Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

Frauen und Krieg
Drei Äpfel

Das Gastgeschenk: ein Apfel aus der Ukraine
Das Gastgeschenk: ein Apfel aus der Ukraine | © Moritz Ellerich

Während wir in Düsseldorf schwarzen Tee mit Zucker trinken, fallen Bomben auf Kiew. Ich bemerke, dass meine Hand zittert, als sie zur Zuckerdose greifen will. „Er löst sich nicht gut auf, der braune Zucker“, tippe ich in die Übersetzungs-App.
 

Von Vera Vorneweg

Vor mir sitzen Tatjana und Lina, 62 und 36 Jahre alt, Mutter und Tochter. Die Architektin und die Buchhalterin sind vor einer Woche gemeinsam mit Linas beiden Kindern aus Kiew geflohen und über Polen, Dresden und Dortmund schließlich bei uns in Düsseldorf angekommen. Als wir sie letzten Sonntag bei uns empfangen haben, brachten sie nur zwei Plastiktüten mit. In der einen befand sich Kleidung, in der anderen Knäckebrot, Wasserflaschen und drei Äpfel. Ich erinnere mich noch, wie Tatjana die Äpfel aus der Plastiktüte fischte und sie als Geschenk auf unseren Tisch legte. „Sie sind aus meinem Garten“, sagte Tatjana, und ein Lächeln zeichnete sich dabei in ihr Gesicht.

Während wir schwarzen Tee mit Zucker trinken, tobt neben uns die quirlige vierjährige Arina. Ein wenig abseits von ihr steht ihr etwas schüchterner Bruder, Dani. Er ist neun Jahre alt und hat am gleichen Tag wie ich Geburtstag. Lina, Danis Mutter, ist im gleichen Jahr wie ich geboren. Auch sie wird in diesem Jahr 37 Jahre alt werden. Und so könnte auch ich in einer fremden Wohnung sitzen, mit einer fremden Frau vor mir, die von einer bestimmten Sorte Zucker spricht und davon, dass er sich nicht auflösen will.

Wir haben keine gemeinsame Sprache, aber wir haben ein gemeinsames Essen

Seit die ukrainischen Gäste bei uns wohnen, duftet das ganze Haus nach Essen. Tatjana und Lina kochen Suppe und braten Frikadellen, und wir, obwohl wir eigentlich Veganer sind, essen Hühnersuppe und Speck. Wir sind bemüht, alle Grenzen zwischen uns abzuschaffen, so weit es uns eben möglich ist. Wir haben keine gemeinsame Sprache, aber wir haben ein gemeinsames Essen. Wir wollen alles tun, damit sich Tatjana, Lina, Arina und Dani bei uns wie zu Hause fühlen.

Während wir schwarzen Tee mit Zucker trinken, fallen Bomben auf Kiew. In einem Bunker in Kiew sitzt Linas Schwester, Olena. Sie ist nicht mit ihrer Familie nach Deutschland geflohen, weil ihr Sohn Ivan im Januar 18 Jahre alt geworden ist. Deshalb durfte er das Land nicht verlassen. Und während mir Tatjana und Lina auf ihren Handys Bilder von Ivan zeigen, einem hübschen, jungen Mann mit noch jugendlich-kindlichen Gesichtszügen, denke ich an meine elf- und siebenjährigen Söhne. Welch eine absurde Idee, dass sie eines Tages zur Waffe greifen müssten, um unser Land zu verteidigen; meine Söhne Lasse und Jim, denen ich so eifrig beibringe, alle Problem gewaltfrei zu lösen.

In den ersten Tagen schleiche ich um die drei mitgebrachten Äpfel von Tatjana herum wie um einen geheimen Schatz. Ewig sollen sie da liegen bleiben, diese ukrainischen Äpfel in unserer Obstschale, genau wie sie da zwischen den gelben Zitronen und den leuchtenden Orangen liegen – so will ich sie für immer sehen.

Doch am Tag darauf bemerke ich, dass sich an einem Apfel schon eine braune Stelle auf dem leuchtenden Rot gebildet hat. Schweren Herzens greife ich ihn mir und zerteile ihn. Es erscheint mir brutal, mit dem Messer in das Innere des Apfels zu stechen, um ihn kurz darauf von seinem Gehäuse zu befreien. Welch ein wertvolles, unbezahlbares Müsli ich zum Frühstück essen werde.

