Biennale de Montréal
Ein Wind des Widerstands weht aus Deutschland

Anne Imhof | Installation Biennale Montréal 2016
Anne Imhof | Installation Biennale Montréal 2016 | Photo: Guy L'Heureux ©Biennale de Montréal

Zur diesjährigen Biennale de Montréal nehmen mehrere Künstlerinnen und Künstler künstlerische, politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Dogmen ins Visier. Zu den aus Deutschland teilnehmenden Künstlern gehört Anne Imhof, die den dritten und letzten Teil ihrer Oper „Angst“ in Montreal präsentiert.

In unserer Welt der Übervernetzung, in der fast keine Sekunde ohne eine Nachricht verstreicht, hat sich hartnäckig der Eindruck festgesetzt, dass ständig irgendwo irgendetwas Wichtiges passiert. Wir leben mehr und mehr in der Angst, etwas zu verpassen, was man nicht verpassen sollte. Oder mit der Furcht, dass wir etwas erst nach allen anderen erfahren, auch wenn das nur eine Minute später geschieht.

Anne Imhof vertritt eine Art Gegenkonzept: die Tatsache, dass in ihren Stücken teilweise „nur sehr wenig geschieht, spielt mit dem Potenzial, dass jederzeit etwas passieren könnte“, sagt die 38-jährige Künstlerin über ihre Arbeit, in der sie Performance, Installation und Malerei miteinander vermischt und dabei insbesondere „Rage“ meint, einen zwischen 2014 und 2015 entwickelten Werkzyklus.

Nichts Wesentliches, nur irgendetwas Beliebiges und insgesamt recht wenig, das ist in etwa der Eindruck, den ein flüchtiger Blick bei den Besuchern des Musée d’art contemporain de Montréal (MAC) hinterlässt. Dort trägt ein Raum seit Mitte Oktober die Handschrift Imhofs. Im Rahmen der Biennale de Montréal hat die Künstlerin, die aus dem hessischen Gießen stammt und in Frankfurt am Main lebt, an zwei Abenden den dritten Teil ihrer „Angst“ betitelten sogenannten „Oper“ aus dem Jahr 2016 vorgestellt. Zurückgelassen hat sie dabei, sozusagen als Bodensatz ihrer Anwesenheit, eine Installation aus Objekten, Abfällen und eine ursprünglich weiße und jetzt verschmutzte Szenerie.

ACHT DEUTSCHE KÜNSTLER UND EIN KURATOR
 

Zur diesjährigen 9. Biennale, an der insgesamt 50 Künstlerinnen und Künstler teilnehmen, ist eine stattliche Delegation aus Deutschland nach Montreal gekommen: acht Künstler, darunter ein Kollektiv, die meisten aus Frankfurt und Berlin, sowie Philippe Pirotte, der Direktor der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste Städelschule.

Unter dem Titel „Le Grand Balcon“, eine Anspielung auf das Theaterstück von Jean Genet „Le Balcon“ aus dem Jahr 1956, hat Pirotte ein umfangreiches Programm entworfen. Es ist getragen von der Idee, dass es möglich und sogar wünschenswert ist, die Ordnung der Dinge zu kippen, sowohl gesellschaftlich als auch ästhetisch. Während die Handlung bei Genet in einem Bordell stattfindet, sind die Künstlerinnen und Künstler der Biennale de Montréal auf verschiedene Orte, Zeiten und Kontexte verstreut.

In „Angst III“, einer Performance, welche für die Biennale de Montréal mit Unterstützung des Goethe-Instituts Montreal inszeniert wurde, ist bereits die Länge von mehr als vier Stunden ein Indiz dafür, dass die Künstler, zumindest Anne Imhof, verschiedene Parameter anfechten, darunter eine allzu oft bequeme und bereitwillige Haltung der Zuschauer.

„Ich selbst finde nicht, dass „Angst III“ besonders lang oder langatmig ist, aber Langsamkeit kann in der Tat eine Form des Widerstands sein. Geschwindigkeit ist jedoch immer auch etwas sehr Subjektives,“ sagt Anne Imhof.

Wenn man vor den Überresten von „Angst III“ steht, kann sich durchaus das Gefühl einstellen, dass man zu spät gekommen ist, wie am Morgen nach einem Fest, bei dem man nicht dabei war. In dieser Szenerie und um sie herum gibt es indessen so viel zu sehen, so viele zurückgelassene Kleinigkeiten, dass sich dieser erste Eindruck am Ende verflüchtigt. Die Installation regt nicht nur die Vorstellungskraft an, sie fordert auch dazu auf, jedes Element nicht mit einer einzigen Funktion und einer einzigen Definition im Hinterkopf einzuordnen.

