Márió Z. Nemes
Ungarische Posthumanismen

Magyar poszthumanizmusok
© Goethe-Institut Budapest

Der Posthumanismus ist eine heterogene Denkweise und in historischer und methodischer Hinsicht Erbe des Poststrukturalismus. Im Posthumanismus wird die aus dem Verborgenen heraustretende kritische Attitüde erweitert, die in der Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts auch als antihumanistisch bezeichnet wurde. Im Gegensatz zu der im Konzept des Antihumanismus enthaltenen Verleugnung und Zerstörung postuliert der Posthumanismus zugleich nicht einfach den „Tod des Menschen“, sondern fragt, wie sich der Status des „Menschen“ entlang der postmodernen Kritik an den humanistischen Projekten der Moderne verändert.

Die kritische Perspektive richtet sich hauptsächlich auf den eurozentrischen, maskulinen und anthropozentrischen Universalismus, in dem versucht wird, das Konzept des „Menschen“ durch Praktiken der Ausgrenzung und Marginalisierung zu erfassen. Im Gegensatz zu diesem repressiven Humanismus ist der Posthumanismus bestrebt, das „ausgegrenzte“ und nicht anthropozentrische Andere wiederzuentdecken und darauf hinzuweisen, dass der Mensch schon immer von seiner inneren Angst vor dem Nicht-Menschlichen getrieben ist, die „menschliche Exzellenz“ seiner selbst zu konstruieren.

Neben dieser oben formulierten (und von den meisten Richtungen akzeptierten) Hauptrichtlinie ist jedoch hervorzuheben, dass wir im Fall des Posthumanismus nicht von einem bestimmten und kohärenten Denksystem sprechen können, da es sich um eine heterogene Gesamtheit von Narrativen handelt, in der die Zukunftsvisionen der Cyberpunk-Romane, Gedankengänge der postmodernen Theoretiker, pseudo-religiöse Dogmen, Ergebnisse neuester Natur- und Kulturforschung und futurologische Spekulationen in einer gemeinsamen Menge miteinander vermischt werden. Darüber hinaus ist zu erwähnen, dass neben der Vielfalt der Richtungen und eventuellen (Selbst-)Widersprüche auch geokulturelle Unterschiede zu berücksichtigen sind, dass also die Probleme des Posthumanismus aufgrund der spezifischen (historischen, politischen, ökonomischen usw.) Besonderheiten konkreter lokaler Kulturräume jeweils anders erscheinen und artikuliert werden. In folgender Abhandlung möchte ich kurz auf die posthumanistischen Tendenzen im ungarischen Kulturleben und ganz besonders in den Kunstszenen eingehen. Bei dieser Aufgabe erscheint eine kurze Reflexion über den mitteleuropäischen Kontext unumgänglich, da im Vergleich zum Westen der Humanismus oder die futuristische Spekulation in der Kulturgeschichte der postsozialistischen Länder abweichende ideologische und zugleich ästhetische Schwerpunkte aufweisen.

Eines der Merkmale des geistig-kulturellen Lebens in den Jahren nach dem Systemwechsel ist die chaotische Turbulenz der zuströmenden neuen Theorien, überhaupt die Wiederbelebung der Debatten um den Begriff der Postmoderne und dann das rasche Abebben dieser Debatten. Die Postmoderne (insbesondere im philosophisch-ästhetisch-politisch-soziologischen Diskurs) ist bis heute immer noch als eine Art unverdauter Klumpen / Überbleibsel präsent, und das hat viele Folgen, die in diesem Rahmen nicht erörtert werden können. In vielerlei Hinsicht ist der Posthumanismus mit der Postmoderne verbunden, da auch der „Post“-Charakter der kritischen Position (der nicht nur eine Überschreitung, sondern auch eine Art interne Revision anzeigt) zur Stärkung dieses Zusammenhangs beiträgt, während das für die posthumanen Autor*innen charakteristische hybride Kulturbild und auch der dynamische Umgang mit den Grenzen zwischen Populärkultur und Hochkultur ohne den postmodernen Kontext unverständlich oder irritierend bleiben. Als postsozialistisches Merkmal kann aber auch gewertet werden, dass die in den 1990er Jahren erstarkenden theoretischen Positionen (traumatisiert durch die ideologischen Belastungen der sozialistischen Kultur und Wissenschaft) dazu tendierten, die zuströmenden neuen intellektuellen Tendenzen zu entpolitisieren, was zur Ausblendung wichtiger ideologiekritischer Perspektiven führte, die auch für einige Richtungen des Posthumanismus von Bedeutung waren.

