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Interview
Stargazing with Carsten Nicolai

Carsten Nicolai schwarz und weiß porträt
Andrey Bold

Am 26. April wird das paneuropäische Orchesterkollektiv s t a r g a z e unter der Leitung von André de Ridder mit dem Elektro-Musiker Carsten Nicolai alias Alva Noto für eine instrumentale, audiovisuelle Live-Performance im Barbican zusammenarbeiten. 

Alva Noto, einer der bekanntesten Vertreter der elektronischen Musikszene seit den 1990er Jahren, komponierte 2020 den vierten Teil seiner "Xerrox"-Serie. Basierend auf dem Konzept der digitalen Replikation von Quellmaterial beschäftigt sich das Projekt "Xerrox" mit der Manipulation von Daten (Melodien) durch endlose Reproduktion. Ein Prozess der Herstellung von Kopien aus Kopien, deren Klänge so verändert werden, dass sie kaum noch mit dem Originalmaterial in Verbindung gebracht werden können. So entsteht ein Klangspektrum mit völlig neuen Klängen: Kopien von Originalen werden selbst zu Originalen. 

Nun hat sich Alva Noto mit dem Orchesterkollektiv s t a r g a z e zusammengetan, um eine speziell für das Ensemble arrangierte Instrumentalversion der "Xerrox"-Serie zu realisieren. Ein multimediales Werk, das Musik mit Video- und Lichtinstallationen verbindet. 

Wir sprachen mit Carsten vor seinem Auftritt über den ostdeutschen Rundfunk, den Zugang zu einer tieferen Bewusstseinsebene und seine besten Tipps für junge Künstler*innen, die in der Welt der elektronischen Musik Fuß fassen wollen. 

Von Lucy Rowan

Wie kam es zu Deiner Beziehung zur elektronischen Musik? 

Keine meiner ersten Erfahrungen mit Musik bezog sich speziell auf elektronische Musik, sondern auf Elemente dieser Musik. Als Kind war ich ein Vogelbeobachter, also ging ich in den Wald, um Vögel zu beobachten und Notizen über ihre Geräusche zu machen, aber nicht durchs Sehen, sondern durchs Hören. Ich glaube, das war meine erste Begegnung oder Auseinandersetzung mit Musik, die einen Großteil der elektronischen Musik auslöste. Die zweite Erfahrung war das Radiohören. Da ich in Ostdeutschland aufgewachsen bin, habe ich versucht, Radiosender im Kurzwellenbereich zu empfangen, und meistens waren die Radiosendungen mit abstrakten Klängen oder Spionagebotschaften überzogen. Sie überdeckten Zahlen oder Nachrichten mit Radiogeräuschen. Die dritte große Inspiration war der Fernseher. Als ich ein Kind war, hatte der TV-Kanal nur ein Testbild und Sinuswellenfrequenzen. 

Welche Musiker*innen findest Du derzeit am beeindruckendsten?

Ich habe immer Phasen, die ich durchlaufe. Im Moment liebe ich Meredith Monk sehr. Ein sehr klassischer Musiker ist natürlich Tōru Takemitsu, und es gibt eine dänische Komponistin, die auch sehr beeindruckend ist: Astrid Sonne. 
 
Eure Veranstaltung im Barbican zeigt ausgewählte Stücke aus Eurer "Xerrox"-Reihe - Könnt Ihr uns ein bisschen mehr über "Xerrox" erzählen, woher Ihr die meiste Inspiration genommen habt und wie Euer Prozess aussah? 

Wir haben zehn Tracks aus den ersten drei Bänden von "Xerrox" für die Show in London ausgewählt. "Xerrox" ist eine Serie von fünf Alben und die Inspiration kommt von einem Kopiergerät namens Xerox, eine sehr frühe Erfindung, die wir wahrscheinlich alle kennen. Für den Titel habe ich das Wort leicht falsch geschrieben. Das Verfahren besteht darin, eine Kopie einer Kopie einer Kopie zu machen, was ich immer sehr beeindruckend fand. Als ich in Japan war, lief im Hotel diese melodische Glockenmusik, die ich aufgenommen habe. Ich habe dann versucht, sie auf meinem Computer abzuspielen, nachdem ich die Dateien kopiert hatte, und aus irgendeinem Grund wurden diese Dateien völlig beschädigt und nur mit halber Geschwindigkeit abgespielt. Das brachte mich auf die Idee, hochauflösende Formate in niedrig auflösende Formate zu kopieren und mit der Interpolation von Geräuschen zu arbeiten, die der Computer erzeugt. Diese Idee war der Ausgangspunkt. Für die ersten beiden Alben habe ich ausgiebig mit diesem Prinzip gearbeitet.

Vielleicht später, für Album drei und vier, bin ich im Grunde wieder zur ursprünglichen Komposition von mehr melodischen Teilen zurückgekehrt und die klassische Struktur der Stücke ist etwas mehr in den Vordergrund gerückt.

Das Einzigartige an Deiner Arbeit ist, dass Du Samples immer wieder neu erfindest und überarbeitest, so dass ganz neue Stücke und Subgenres entstehen - was gefällt Dir an dieser Art des Schaffens am meisten? 

Was mir am meisten Spaß macht, ist, dass es mehrere Prozesse gibt. Ich brauche normalerweise ziemlich lange, um diese Stücke zu schreiben, und oft sammle ich sie über Jahre hinweg. Bevor ich dann in den eigentlichen Aufnahmeprozess einsteige und sie finalisiere. Es gibt zwei Hauptschritte, einer ist die Erstellung des melodischen Teils und der zweite Prozess, den ich sehr genieße, ist die Arbeit mit melodischen Metaphern - sie zu manipulieren, zu verzerren, zu zerstören und in verschiedene Klangqualitäten zu interpolieren. Manchmal verwende ich sehr experimentelle und ungewöhnliche Methoden, was bedeutet, dass ich nie weiß, was das Ergebnis sein wird. Wenn man anfängt, Feedback-Systeme oder sehr grobkörnige Bitratenänderungen zu verwenden, ist das Ergebnis völlig unkontrollierbar, was bedeutet, dass dieser Schritt der organischste und kreativste ist.