„In meinen Arbeiten gibt es keine Bühne im traditionellen Sinne,“ sagt die Künstlerin,  „vielmehr Plattformen, die als Hangout für die Performerinnen und Performer dienen. In Montreal funktionierte die Plattform tatsächlich auch als Bühne für Lieder der Oper, die von Franziska Aigner und Eliza Douglas [zwei Darstellerinnen aus ihrer Gruppe] gesungen wurden. Wie in vorangegangen Aufführungen von „Angst“ [in der Kunsthalle Basel im Juni 2016 und im Hamburger Bahnhof in Berlin im September 2016] wurde die Plattform auch als Leinwand zum Malen benutzt.“

Malen, laufen, sich hinsetzen, essen, trinken, klettern, fallen, aufstehen... Fast vier Stunden lang haben die Darsteller die gleichen Handlungen wiederholt, die gleichen Gesten gemacht, einige davon rätselhaft, andere sinnlos, einige Bewegungen offensichtlich choreographiert, andere hingegen improvisiert. Die Gruppe hat sich sowohl auf der Plattform bewegt als auch zwischen den Zuschauern und damit die Grenzen zwischen Realität und Schauspiel, zwischen Leben und seiner künstlerischen Darstellung durchbrochen.

  • Franziska Aigner in Anne Imhof, Angst III, performed at La Biennale de Montréal, 2016. Photo: Jonas Leihener ©Anne Imhof, Galerie Buchholz, Cologne/Berlin/New York and Galerie Isabella Bortolozzi, Berlin.

    Franziska Aigner in Anne Imhof, Angst III, performed at La Biennale de Montréal, 2016.

  • Anne Imhof, Angst III, performed bei La Biennale de Montréal, 2016. Foto: Jonas Leihener. Courtesy the artist, Galerie Buchholz, Cologne/Berlin/New York and Galerie Isabella Bortolozzi, Berlin.

    Anne Imhof, Angst III, performed bei La Biennale de Montréal, 2016.

  • Photo: Jonas Leihener. Courtesy the artist, Galerie Buchholz, Cologne/Berlin/New York and Galerie Isabella Bortolozzi, Berlin. Photo: Jonas Leihener. Courtesy the artist, Galerie Buchholz, Cologne/Berlin/New York and Galerie Isabella Bortolozzi, Berlin.

    Photo: Jonas Leihener. Courtesy the artist, Galerie Buchholz, Cologne/Berlin/New York and Galerie Isabella Bortolozzi, Berlin.

  • Franziska Aigner und Eliza Douglas in Anne Imhof, Angst III, bei La Biennale de Montréal, 2016 Foto: Jonas Leihener. Courtesy Biennale de Montréal

    Franziska Aigner und Eliza Douglas in Anne Imhof, Angst III, bei La Biennale de Montréal, 2016

  • Anne Imhof, Angst III, bei La Biennale de Montréal, 2016 Foto: Jonas Leihener. Courtesy Biennale de Montréal

    Anne Imhof, Angst III, bei La Biennale de Montréal, 2016

  • Angst III, La Biennale de Montréal, 2016 Foto: Jonas Leihener. Courtesy Biennale de Montréal

    Angst III, La Biennale de Montréal, 2016

 

MENSCHEN UND FALKEN

Die Protagonisten sind zugleich menschliche Skulpturen, Tänzer und Individuen wie du und ich. Sie entfalten sich in einer gedämpften Welt, unter einem Dunstschleier hingehauchter kanonischer Gesänge. Die Oper „Angst“ ist eine gesellschaftliche Metapher, ein Portrait einer undefinierbaren Gemeinschaft, wo die Formen des Austauschs kodiert und ritualisiert und so ambivalent sind, dass sie sich keiner Kategorie zuordnen lassen. Verführung, Zurückweisung oder beides zugleich? Machtkämpfe oder gegenseitige Hilfe und gegenseitiges Aufopfern?