Die in Ungarn herrschende Abneigung gegenüber der vernetzten, hybriden Kulturauffassung der Postmoderne war aus dem Grunde problematisch, dass bis zur Jahrtausendwende gerade die mit der Populärkultur assoziierten Genrewerke zu den wichtigsten Vermittlern posthumaner Ideen zählten. Auf dem Höhepunkt des Cyberpunk in den 1990er Jahren kam die ungarische Filmkritik nicht umhin, darüber zu reflektieren, welche Auswirkungen die Cyborgisierung, die digitale Kultur und die virtuelle Realität auf den menschlichen Zustand hatten – zugleich jedoch ging all dies nicht über das essayistische Spiel mit dem Konzept des Posthumanismus hinaus. Eine Ausnahme diesbezüglich bildet der erste bedeutende ungarische Vermittler dieses Ideenkreises (und darin insbesondere der transhumanistischen Richtung), Ferenc Kömlődi, auch bekannt als Kritiker der Zeitschrift Filmvilág (Filmwelt), dessen als Fénykatedrális (Lichtkathedrale, 1999) betiteltes Werk die früheste Publikation in Buchlänge zu diesem Thema war. Der Diskurs verbreitete sich aber nur langsam aus der als „erste Durchbruchstelle“ dienenden filmkritischen Szene heraus. Wollen wir eine Art kulturhistorische Chronologie konstruieren, so war vielleicht die bildende Kunst das nächste wichtige Gebiet, auf dem das auch für massenkulturelle Codes offene Interesse an einer breit gefassten visuellen Kultur die Prozesse unterstützte. Dabei spielte freilich auch der Umstand eine Rolle, dass der Posthumanismus bereits seit Jeffrey Deitchs Gruppenausstellung Post Human im Jahr 1992 als Brand existierte, beziehungsweise die technoästhetische Veränderbarkeit des menschlichen Körpers / der menschlichen Figur für mehrere ausschlaggebende Künstler der 1980er und 1990er Jahre (von Orlan bis hin zu den Chapman-Brüdern) ein relevantes Thema darstellte. Im ungarischen Umfeld hatte diesbezüglich das Wirken von Tibor Gyenes eine Vorreiterrolle, bis dann der Posthumanismus bei der Gruppenausstellung Organs&Extasy in Besztercebánya (Banská Bystrica, Slowakei) 2012 auf deklarative Weise zum Mittelpunkt schöpferischer Strategien wird. Für die Künstler*innen (darunter mehrere Vertreter*innen der sogenannten Budapester Horrorszene), die sich hier präsentierten, wird – im Gegensatz zur Körperskepsis (neo)konzeptualistischer Bestrebungen – die menschliche Figur erneut zum relevanten Thema. Gleichzeitig erscheint die Darstellung von Körper beziehungsweise Mensch nicht als offensichtliche „Gegebenheit“ der Kunst, sondern als ästhetisches und kulturhistorisches Problem, das immer wieder poetische Neuanfänge und Überarbeitungen erfordert. Das kritische Verhältnis zu unterschiedlichen geschlechtsspezifischen, politischen, religiösen und humanistischen Ideologien wird durch jene Erkenntnis der posthumanen Anthropologie genährt, dass die konventionellen Grenzen des Körpers nunmehr aufgelöst sind und der Mensch untrennbar mit maschinellen, tierischen, medialen und weiteren Realitäten vermischt ist. Im Laufe der 2010er Jahre treten dann reihenweise Richtungen auf, die (auch) verschiedenartig posthumanistisch inspiriert sind – von der Postdigital-Art über die Postinternet-Art bis hin zur Anthropozän-Kunst –, die über die Frage der Menschendarstellung hinausgehen und den Diskurs in Richtung der Medientheorie, der Technokritik und der Ökopolitik erweitern. Die Streuung und Vernetzung dieser Richtungen halten bis heute an.

