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 © Paulina Stulin (Ausschnitt)

Marie Schröer im Gespräch über „The Right Here Right Now Thing“ und das Reisen
Krakauer Nächte sind lang

Nach der Unterhaltung mit Paulina Stulin fällt die Auswahl einer Handvoll O-Töne (gedacht als i-Tüpfelchen für diese Rezension) schwer. In der gut zehn Seiten langen Transkription unseres Zoom-Gesprächs habe ich etwa 80 Prozent von Paulinas Passagen unterstrichen. Die Dichte spontan produzierter Aphorismen ist hoch; man will gerne mit ihr weitersprechen und -denken.

Kein Wunder, dass Paulina Stulin die für den Comic so essenzielle Kunst der Verdichtung so virtuos beherrscht. Sie kann eben nicht nur Bild, sondern auch Text. Eigentlich habe ich mich mit ihr verabredet, um über ihren Comic The Right Here, Right Now Thing zu sprechen – und natürlich primär darüber, was Krakau zur idealen Bühne für diesen Comic macht. Wir reden dann aber über viel mehr: ihr Verhältnis zu Comics und anderen Medien, ihre nächsten Podcast-Projekte, ihre künstlerischen Vorbilder, ihren Bestseller Bei mir Zuhause, den schmalen Grat zwischen Fakt und Fiktion, und nicht zuletzt über das Reisen.

Nachtschwärmerei und Alltagszauber

Aber eins nach dem anderen: Die Story von The Right Here Right Now Thing ist schnell zusammengefasst. Die klar autobiografisch angelehnte Hauptfigur (in Folge Paulina genannt) verabschiedet sich von ihrer Wohnung und ihrem Partner, reist im Flieger nach Krakau und freut sich sichtlich über das Wiedersehen mit der Stadt, mit der die Autorin, so im Interview „eine an Kitsch grenzende Verbundenheit“ pflegt. Das wird schon auf der vierten Seite des Comics deutlich. Der Blick auf die Krakauer Marktplatzszenerie mit Tauben und Straßenmusik ist ein versonnener. Es geht weiter ins Hostel, hier trifft die Figur Paulina ihre alte Clique, zieht mit ihren Freund_innen zunächst eine Linie und dann los in die Krakauer Nacht. In einer schummrigen und urgemütlichen Kneipe wird geraucht, gelacht und gesocialized.

Die Gruppe lernt dabei zwei sympathische Schweden kennen und der Smalltalk beim Bier nimmt sich, wie es sich für eine gute Kneipennacht gehört, die ganz großen Fragen vor: „You don’t believe in a soul?“ fragt ein Tischnachbar Paulina schon kurz nach dem Kennenlernen; angestoßen wird auf „the end of everything that ever existed“.

Der Urheber des Trinkspruchs, der ruhigere der beiden Jungs, ist stilistisch von dem Rest der Clique abgesetzt. Er trägt einen dunklen Hoodie; die Kapuze rahmt allerdings kein definiertes Gesicht, sondern einen schwarzen Fleck – der leichte Sensenmann-Touch ist sicher kein Zufall. Der Unbekannte, in den sich Paulina im Laufe der Nacht verguckt, ist durch sein undefiniertes Äußeres zwar mysteriös, aber trotzdem keineswegs angsteinflößend – dafür sind seine Worte und Gesten viel zu charmant.

Oder anders gesagt: Trotz seines Äußeren ist er deutlich mehr „Carpe Diem“ als „Memento mori“ und aufgrund seines Äußeren die ideale Projektionsfläche für die Lesenden.  Es sind ja nicht zuletzt die Zelebration von Liebe und Leben und eben auch das Bewusstsein der Vergänglichkeit, die exzessiven Nächten ihre besondere Würze verleihen.

Die Gespräche zwischen den beiden werden immer intensiver; die Gruppe zieht derweil munter weiter durch die Nacht, die ihren ganz eigenen Sog entwickelt. Die Settings ändern sich: Vom Taxi geht es in den Club, dann durch das nächtlich-prächtige Krakauer Lichtermeer zur Küchenparty in eine Privatwohnung und von da wieder in die Nacht, aber diesmal nur zu zweit. Am nächsten Morgen ist wieder Cliquenleben angesagt und ein kontemplativer Spaziergang am Fluss, der illustriert, wie effektvoll ein schweigender Comic sein kann. Mit der Hauptfigur genießen wir die Ruhe, die Natur und natürlich die Erinnerung an die letzte Nacht.

Was wäre wenn…?