Die Doppeldeutigkeit wird noch offenkundiger, als sich mehrere Falken auf der Plattform von „Angst III“ niederlassen – echte Falken mit Krallen und Federn. Die Künstlerin setzt bereits seit ihrem Werk „Aqua Leo“ im Jahr 2013 lebende Tiere bei ihren Aufführungen ein. In Montreal waren es also fünf Falken, die auf ihren Stangen darauf warteten, von den Darstellern ins Geschehen einbezogen zu werden.

„Ich mag es, mit Tieren als Darstellern zu arbeiten, solange es ihnen dabei gut geht.. Falken und die Beziehung zu ihren Falknern, dieser Aspekt von Disziplin und Unterwerfung, faszinieren mich schon länger. Falken gehören zu den schnellsten Tieren und sie sehen alles. Bei der Aufführung des Werks in Montreal vermitteln sie Unbeweglichkeit und Stärke zugleich. Außerdem sind sie drollig, wie VIP-Gäste mit Leinen um ihre Krallen.“
 
  • Anne Imhof, Angst III, à La Biennale de Montréal, 2016 Photo: Jonas Leihener. Courtesy Biennale de Montréal

    Anne Imhof, Angst III, à La Biennale de Montréal, 2016

  • Anne Imhof, Angst III, à La Biennale de Montréal, 2016 Photo: Jonas Leihener. Courtesy Biennale de Montréal

    Anne Imhof, Angst III, à La Biennale de Montréal, 2016

  • Anne Imhof, Angst III, à La Biennale de Montréal, 2016 Photo: Jonas Leihener. Courtesy Biennale de Montréal

    Anne Imhof, Angst III, à La Biennale de Montréal, 2016

  • Billy Bultheel, Frances Chiaverini et Emma Daniel dans Anne Imhof, Angst III, à La Biennale de Montréal, 2016 Photo: Jonas Leihener. Courtesy the artist, Galerie Buchholz, Cologne/Berlin/New York and Galerie Isabella Bortolozzi, Berlin.

    Billy Bultheel, Frances Chiaverini et Emma Daniel dans Anne Imhof, Angst III, à La Biennale de Montréal, 2016

  • Emma Daniel et Josh Johnson dans Anne Imhof, Angst III, à La Biennale de Montréal, 2016 Photo: Jonas Leihener. Courtesy the artist, Galerie Buchholz, Cologne/Berlin/New York and Galerie Isabella Bortolozzi, Berlin

    Emma Daniel et Josh Johnson dans Anne Imhof, Angst III, à La Biennale de Montréal, 2016

 

PROTEST GEGEN DIE OBRIGKEIT

Das Verhältnis zur Staatsmacht zieht sich wie ein roter Faden durch fast die gesamte Biennnale, deren Ausstellungsorte sich über vier Stadtviertel erstrecken. Die deutschen Künstlerinnen und Künstler greifen das Thema auf vielfältige Weise auf.

Die Arbeit von Luzie Mayer, einer in Tübingen geborenen Künstlerin, die in Frankfurt lebt, weist direkte Parallelen zur  literarischen Vorgabe des Kurators auf. Im Video „The Balcony“, das im MAC gezeigt wurde, spiegelt sich das Werk von Jean Genet. Der Erzählstrom wird zu einem Wirrwarr aus Klangeffekten, brüsken Einschnitten, Wiederholungen und der Wiederaufnahme von Szenen. Im Vergleich könnte man die Prostituierte aus Genets Stück hier in der Regisseurin wiedererkennen, und der politische und gesellschaftliche Diskurs wird in die künstlerische Sphäre umgesiedelt.

Judith Hopf, die aus Berlin stammt und dort lebt, ist mit mehr als einem Werk vertreten. Ihre Arbeiten werden gesammelt in einem Raum der UQAM Galerie gezeigt. Sie umfassen drei Kurzvideos von 1 bis 3 Minuten, bei denen drei Geräte (Tablet, Flachbildschirm und Smartphone) jeweils auf einem Möbelstück angebracht sind. Und anders als sonst üblich werden die Namen der Möbelstücke zuerst genannt und dann erst die Videos: Untitled (Bench Sculpture) von 2016 mit dem Video More von 2015; Untitled (Table Scuplture) von 2016 mit dem Video Lily’s Laptop von 2013; sowie Untitled (Plinth Sculpture) mit dem Video The Evil Faerie von 2007.
 
