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 © Reinhard Kleist

Stefan Mesch über „Reiseskizzen Algerien“
Aus Sicht der völlig anderen

2012 erhielt Reinhard Kleist für seinen Biografie-Comic "Castro" den großen Preis des Comic-Festivals in Algier. Seine Reiseskizzen und Aquarelle sind auf Websites des Goethe-Instituts zu sehen und auf Kleists eigener Homepage: zehn Miniaturen, fast alle in Farbe. Sandiges Braun. Viel kräftiges Blau. Gassen voller Treppen und Reihen oder Raster kleiner Balkone mit bunten Vorhängen, gebauscht im Wind. Viele Marktszenen und ältere Menschen - und, strahlend weiß dazwischen: eine Gruppe Schafe, die von Kindern durch die Nachbarschaft getrieben oder geführt wird, schattige und enge Stufen hinab, mitten im Stadtleben.

Algerien ist der größte Staat Afrikas - doch erst mit 16 oder 17 konnte ich das Land auf einer Karte zeigen: Sind Libyen und der Libanon arabische Länder? Liberia liegt... bei Nigeria? Tunesien und Indonesien teilen sich keine Grenze. Oder? Alle meine Lehrer, glaube ich, wären enttäuschter und schockierter gewesen, hätte ich Konstanz mit Koblenz verwechselt. Oder Senta Berger mit Iris Berben. Darum ist heute noch hilfreich (oft sogar bitter nötig!), dass Kleist von Ländern, die er für Workshops, Ausstellungen und Recherchen bereist, Skizzen mitbringt und möglichst öffentlich macht. Der halben Welt fehlt Sichtbarkeit!

„In Algier findet jährlich ein Comicfestival statt. Dort gibt es auch Cosplay-Wettbewerbe, und ich sah algerische Jugendliche als [Manga-Held] 'Naruto' verkleidet herumlaufen, genau wie bei uns“, sagt Kleist im Interview. Wie es an Orten und zu Zeiten aussah, die ein Deutscher, geboren 1970 bei Köln, höchstens aus Medien oder von außen kennt, ist der für mich größte Reiz von Kleists Zeichnungen. 2019, als ich fünf oder sechs seiner Comics gelesen hatte (die meisten sind Biografien, oft von Popstars, fast immer historisch und/oder im Ausland angesiedelt), war mein Eindruck: Reinhard Kleists Comics, das sind markante Gesichter, ausdrucksstarke Gesten, tiefschwarze Schatten (toll getuscht!) und Bildwelten, die sich oft um Außenseiter und erschreckend unplanbaren Erfolg drehen, um Männlichkeits-Entwürfe und das Wissen „Du musst bald raus, fort in die fremde Welt. Hier im Gewohnten zu bleiben kann dich zerstören!“

Mein Highlight war (und bleibt) Kleists Biografie-Comic Der Traum von Olympia. Die Geschichte von Samia Yusuf Omar (2015) über eine Sprinterin, die 2008 für Somalia bei den Olympischen Spielen in Peking antrat, doch 2012 im Versuch, über das Mittelmeer bis nach London zu fliehen, ertrinkt - mit 21 Jahren. „Ich hatte etwas Angst gehabt, dass ich als männlicher, 40 plus, weißer Europäer nicht den richtigen Ton gefunden hätte für die Geschichte über ein Mädchen aus Somalia.“

Kleists Angst ist begründet - denn es hat Methode, dass mir Algerien-Romane von Albert Camus sehr früh empfohlen wurden, doch ich von Assia Djebar oder Yasmina Khadra erst viel später hörte. Und es hat Gründe, dass immer mehr marginalisierte Leute bei jeder Geschichte fragen: Wer erzählt das, und für wen? Welche Figuren werden vorgezeigt, ausgestellt und als „fremd“ markiert? Reinhard Kleist will die Welt zeigen: trostlose australische Suburbs der 70er Jahre im Comic über Popstar Nick Cave. Schwule Bars der 60er im Comic über den New Yorker Boxer Emile Griffiths, „Knocked Out“. In den Algerien-Skizzen: bettelnde oder rastende ältere Menschen am Hafen und der Kasbah. (Weiß jeder, dass Algier einen Hafen hat? Weiß jeder, was „Kasbah“ bedeutet? Ich wuchs in einem Deutschland auf, das mir sagte: Es ist leicht peinlich, falls herauskommt, dass man das nicht weiß. Doch meist kommt es nie heraus - denn über die meisten Staaten und Kulturen wird kaum gesprochen.)

