassen.

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