  • Judith Hopf bei der Biennale de Montréal 2016 Foto: Guy L'Heureux ©Biennale de Montréal

    Judith Hopf bei der Biennale de Montréal 2016

  • Judith Hopf, Biennale de Montréal 2016 Foto: Guy L'Heureux ©Biennale de Montréal

    Judith Hopf, Biennale de Montréal 2016

  • Judith Hopf, Biennale de Montréal 2016 Photo: Guy L'Heureux ©Biennale de Montréal

    Judith Hopf, Biennale de Montréal 2016

  • Luzie Meyer, Biennale de Montréal Foto: Guy L'Heureux ©Biennale de Montréal

    Luzie Meyer, Biennale de Montréal

  • Luzie Meyer, Biennale de Montréal Foto: Guy L'Heureux ©Biennale de Montréal

    Luzie Meyer, Biennale de Montréal

  • Luzie Meyer, Biennale de Montréal Foto: Guy L'Heureux ©Biennale de Montréal

    Luzie Meyer, Biennale de Montréal

  • Lena Henke, Biennale de Montréal Foto: Guy L'Heureux ©Biennale de Montréal

    Lena Henke, Biennale de Montréal

  • Lena Henke, Biennale de Montréal Photo: Guy L'Heureux ©Biennale de Montréal

    Lena Henke, Biennale de Montréal

  • Lena Henke, Biennale de Montréal Photo: Guy L'Heureux ©Biennale de Montréal

    Lena Henke, Biennale de Montréal


Machtverhältnisse, Hierarchien, gesellschaftliche Konventionen, der (schöne) Schein... In vielfacher Hinsicht rütteln die Arbeiten von Judith Hopf an etablierten Dingen. Und bevor man überhaupt herausfindet, was die Bildschirme zeigen, muss man als Betrachter bereits seine Position und sich selbst anpassen.

Unter den drei Videos ist Lily’s Laptop zweifelsohne dasjenige, was am besten den schwarzen Humor der Künstlerin illustriert (das Video ist jedoch in Farbe). Es ähnelt einer Burleske aus der Zeit des Stummfilms, auf die sich die Künstlerin gern bezieht. In diesem Video mit Ton, jedoch ohne Dialog, widersetzt sich eine junge Frau den Anweisungen der Besitzer einer Wohnung, die ihr anvertraut ist, und überschwemmt die gesamte elegante Behausung.

In einem Interview der Online-Zeitschrift Artspace im Februar 2015 rief Hopf dazu auf, das Absurde schätzen zu lernen, in diesem Fall Dummheit, und sie als starke Energiequellen anzusehen. „Wenn wir versuchen, über radikale Gesellschaftskritik ein stärkeres Bewusstsein für Ungleichheit zu entwickeln, dann sollten wir zumindest auch Denkweisen und Verhalten akzeptieren, die nicht intelligent sind und die vielleicht als ‘dumm’ angesehen werden. Ich denke, wenn wir solche anderen Energien einbinden, anstatt auf sie herabzusehen, eröffnet uns das neue Möglichkeiten.“

Die Künstlerin erklärt dem Bürgertum und dem Establishment nicht den Krieg, aber sie sagt, es war nicht leicht, in Europa als weibliche Künstlerin Leute zum Lachen zu bringen. Umso besser, wenn die Leute darüber lachen, das war es dann schon Wert.

Isa Genzken, gebürtig aus Bad Oldesloe und in Berlin ansässig, arbeitet seit 40 Jahren in den verschiedensten Medien, darunter Malerei, Fotografie, Collage, Zeichnung und Film. Für die Biennale de Montréal hat sie eine Skulptur geschaffen, die aus ihrer Serie „Schauspieler“ entstanden ist. Die lebensgroßen Figuren stehen für Identitätsverfremdung.

Die Gruppe „Schauspieler III, I“ (2015), die im MAC ausgestellt ist, umfasst sieben stehende Schaufensterpuppen, die lebensechter als in früheren Versionen erscheinen. Die Gruppe bildet einen Kreis und man kann sich vorstellen, dass die Personen eine Art Ritual vollziehen, an dem alle beteiligt sind und das dennoch undefinierbar ist. Die breite Palette unterschiedlicher Kleidungsfarben ist für sich allein schon eine Art Identitätscollage. Als Zwischending von Hipster-Mode und Tarnung, Androgynie und politischem Manifest passt die Gruppe gut zum Thema des „Grand Balcon“. Die äußere Erscheinung drückt hier eine Mischung aus Unterwerfung (z.B. unter das Diktat der Mode) aus und gleichzeitig einen klaren Willen, sich zu behaupten und sich loszulösen.

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