In der zeitgenössischen Literatur taucht der Posthumanismus relativ spät auf. Zwar begann tatsächlich schon in den 1970er und 1980er Jahren der Paradigmenwechsel in der ungarischen Literatur, die sogenannte Prosawende, jedoch wird in diesem Prozess – für den die Namen Péter Nádas und Péter Esterházy stehen – die im angelsächsischen Kontext bedeutsame und für posthumanistische Experimente inspirierende Alternative nicht ausgeschöpft, die Brian McHale postmoderne Science-Fictionisierung nennt. Die Science-Fictionisierung der Postmoderne ist ein Prozess der kulturellen Verwischung, in dem die postmoderne Kunstprosa die Auftriebskraft ihres eigenen, nicht kanonisierten, „niedrigen“ künstlerischen Ebenbilds oder Schwestergenres erkennt. Frühestens in der Zeit nach der Jahrtausendwende wird erst erkennbar, dass – sowohl in der Genreliteratur als auch in der Belletristik bzw. in den interkulturellen Zonen an der Schnittstelle der beiden Bereiche – die Produktion jener spekulativ-fiktiven Werke (Science-Fiction, Horror, Fantasy usw.) ihren Anfang nimmt, die das im technokulturellen Sinne veränderte Beziehungssystem zwischen dem Menschlichen und Nicht-Menschlichen untersuchen. Eine Bahnbrecher-Rolle dabei hat Imre Bartóks Trilogie Virágba borult apokalipszis (Aufblühende Apokalypse, 2013–2015), in deren wuchernder Welt die unterschiedlichsten Genre- und Kultur-Codes aufeinanderprallen – angefangen von der postapokalyptischen Dystopie bis hin zur Heidegger’schen Philosophie.

Die Bartók-Trilogie leitete bezüglich der posthumanistischen Themen eine langsame Gärung in der zeitgenössischen Prosa ein, aber parallel dazu sind auch in der Lyrik zahlreiche humanismuskritische Tendenzen zu erkennen. Eine davon ist die Tierpoetik, die im Kontext der Diskurse zeitgenössischer Tierstudien (animal studies) die Frage nach der Durchlässigkeit der Grenzen zwischen Mensch und Tier erforscht. In diesem Zusammenhang sind vor allem Bände zu erwähnen wie Zoltán Némeths Állati férj (Tierischer Gatte, Kalligram, 2016), Ákos Kele Fodors Echolália (PRAE.HU, 2017) oder Anna Zilahis A bálna nem motívum (Der Wal ist kein Motiv, Magvető, 2017). Auch über die Tierpoetik hinaus gibt es zahlreiche individuelle Fluchtlinien, wie beispielsweise die feministische Cyborg-Ästhetik von Kinga Tóth, die die Phänomene von Mensch, Technik und Krankheit zusammenliest; aber auch die zwischen Lyrik und Prosa pendelnde neosurreale Bizarro Fiction von Zoltán Komor bedient sich in vielerlei Hinsicht des Instrumentariums nichthumaner Ästhetiken. Gleichzeitig scheint es, dass ein weiterer wichtiger Verdichtungspunkt im literarischen Raum in Entstehung begriffen ist: Nennen wir ihn Anthropozän- oder Biopoetik, weil nämlich die Autoren, die hierzu gezählt werden können (Gábor Mezei, Gábor Lanczkor, Tamás Korpa) den Versuch unternehmen, die Natur(lyrik) neu auszurichten.

Es zeigt sich also, dass der Posthumanismus derzeit an vielen Stellen in der Kunstsphäre präsent ist, obwohl es gerade wegen der Heterogenität des Phänomens schwierig ist, die verschiedenen Positionen zu gruppieren oder voneinander zu trennen. Wir befinden uns jenseits der Phase, in der der Begriff selbst unreflektierte Euphorie oder Abneigung hervorgerufen hätte. Die wichtigste Aufgabe für eine interpretatorische Annäherung scheint die vergleichende Analyse der Posthumanismen zu sein, die in den spezifischen ungarischen Verhältnissen eingebunden sind. Das heißt: Es bräuchte konstruktive Debatten, die es vermögen, die Unterschiede zwischen den einzelnen Richtungen bzw. die Konflikte unter den interpretatorischen Werkstätten zu einem produktiven System zu strukturieren. Wenn es schon ungarische Posthumanismen gibt, dann sollten wir wissen, „wie“ sie beschaffen sind und warum sie „ungarisch“ sind. Was haben sie mit unseren lokalen historischen und sozialen Realitäten bzw. den globalen Trends zu tun und in welcher Form nehmen sie darauf Bezug? Inwieweit widerspiegeln sie die Krise des/der postsozialistischen Menschenbildes/Menschenbilder und die auch geokulturell definierte Situation hinsichtlich des Zugangs zur Technik (und damit auch zur Zukunft)?
 

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