Während wir schwarzen Tee mit Zucker trinken, spüren Olena und Ivan in Kiew die Detonation der Bomben, die in der Nähe ihres Bunkers einschlagen. Es ist eine Vibration, die für einen Moment die ganze Erde erschüttert – auch uns. Tatjana beginnt zu weinen. Lina greift zu ihrem Handy und tippt etwas in den Google Translator, unserer einzigen Möglichkeit, miteinander verbal zu kommunizieren. „Olena wollte ihren Sohn nicht alleine lassen“, übersetzt mir die monotone Stimme, der jegliches Gefühl, jegliche Sinnlichkeit bei der Aussprache fehlt.

Bereits am zweiten Tag nach ihrer Ankunft sprechen Tatjana und Lina von ihrer Rückkehr in die Ukraine. Noch im Frühling werden sie dorthin zurückkehren – da sind sie sich sicher. Etwas Überzeugendes liegt in der Art und Weise, wie sie über ihre baldige Heimkehr sprechen. Ich nicke mit dem Kopf und bestätige das Gesagte.

„Ja“, sage ich, „ihr werdet bestimmt bald nach Hause fahren.“

Vera Vorneweg


Während Olena und Ivan den Aufprall der Bomben spüren, die in der Nähe ihres Bunkers einschlagen, greife ich zu meinem Handy und spreche in den Google Translator: „Eltern lassen ihre Kinder nicht allein.“ Ich drücke auf das Lautsprechersymbol auf dem Display. Sofort schimmert mir die unbekannte kyrillische Schrift entgegen, die für mich einer Geheimsprache gleicht: „Батьки не можуть залишити своїх дітей“: Während die monotone Stimme den ukrainischen Satz „Bat’ky ne mozhyt zalyshyty svoiych ditej“ ausspricht, schaue ich in Tatjanas und Linas Augen. Denn nur in den Augen kann ich ablesen, ob der Satz richtig übersetzt wurde. Die Augen sind mein einziger Anhaltspunkt, mein Anker in der eigenen Sprachlosigkeit. Das synchrone, sehr heftige Kopfnicken von Tatjana und Lina zeigt mir, dass sie den Satz verstanden haben. Auch ich nicke jetzt mit dem Kopf und bestätige erneut das von mir Gesagte: „Ja, Eltern lassen ihre Kinder nicht allein.“

Tatjana und ich schneiden Äpfel. Wir schneiden sie in kleine Stücke. Wir backen Apfelkuchen, denn heute kommen Gäste. Wir haben zwei weitere Frauen eingeladen, mit denen Tatjana, Lina, Arina und Dani gemeinsam geflohen und die bei anderen Freunden in Düsseldorf untergebracht sind. Unter die zu schneidenden Äpfel habe ich einen Apfel aus dem Garten von Tatjana gemischt. Tatjana und ich haben eine still-schweigende Arbeitsteilung: Sie schält die Äpfel und ich schneide sie in Stücke. Es tut weniger weh, wenn man die Erinnerung teilt, wenn man sie zerschneidet, wenn man aus ihr einen Kuchen backt, den alle mögen.
Vera Vorneweg (r.) mit der ukrainischen Familie
© Moritz Ellerich
Vera Vorneweg (r.) mit der ukrainischen Familie

Nachts wache ich auf und denke an Olena und Ivan, die im Bunker in Kiew sitzen. Die vielleicht in einigen Tagen kein Essen mehr haben werden. Schon jetzt seien die Supermärkte leer, sagte Tatjana beim Teetrinken, schon jetzt müssten alle von ihren Vorräten in den Kellern leben. Wieder muss ich an die drei von Tatjana mitgebrachten Äpfel denken und an den noch letzten verbliebenen Apfel, unten in der Küche, in unserer Obstschale.

Es ist 4:58 Uhr, als ich hinunter in die Küche schleiche. Ich schalte das Radio an. Während von neuen Bombeneinschlägen in Kiew berichtet wird und von der Zerstörung einer Entbindungsstation in Mariupol, schaue ich in unseren kleinen Garten, wie er nachtdunkel vor mir liegt und denke darüber nach, wie plötzlich diese Welt ins Finstere gekippt ist. Ich drehe mich um und mein Blick wandert zur Obstschale und zu dem letzten ukrainischen Apfel, wie er sich rotwangig und leuchtend zwischen den Zitronen und Orangen behauptet. Jetzt höre ich im Radio die Stimme des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Er ermutigt die Menschen in der Ukraine, die Äcker vorzubereiten, um alsbald den Weizen auszusäen. Niemand solle die Hoffnung aufgeben, auf die Ukraine, auf das freie und demokratische Land.

Ich schaue in unseren kleinen Garten, hinein in den langsam anbrechenden Tag, und überlege, wo ein guter Platz wäre, um einen Apfelbaum zu pflanzen.

Top