Jackie Thomae
Brüder
Zwei Halbbrüder, verschiedene Schicksale und ein wiedervereinigtes Land – Jackie Thomaes Roman Brüder ist eine Geschichte über das Leben in einem von Wandel geprägten Deutschland.
Von Prathap Nair
Im Jahr 1985 hat sich bereits in vielerlei Hinsicht die Wiedervereinigung Deutschlands mit schnellen Schritten angekündigt. West-Berlin rollte für Prinzessin Diana den roten Teppich aus, im angesagten Club Dschungel wurden legendäre Partys gefeiert. Auf der anderen Seite der Mauer tanzten junge Menschen aus Ost-Berlin im Kosmos Kino Breakdance zum Film Beat Street, um wenigstens zeitweise den Fesseln der Überwachung eines autoritären Staates zu entkommen. Auf beiden Seiten lagen die herannahende Befreiung und die Aussicht auf neue Zeiten bereits spürbar in der Luft.
Mitten in diesen aufregenden Zeiten spielt Jackie Thomaes weitläufig angelegter Roman Brüder. Die Geschichte dreht sich um zwei Halbbrüder aus dem Senegal, Mick und Gabriel, die in der ehemaligen DDR leben, aber nichts von der Existenz des jeweils anderen wissen. Mick ist ein launischer Frauenheld, der gemeinsam mit einem Freund einen Club betreibt. Das Leben besteht für ihn aus einer Aneinanderreihung hastig organisierter Partys, deren Folgen durch Drogen und Alkohol verklärt werden. Mick läuft Gefahr, ein abgebrühter Macho zu werden, geht aber irgendwie stets als unverbesserlicher Schürzenjäger durch. „An jeder roten Ampel flirtete er mit Frauen. Er versuchte, irgendwie ihre Aufmerksamkeit zu erlangen und meistens gelang ihm das auch - sogar bei Frauen, bei denen der Ehemann oder die Familie mit im Auto saßen oder auch bei Frauen mit Kopftuch“, beschreibt ihn Thomae. Gabriel ist das genaue Gegenteil von ihm; ein diszipliniert arbeitender Architekt, der gerade dabei ist, sich in London eine Karriere aufzubauen.
Der Roman Brüder stellt die Frage, welche Faktoren das Schicksal eines Menschen beeinflussen – sind es externe soziale Umstände, individuelle Handlungen oder ist alles purer Zufall? Obwohl der Roman in den Jahren vor der schwierigen Wiedervereinigung der ehemaligen DDR und dem damaligen West-Deutschland spielt, handelt die Geschichte von Jackie Thomae nicht zuallererst von geopolitischen Ereignissen. Es geht vielmehr um gesellschaftliche Themen, zu denen die Protagonisten aus ihrer jeweiligen Situation heraus sehr persönlich Stellung beziehen: Herkunft, Sexualität, Nationalität und Klassengesellschaft. So ist das persönlich Erzählte auch immer ein politischer Kommentar.
Das komplizierte Leben ganz normaler Menschen
Brüder beleuchtet das komplizierte Leben ganz normaler Menschen, wie Gabriel und Mick es sind. Thomae scheut sich nicht, die Frage nach Herkunft zu thematisieren (beide Protagonisten haben einen gemischten ethnischen Hintergrund und leben in einer vorrangig von Weißen geprägten europäischen Gesellschaft), gleichzeitig schlägt sie aber einen durchweg frischen, optimistischen Ton an. So lässt sie Mick dessen Freundin Delia etwa mit folgenden Worten beschreiben: „Und warum sollte sie nicht wie ein finster dreinblickender schwarzer Typ mit dem Kopf nicken dürfen? Die Welt war divers und tolerant. Die Welt stand auf dem Kopf.“Auch die besondere Erzählweise des Romans sei hier erwähnt. Während die Abschnitte über Mick in einer nahbar wirkenden dritten Person geschrieben sind, lässt die Autorin Gabriel seine Geschichte selbst in der ersten Person erzählen. In einigen Kapiteln berichtet aber auch seine Freundin Fleur von Gabriels Problemen, als schwarzer Mann in London zu leben. Dennoch lässt sich Gabriel nicht nur durch seine schwarze Identität definieren, sondern sieht sich als Mann von Welt. Als Fleur ihn fragt, ob er schon mal in Afrika war, antwortet er: „Ich interessiere mich nicht sonderlich für Afrika. Ich habe ein gleichmäßig aufgeteiltes Interesse an der ganzen Welt.“
So verschieden die Brüder auch sind, so müssen beide lernen, sich mit ihrer ethnischen Herkunft auseinanderzusetzen, indem sie einen Platz in einer Gesellschaft finden müssen, die nicht so recht weiß, wie sie mit ihnen umgehen soll. Die Frage nach ihrer Herkunft nimmt dabei nie eine zentrale Rolle ein und ist nichts, was den Protagonisten schlaflose Nächte bereitet. Vielleicht ist das Jackie Thomaes stiller Triumph: Sie zeigt, wie man eine Identität erlangt, ohne dass der Kampf um diese als zentrales Thema der Figuren illustriert wird.