Dein künstlerischer Prozess scheint sich an der Grenze zwischen Kunst und Wissenschaft zu bewegen. Wie können wir die Wissenschaft oder die Mathematik nutzen, um Musik besser zu verstehen?

Ich denke, Musik hat immer etwas mit Mathematik zu tun - Tonleiter und Proportionen, die Natur von Tönen und notierten Tönen. Ich bin nicht so sehr daran interessiert, mehr Bewusstsein zu schaffen, wenn ich Musik höre. Für mich ist es interessant, mit Musik auf einer tieferen Hörebene zu arbeiten, wo man nicht unbedingt sein Verständnis einschalten muss. Das ist das Schönste an der Musik oder am Klang im Allgemeinen, dass sie uns auf einer sehr direkten Ebene ansprechen kann, ohne dass wir alles verstehen oder in einen Kontext stellen müssen. Sie tauchen einfach in eine tiefere Bewusstseinsebene ein. Und das ist etwas, was wir noch nicht ganz verstehen oder was wir nur schwer erklären können, wie das geschieht. Es muss noch viel geforscht werden, um zu verstehen, wie wir das wahrnehmen und wie unser Gehirn Musik versteht, ohne sich dessen allzu bewusst zu sein. Für mich ist das interessanter als die rein mathematische Seite oder die Logik der Musik.

Was haltest Du davon, Deine Musik mit einem Live-Orchester zu realisieren? Was sind die Möglichkeiten und/oder Grenzen dabei? 

Die Arbeit mit einem Orchester ist natürlich eine Herausforderung und hat eine ganz andere Qualität als die Arbeit in einer kontrollierten Umgebung, wie mit einem Computer oder in einer Studiosituation. Im Orchester gibt es viele menschliche Aspekte, und die Qualität der Stücke ist anders. Ich denke, die größte Chance besteht darin, dass sie von anderen Musiker*innen gespielt werden kann, nicht nur von mir, und dass die Musik mit verschiedenen Instrumenten neu erfunden werden kann, so wie sie ursprünglich komponiert wurde. Das ist der schönste Teil. Das Schwierigste daran ist, dass es unmöglich ist, jedes Mal, wenn man spielt, die gleiche Klangqualität zu erzeugen. Selbst wenn wir spielen, ist es jedes Mal anders, alles hat ein Leben - das Mikrofon, die Temperatur des Raumes, alles hat einen Einfluss auf dich. Ich bin es gewohnt, in einer sehr kontrollierten Umgebung zu arbeiten, in der ich auf die Klangqualität jedes einzelnen Elements meiner Kompositionen achten kann, und das ist eine Herausforderung.

Am Goethe-Institut London arbeiten wir ständig daran, die kulturellen Beziehungen Großbritanniens zu Deutschland zu fördern - wie war Deine Beziehung zu Großbritannien während Deiner gesamten musikalischen Karriere? 

Ich hatte immer eine sehr enge Beziehung zu London oder zum Vereinigten Königreich. Ich wurde im Vereinigten Königreich immer herzlich willkommen geheißen. Ich habe viele Freunde, viele Labels, Magazine und Shops, die meine Musik von Anfang an unterstützt haben. Das Wire-Magazin war eines der ersten Musikmagazine, das über meine Musik schrieb, und britische Labels, die unsere Leistungen anerkannten. Diese Art der Anerkennung führte zu einer sehr engen Zusammenarbeit, bei der ich viele Ausstellungen und Auftritte im ganzen Vereinigten Königreich hatte. Ich habe eine lebenslange Beziehung zum Vereinigten Königreich, aus der sich viele gute Freunde entwickelt haben. 

Wie können wir den musikalischen Austausch zwischen Deutschland und dem Vereinigten Königreich weiter fördern? Was können Künstler*innen, Kultureinrichtungen und Regierungen besser machen? 

Eines der größten Probleme für Musiker*innen ist der Brexit. Der ganze Papierkram und die Logistik machen es viel schwieriger, sich so einfach auszutauschen. Ich wünschte, wir könnten zu einer Situation zurückkehren, in der wir uns offener und weniger reglementiert fühlen, weniger Papierkram wäre viel besser für den Austausch. Dies wurde schon oft empfohlen, und wir wissen, was passieren muss, damit sich die Situation verbessert - die Barrieren müssen abgebaut werden, damit der Austausch inklusiver wird.

Was ist Dein bester Rat für junge Musiker*innen, die hoffen, in der stark gesättigten elektronischen Szene Fuß zu fassen? 

Mein bester Rat für junge Musiker*innen ist, an die eigene Sache zu glauben, konsequent zu sein und "einen langen Atem zu haben", wie wir in Deutschland sagen. Folgt eurem Herzen und euren Ideen. So etwas wie einen sofortigen Erfolg gibt es nicht. Menschen erreichen viel, wenn sie ihrer Vision folgen. Manchmal braucht es mehr Zeit, bis die Pflanze anfängt zu wachsen und zu blühen, aber denken Sie daran: Sie müssen sie wachsen lassen!

Hier können Sie noch Karten für die Veranstaltung von Alva Noto + s t a r g a z e buchen.

Bestell-Link für Carstens neues Album NOTON, erhältlich ab dem 5. Mai. 

Stream einer Single aus dem Album. 
 

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