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Max Müllers Blick auf Indien

Lithografie von 1894 von Max Müller
Lithografie von 1894 von Max Müller | Foto (Detail) © The Trustees of the British Museum, Creative Commons

Der renommierte Sanskrit-Forscher Max Müller hat sein Leben mit dem Studium indischer Sprachen und Schriften verbracht und sich dabei vor allem mit auf Sanskrit verfasster Literatur beschäftigt. Wird Müllers Name und sein Erbe im heutigen Indien immer noch gewürdigt, und ist sein Werk überhaupt noch relevant? 

Von Vineet Gill

Max Müller hat das Verständnis von indischer Kultur der westlichen Welt maßgeblich verändert und erweitert. Sein ganzes Leben hat er dem Studium indischer Schriften und Sprachen gewidmet, obwohl er niemals einen Fuß auf indischen Boden gesetzt hat.  Diesen Umstand haben seine Kritiker stets gerne herbeizitiert, um sein Werk zu diskreditieren und seinen Ruf als Experten infrage zu stellen. Wer dieser Argumentation Glauben schenkt, vergisst, dass das Indien, das Müller interessierte, in Wahrheit gar nicht existierte, sondern nur ein Produkt der Fantasie war. Wie Joyces Dublin oder Dostojewskis Sankt Petersburg war dieses antike Indien eine literarische Kreation, der man nur mit Hilfe des Mediums Sprache beikommen konnte, egal, aus welchem Land man kam oder in welchem Jahrhundert man lebte. Es war ein Konstrukt, das weder Reisenden noch Eroberern zugänglich war, sondern nur Lesenden offenstand.

Die literarische Odyssee des Max Müller

Im Europa des 19. Jahrhunderts flammte ein neues Interesse an der östlichen Welt auf. So war es auch nicht verwunderlich, dass ein Dichter wie Goethe auf dem Höhepunkt seines Ruhms die Erwartungen seines Publikums absichtlich nicht erfüllte und sich stattdessen von Farsi und der Dichtkunst eines Hafiz inspirieren ließ. Während sich Goethe jedoch nur oberflächlich mit den Sprachen der Welt beschäftigte, überraschte Müller damit, dass er sich schon in jungen Jahren sehr intensiv mit Sanskrit auseinandersetzte.  Als Mittzwanziger hatte er bereits die Hitopadesa, eine Fabelsammlung aus dem 12. Jahrhundert, ins Deutsche übersetzt. Seine Bemühungen waren dabei alles andere als ein Prestigeprojekt, denn obskure aus dem Sanskrit übersetzte Meisterwerke standen bei deutschen Verlegern damals nicht gerade hoch im Kurs. Müller wusste, dass er mit seiner Arbeit seine Zeit verschwendete. Sein Antrieb war die enorme Leidenschaft, die er für seine Studien an den Tag legte und die ihn beharrlich weitermachen ließ. „Ich kann Sanskrit nicht aufgeben“, schrieb er in sein Tagebuch, „obwohl ich damit wohl nichts erreichen werde.“

Title page from a Rig Veda volume edited by 'Bhatta Moksha Mulara', the Sanskritised form Max Mueller gave to his name. Title page from a Rig Veda volume edited by 'Bhatta Moksha Mulara', the Sanskritised form Max Mueller gave to his name. | Auch sein ehrgeizigstes und gewagtestes Unterfangen hat in diesem Lebensjahrzehnt seinen Ursprung: Seine Ausgabe des Originaltexts des Rigveda, deren erster Band 1847 von Oxford University Press veröffentlicht wurde. Heute kann man sich nur schwer vorstellen, welche akribischen Arbeiten dem Druck eines Buchs im 19. Jahrhundert vorausgingen. In Müllers Fall lag die Herausforderung nicht nur darin, eine Reihe dicht bedruckter Bände in komplizierter Devanagari Schrift herzustellen, für die von Hand eigene Typen angefertigt werden mussten. Die eigentliche Schwierigkeit lag darin, für den Druck akkurate handgeschriebene Abschriften von den zahlreichen verfügbaren Manuskripten des Rigveda herzustellen, wozu oftmals jeder einzelne Buchstabe auf Transparentpapier übertragen werden musste. All das geschah ohne Garantie, dass sich für die Werke überhaupt ein Publikum finden lassen würde. In den nächsten dreißig Jahren seines Lebens erschienen noch fünf Ausgaben von Müllers Rigveda sowie zahlreiche weitere Übersetzungen und Artikel über Indien.