In einer der denkwürdigsten Passagen des Romans denkt Gabriel darüber nach, inwiefern er einen Platz in der Gesellschaft hat, in der er lebt und arbeitet: „Und plötzlich war ich weiß. Nicht dass die Klatschpresse mich explizit als weiß beschrieben hätte. Das brauchten sie gar nicht. Ich wurde in dem Moment weiß, als sie nicht mehr schrieben, dass ich es nicht sei.“
Anatomie eines Falls
Die Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands sind in der Popkultur schon hinlänglich behandelt worden, angefangen von Anna Funders Buch Stasiland über Filme wie Good Bye, Lenin! bis hin zu TV-Serien wie Weissensee oder Deutschland 83. Allerdings beschäftigen sich nur wenige zeitgenössische Werke mit der Lebenswelt von Migrantinnen und Migranten in der ehemaligen DDR, wo Tausende von Vertragsarbeiterinnen und -arbeitern aus Ländern wie Vietnam, Kuba und Mosambik beschäfigt waren und in prekären Situationen lebten. Brüder von Jackie Thomae ist damit eine Ausnahme, die diesen vielfach übersehenen Menschen eine Stimme verleiht.Der im Jahr 1985 beginnende und vier Jahrzehnte umspannende Roman zeugt von einer beeindruckenden Vorstellungskraft und wirkt extrem lebensnah. Thomae knüpft die Geschichten von Mick und Gabriel nicht zusammen, sondern teilt sie in zwei separate Segmente. So erleben Leser und Leserinnen zwei eigenständige Romane in einem, die sowohl durch ihre weit verzweigte Geschichte als auch ihre Intimität beeindrucken. Am Ende werden die beiden Narrative durch einen ergreifenden Epilog des abwesenden Vaters Idris zusammengeführt.
Die Übersetzung von Ruth Ahmedzai Kemp erhält die Grundsubstanz des Buchs, ohne die düstere Grundstimmung und das beiläufig wirkende Abhandeln schwieriger Themen zu verwässern. Ihrem klaren Blick und präzisem Sprachgebrauch ist es zu verdanken, dass der Roman auch auf Englisch einen lebhaften Eindruck der Berliner Clubszene in den 90ern auf der einen und der sterilen, von Anzug- und Aktentaschenträgern geprägten Londoner Geschäftswelt auf der anderen Seite vermittelt.
Brüder stand 2019 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Jackie Thomae wird das Goethe-Institut Indien besuchen und ihr Buch dem indischen Publikum vorstellen.
Über die Autorin
Jackie Thomae, geboren 1972 in Halle, schreibt Erzählungen und Romane. Mit Brüder stand sie 2019 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis und wurde mit dem Düsseldorfer Literaturpreis und dem Förderpreis des Lessing-Preises ausgezeichnet. Ihr Debütroman Momente der Klarheit erscheint in Neuauflage im Taschenbuchprogramm der Ullstein Buchverlage. Glück erschien 2014 im claassen-Verlag. Sie lebt in Berlin.