Susanne Stephan

Bevor ich in Finnland ankam, dachte ich, ich schreibe vielleicht etwas über Bertolt Brecht. Da hatte ich gerade einige Wochen im Brecht-Haus im dänischen Svendborg verbracht; der Schriftsteller lebte hier von 1933 bis 1939, bis er vor den Truppen Nazi-Deutschlands nach Schweden fliehen musste und von dort im Frühjahr 1940 weiter nach Finnland, das den Emigranten mit seiner Familie aufnahm. Aber dann sind meine eigenen Eindrücke beim Verlassen des (kerosinbetriebenen) Flugzeugs so stark: die Werbung eines finnischen Stromkonzerns mit dem Schlüsselwort "Energy transition". Düfte von Zimt und frisch verarbeitetem Holz. Felsblöcke an Stelle von Loungesesseln, die wirken, als seien sie soeben durch die Decke auf den polierten Boden gekracht. Ich muss an eine Bemerkung meiner Nebensitzerin im Flugzeug denken; als wir uns über die finnische Sprache unterhielten, deren Ursprung noch nicht gänzlich geklärt sei, wie auch die Herkunft der Finnen selbst, meinte sie: „Wir sind Außerirdische!“ Und lachte. Mit der längsten Rolltreppe, die ich je erlebt habe, fahre ich in die granitene Tiefe hinab zur S-Bahn; blicke weiter gebannt auf die gewaltigen Felsen im Wald, zwischen den Häusern, von sehr irdischem Grün, hellen Birken, vielfarbenen Vokalen, bedeckt.
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Wer hat die beste Idee für den Schluss eines Katastrophenfilms, der mitten in der Stadt, zwischen Parlament und Oodi, der avantgardistischen Bibliothek, situiert ist? So lautete ein ungewöhnlicher Wettbewerbsaufruf in Helsinki. In Deutschland würden die drei Gewinnerfilme, die bei der „Night of the Arts“ am 17. August auf einer Großleinwand vor Oodi zu sehen sind, vermutlich heftige Diskussionen über die pädagogische Botschaft auslösen. Da verwandelt ein Virus alle Menschen in Zombies, nur die Kinder nicht. Zwei junge Frauen retten sich als einzige Überlebende einer globalen Katastrophe auf den Balkon des Konzerthauses: „Jetzt bin ich auch hier mal drin gewesen!“ meint die eine und öffnet eine Flasche Sekt. Im dritten Film entsteigt ein Ungeheuer dem verseuchten Meer und zerstört alles, was ihm begegnet, frisst sich auch - zum Vergnügen der Zuschauer - durch die Front der Bibliothek. Nur eine Magierin aus alten Zeiten kann das Monster bezwingen. Eine besondere Zukunftsszenerie habe ich früher am Abend im Design Museum entdeckt: Auf einem Wandteppich der finnischen Künstler IQ-98 und Kustaa Saksi blühen als gewebte Vision aus dem Jahr 4017, wenn die Menschheit wegen der Klimakatastrophe längst verschwunden sein würde, all jene Blumen, deren Samen im nicht-ewigen Eis von Spitzbergen eingelagert waren. Der Anblick ist so wunderschön und traurig zugleich. 
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Sehr viel poetische Energie war beim Runokuu/Poetrymoon-Festival in Helsinki zu spüren. Der Leseort Tiviistämö, ein ehemaliges Fabrikgebäude, befindet sich jedoch auch in einem realenergetisch signifikanten Umfeld: zwei alte Gasometer, ein aktives Kohlekraftwerk. Wie reflektiert Literatur die energetische Situation ihrer Zeit, darüber habe ich mich hier mit Etuu Viren unterhalten, einige Tage später mit Mikaela Jaanti im Goethe-Institut Helsinki sowie mit Claudia Daens in Tampere/Deutsches Haus. Auf dem Weg nach Tiviistämö fällt mir eine kleine Wassermühle auf, die unermüdlich ihr Rädchen in einem Zulauf des Tölöö-Sees dreht. Sie liefert gerade Strom genug, um ein Smartphone aufzuladen. Auf der anderen Seeseite ragt der Turm der Villa Kivi, des Schriftstellerhauses, über den Bäumen empor. Vielleicht sind in diesem Wasserrad, Symbol der neu-alten Wasserkraft, wie auch in literarischen Texten, überlege ich, Ideen bewahrt, die tagesaktuelle Diskussionen mit utopischer Energie "aufladen".
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Sind die Menschen in Finnland reservierter? Der Küster der Kirche in der UNESCO-Stadt Rauma auf jeden Fall nicht. Über kunstgeschichtliche Details gelangen wir recht schnell zur Gegenwart, zum Krieg in der Ukraine und zur Energiefrage. Vor kurzem wurde er von der BBC zum nahegelegenen atomaren Endlager Onkalo interviewt. Einige Bereiche davon kann ich am nächsten Tag besichtigen. Dass um das Info-Center der Kernkraft-Insel Olkiluoto ein Naturlehrpfad mit freier Sicht auf die drei Reaktoren führt, würde in Deutschland gewiss sehr kritische Kommentare provozieren. In Finnland denkt man offensichtlich pragmatischer: Das neue dritte AKW ersetzt den Stromimport aus Russland und wird – wie in Deutschland die Kohle – als Übergang zu einer Energieversorgung aus regenerativen Quellen angesehen. In in ihren Sommerhäusern verzichten die Finninnen und Finnen oft bewusst auf modernen Komfort. Auch in dieses Leben kann ich auf meiner kleinen Westküstenreise kurz eintauchen. Dazu wunderschöne, sprunghaft früher einsetzende Sonnenuntergänge. Und ich muss leider, leider abreisen!
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