2020 erhoffte der Holtzbrinck-Konzern, einen Roman über Flucht und Grenz-Gewalt zwischen Mexiko und den USA zum großen Bestseller (und: „Hier lernen Sie was!“-Tipp für Lesezirkel und Buch-Clubs) promoten zu können, American Dirt von Jeanine Cummins. Doch viele Latinos und Migranten fanden den Plot und den Erzählton hanebüchen, sentimental, schlecht recherchiert - und typisch, dass eine Autorin, die in Interviews sagte „Ich bin weiß“ viel Geld und einen Push durch große PR-Kampagnen bekam.

Ich hätte diese Wut sicher auch bei Reinhard Kleist - würde er teure Biografie-Serien drehen wie The Queen, oder wäre sein (toller, aktueller) David-Bowie-Comic Starman ein Kinofilm, mit makelloser Ausstattung. Denn wozu immer wieder in fremden Epochen, Milieus, Kulturkreisen wildern für die künstlerische Arbeit? Könnten „Own Voices“-Künstler*innen das nicht alles viel näher erzählen?

Unbedingt! Doch so genau Kleist hinschaut - um maximale Nähe, Authentizität, Dokumentarisches geht es ihm nicht. Sondern um Bild-, Traum-, Vorstellungswelten zur Frage, was Menschen (manchmal ein Publikum und Fans, meist auch schmerzhaft distanzierte Familienmitglieder oder Fremde aus ganz anderen Schichten und Kulturen) in anderen, oft bekannten Menschen (Sportler*innen, Stars, Fidel Castro, Johnny Cash) sehen.

Kleist zeichnet Randfiguren und Frühstückstische, Sofa-Seitenlehnen und Armaturenbretter, Fieberträume oder den CERN-Teilchenbeschleuniger in Genf mit einer Genauigkeit, die mir vermittelt: „Ich habe recherchiert.“ Zugleich aber mit immer mit der suchenden, offenen, überdeutlich vorläufigen Markierung: „Vergesst beim Schauen nie: Hier schaut keine objektive Kamera. Hier schaue ich auf meine Projektionen, meine sehnsuchtsvollen Blicke, auf Tagträume und Fremdes. Auf dieser Comic-Seite träume ich mir zusammen, was Nick Cage geträumt haben mag vor 40, 50 Jahren.“

Würden Kleists Comics also auftreten wie ein Kinofilm oder ein Doku-Drama, bei dem jede Requisite selbstverliebt behauptet „Genau so war es früher wohl, in echt!“, sie wären unerträglich anmaßend. Gestrige Bildwelten, oft über Stars von gestern. Doch ich glaube (besonders 2021, nach Kleists großartigem Bowie-Comic), wir stehen am Anfang einer Zeit, in der viele Kunst viel radikaler, verspielter, vorläufiger und persönlicher erzählen will, was der Betrachtende rausholt, mitnimmt, reinliest und projiziert im Fremden, Un-Einsehbaren oder im kollektiv Halb-Sichtbaren und darum Halb-Verstandenen. Katharina die Große in der TV-Satire The Great (2020), Emily Dickinson im frech erfundenen Dickinson (2019) oder der längst besiegte Tennis-Champ John McEnroe in Noch nie in meinem Leben (2020) als Tagtraum einer 15jährigen, die McEnroe nur als Idol ihres toten Vaters kennt: Immer öfter versetzt sich Erzählkunst in bekannte Figuren. Und denkt dabei brutal ehrlich durch, wie vage, übergriffig oder neurotisch solches Hineinversetzen ist.

Reinhard Kleist zeigt, dass Comics ein grandioses Medium sind, um immer neu zu markieren: „Ich sehe das so“, „Das sehe nur ich“, „Man malt sich etwas aus“, „Ich wähle den Bildausschnitt, die Schatten und das Ungefähre“. Ein Blick, der gar nicht besonders eigensinnig sein muss, um trotzdem keine Zweifel zu lassen: Jeder Blick hier ist ein eigener Blick - kein objektiver. Neben den zehn Vignetten aus Algerien gibt es von Kleist auch Impressionen aus zehn, 15 weiteren Ländern. Erst im Vergleich fällt an Algerien auf: die Buntheit, der weite Himmel, das Gedränge, die Pracht der religiösen Bauten im Vergleich zu den Mauern und Gassen. Seit 2017 ist Kleist auch auf Instagram. Die aktuellsten Postings aus dem Skizzenbuch sind Sarajevo, Venedig, Vicenza. Und Wriezen (Brandenburg).

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