Multilinguale Vorstellungskraft

Während Müller sein Werk schuf, das gleichermaßen die Handschrift eines engagierten Gelehrten als auch die eines enthusiastischen, ungestümen Amateurs trug, bildete er auch eine neue Identität aus, die seine Wurzeln in der deutschen Provinz immer mehr außer Acht ließ (eine ähnliche Tendenz — die Sehnsucht nach unbekannten Orten – hatte bereits Goethe dazu veranlasst, sich für andere Länder weitab der deutschen Heimat zu interessieren). Auf dem Titelblatt seiner Rigveda Ausgaben hat Müller seinen Namen mit „Bhatta Moksha Mulara“ auf Sanskrit angegeben, was so viel heißt wie „ein Gelehrter, der dich zur Quelle der Erlösung geleitet.“ Sicher einer der glanzvollsten Künstlernamen aller Zeiten, bei dem man den ironischen Unterton jedoch nicht übersehen sollte.

Obwohl Müller Zeit seines Lebens eine Randfigur innerhalb der englischen Kultur blieb, schenkte man seinen Argumenten und seinem Einmischen durchaus Gehör, was vielleicht daran lag, dass die dortige Kultur zu dieser Zeit marginalisierte Stimmen zuließ oder ihnen zumindest Toleranz entgegenbrachte.

Müllers Interessen als Übersetzer und Philologe gingen jedoch über Sanskrit hinaus und erstreckten sich von klassischen Sprachen wie Pali und Latein bis hin zu modernen Sprachen, z. B. Bengali. Vor allem fühlte er sich jedoch sein Leben lang mit einer anderen Sprache verbunden, die der Mittelpunkt seiner Arbeit darstellte: Englisch. Neben der Tatsache, dass er niemals in Indien war, ist an seiner Biografie weiterhin bemerkenswert, dass er niemals etwas Nennenswertes auf deutscher Sprache publiziert hatte. Alle wichtigen Essaybände und Beiträge über indische Themen und Sprache, die dieser „deutsche Gelehrte“ veröffentlichte, sogar seine Autobiografie Auld Lang Syne, sind auf Englisch verfasst worden. Ähnlich wie bei einigen anderen herausragenden Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts — sowohl in Indien als auch in Europa — ist es allerdings schwierig, Müllers Identität allein anhand von nationalen oder linguistischen Merkmalen festzumachen.  

Friedrich Max Müller 1974 Briefmarke Indiens Friedrich Max Müller 1974 Briefmarke Indiens | © India Post, Government of India, GODL-India , via Wikimedia Commons Großbritannien wurde zu seiner Wahlheimat; hier lebte, arbeitete und starb er. Den britischen Orientalisten und ihrer Archivforschung hatte er sehr viel zu verdanken. Doch anders als bei den Briten war es nicht der kulturelle Snobismus, der Müller antrieb, sich mit Indien zu beschäftigen.  In seiner Biografie Scholar Extraordinary („Ein außerordentlicher Gelehrter“) betont Nirad C. Chaudhuri den Kontrast zwischen dem politisch motivierten Interesse an Indien, das die Briten an den Tag legten und einer reineren Form der kontinentalen (besonders deutschen) kulturellen Annäherung, wie Müller sie anstrebte. „Das Interesse der Deutschen war ideologisch und imaginativ“, heißt es bei Chaudhuri, „das der Briten praktisch und objektiv.“