Der Reiz dieses Büchleins liegt unter anderem darin, dass die Lektüre unwillkürlich dazu aufruft, die Liste der eigenen legendären Nächte Revue passieren zu lassen – und dabei en passant eine Liebesgeschichte erzählt wird, die zwar ohne Zukunft ist, dafür aber den Moment ultimativ auskostet. Und das erklärt dann natürlich den Titel des Comics, der einem Dialog der One-Night-Lover entnommen ist, aber eben auch als Überschrift für die ganze Nacht und das gesamte Buch hervorragend funktioniert.

„Hey, don’t be sad. Let’s just enjoy the time we have“, schlägt er vor. „You’re right. Let’s appreciate the right-here-right-now-thing“, erwidert sie. In The Right Here Right Now Thing geht es in den Worten der Autorin nicht weniger als „um das Leben, um den Tod, und was das eigentlich alles bedeutet; es handelt vom Banalen und der Transzendenz“.

Als eine wichtige Inspirationsquelle nennt Stulin das Lied The Chelsea Hotel Oral Sex Song von Jeffrey Lewis. In dem wunderbar lakonischen postmodernen Folk-Stückchen berichtet der Ich-Erzähler von einer verpassten Chance, aus einer zufälligen Begegnung (und, daher der Titel, angeregten Unterhaltung über Leonard Cohens Chelsea Hotel) mehr rauszuholen: „And I never got her name and she never got mine but in this couple short minutes, we had a very good time.“

Wer den Song in Gänze hört, wird schnell feststellen: Ein bisschen Nostalgie und ganz viel Humor, das passt perfekt zu Stulin. Für das synästhetische Erlebnis sei also die Lektüre mit Musikbegleitung von Jeffrey Lewis empfohlen. Und im Anschluss sollte man sich dann unbedingt noch die Comicsnippets zu Gemüte führen, die die Autorin selbst auf ihren Youtube-Kanal gestellt hat. Hier wird The Right Here Right Now Thing in Auszügen mit sorgsam ausgewählter Klavierbegleitung noch mal anders erzählt.

Über Krakau, Darmstadt und das Reisen

Kneipen und Clubs, Altbau-Fassaden und Naturspaziergänge, nächtliches Lichtermeer und glitzernder Fluss: Krakau gibt für die rasante Nacht und ihre Rahmung im Tageslicht die ideale Kulisse ab. Stulin erklärt den Reiz des Settings für ihre Geschichte: „Ich war von zehn Jahren dort im Erasmus-Austausch und das war eine extrem prägende Phase. Und ich lieb eben auch dieses Raue mit dem Schnörkeligen, diese Mittelalter-Architektur gepaart mit den Plattenbauten und eben auch diesen Charakter der slawischen Seele, wie man so sagt. Es ist eben erstmal so ein bisschen grimmig, aber dann voll herzlich.“

Auch wenn das Setting der Liebesgeschichte eine besondere Atmosphäre verleiht: Für Paulina Stulin geht das Reisen nicht zwangsläufig mit einem Ortswechsel einher. Bei mir zu Hause lautet entsprechend der Titel des vielbesprochenen Comics mit dem sie 2020 einen Überraschungserfolg landete und das Feuilleton verzückte. Auch die Darmstädter Heimat, das demonstriert Stulin auf nicht weniger als 600 Seiten kann solche magischen Reisemomente beinhalten. Im Interview unterstreicht sie diesen Aspekt mehrfach: Wenn man offen für Neues ist, kann man überall Neues entdecken: „Ich würde auch noch ein bisschen darauf beharren, dass Reisen wirklich nichts mit geographischer Veränderung zu tun haben muss, dass ich auch in meinem kleinen Darmstadt jeden Tag die Möglichkeit habe, die neuesten Dinge zu entdecken. Ich brauche nur in einen neuen Hinterhof zu gehen, um wirklich dann ein neues Universum zu entdecken, neue Menschen kennenzulernen und dadurch Sphären aufgeschlossen zu bekommen, die mir mein ganzes Leben lang verschlossen waren.“

Das Hier und Jetzt kann in Krakau sein oder eben auch Darmstadt. Und intensive Erlebnisse sammeln und in Comics oder neuerdings auch in Podcasts archivieren, darin ist Stulin eine Meisterin. Das funktioniert auf sechshundert Seiten genauso wie auf den knapp fünfzig Seiten, in Bild und Text und Audio. So schnell das Büchlein gelesen ist, so lange hallt es nach. Wie eine gute Erinnerung eben.

The RIGHT HERE RIGHT NOW Thing. Herausgeber ‏: ‎ Jaja Verlag; 1. Edition (1. April 2014)
Sprache ‏: ‎ Englisch, Deutsch. Broschüre: ‎ 52 Seiten. ISBN 978-3-943417-48. 12,00 EUR. Zur Zeit vergriffen.

 

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