Tatsächlich hat Müller einen Großteil seines Lebens damit verbracht, mit Menschen aus England über das Thema Indien zu diskutieren, meistens jedoch ohne Erfolg. Sein Wunsch war es, dass Großbritannien es anderen europäischen Ländern gleichtut und ein Institut für das Studium orientalischer Sprachen errichtet, und wenn es auch nur aus Gründen der kolonialistischen Diplomatie geschah. In Auld Lang Syne beschreibt er ein Treffen mit Macaulay, in dem dieser eine Reihe „herablassender Bemerkungen“, wie Müller es ausdrückte, gegen Menschen aus Indien und die Sprache Sanskrit fallen ließ und seinen Gast dabei nicht zu Wort kommen ließ. Aber nicht alle Engländer waren so bigott wie Macaulay. Müllers Werke waren in England sehr verbreitet, und die Vorträge, die er in Oxford hielt und von denen auch viel in sein literarisches Schaffen mit ein floss, stießen stets auf starke, wenn auch manchmal kontroverse Reaktionen seitens der Intellektuellen jener Zeit. Viele seiner polemischen Werke, etwa der Vortrag „Was können wir von Indien lernen?“ waren direkt an das englische Establishment gerichtet. Obwohl Müller Zeit seines Lebens eine Randfigur innerhalb der englischen Kultur blieb, schenkte man seinen Argumenten und seinem Einmischen durchaus Gehör, was vielleicht daran lag, dass die dortige Kultur zu dieser Zeit marginalisierte Stimmen zuließ oder ihnen zumindest Toleranz entgegenbrachte.

Ein vergessenes Erbe

Leider birgt unsere heutige Kultur keinen Platz mehr für derartige Sonderlinge. Der Name Müller ist im heutigen Indien weitgehend unbekannt, und in der Politik ist das Bemühen um den Erhalt des Sanskrits nichts als ein Lippenbekenntnis. Nur selten findet man eines seiner Werke in Buchläden, und keiner der führenden englischsprachigen Verlage hat sich bisher an eine Neuauflage herangewagt geschweige denn neue Werke über Max Müller in Auftrag gegeben. Chaudhuris Autobiografie über Müller — ein elementares, sachliches und sehr lesenswertes Werk — ist schon seit Jahren nicht mehr lieferbar. Abgesehen von diesem Buch hat in diesem Land weder auf journalistischer noch auf akademischer Ebene je eine ernstzunehmende intellektuelle Auseinandersetzung mit Müllers Arbeit stattgefunden. Offenbar haben wir nicht nur vergessen, welchen Beitrag dieser zur Indienforschung geleistet hat, sondern auch, dass sein Verständnis von Indien sich nicht allzu sehr von jenem renommierter indischer Denker seiner Zeit wie Vivekanand und Sri Aurobindo unterschied, welche Müllers Werke sehr geschätzt haben.

Laut Chaudhuri war Müller niemals in Indien, weil sein privates und berufliches Leben ihm keine Zeit dazu ließen. In den letzten Jahren seines Lebens hat er Reisen sogar als unnötige Pilgerfahrten bezeichnet. So schrieb er: „. . . man lernt, das, was man mit den Augen nicht sehen kann, mit seiner eigenen Vorstellungskraft zu betrachten. Ja, ich bin sogar der Meinung, dass die Vorstellungskraft oft wahrhaftiger ist als das, was man sieht.“ Wenn wir uns heute neu mit Müller auseinandersetzen, bietet uns dies die Chance, wieder in Kontakt zu kommen mit jener komplexen, einfühlsamen und multilingualen Vorstellungskraft, die wir im Zeitalter des Sprachchauvinismus und Hypernationalismus dringend brauchen. Durch Max Müllers Werk können wir ein Indien wiederentdecken, das wir mit bloßem Auge nicht sehen können.

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