Berlinale-Blogger*innen 2023
„Erhaltung ist etwas sehr Aktives"

Filmstreifen mit Wasserschaden, Emulsionszersetzung, Farbstich
Filmstreifen mit Wasserschaden, Emulsionszersetzung, Farbstich | Foto (Detail): © Marian Stefanowski / Deutsche Kinemathek

Viele Menschen tragen dazu bei, dass die Berlinale Jahr für Jahr ein wichtiges Ereignis im Kalender aller Filmbegeisterten ist. Hier erzählt Elisa Jochum, Leiterin der Abteilung Filmerbe in der Deutschen Kinemathek, über ihren Einstieg in die Festivalwelt und über das Angebot, alte Filme ganz neu zu entdecken.

Elisa Jochum Foto (Detail): © privat

​​​​​​​Dr. Elisa Jochum, Leiterin der Abteilung Filmerbe in der Deutschen Kinemathek und Lehrbeauftragte an der Filmakademie Baden-Württemberg, ist Filmwissenschaftlerin und Kulturhistorikerin. Zu ihren Arbeits- und Forschungsstationen gehörten das Goethe-Institut, die Humboldt-Universität Berlin, das University College London und die Yale University.

Auf die Frage, wie oft sie schon die Berlinale besucht hat, antwortete sie:

Dies ist erst meine zweite Berlinale – unglaublich, oder? Obwohl sich das Thema Film wie ein roter Faden durch mein gesamtes Erwachsenenleben zieht, war ich vor 2022 tatsächlich noch nie auf der Berlinale. Letztes Jahr habe ich meine Arbeit bei der Deutschen Kinemathek nur wenige Wochen vor dem Festival begonnen. Was für ein wunderbarer Anlass für meinen Einstieg in die Welt der Berlinale – die Institution und das Festival sind eng miteinander verbunden. Die Deutsche Kinemathek zeichnet für die Sektionen Retrospektive, Berlinale Classics & Hommage verantwortlich, unter Leitung unseres künstlerischen Direktors Rainer Rother.

Bei der Berlinale geht es nicht nur um das Filmprogramm, sondern auch um die Menschen. Zahlreiche Kolleg*innen aus der internationalen Welt des Filmerbes kommen für das Festival nach Berlin. Auf den Veranstaltungen sprudelt es nur so vor inspirierenden Ideen, aus denen sich für uns noch später im Jahr – lange nachdem der letzte Berlinale-Film über die Leinwand gelaufen ist – neue Kooperationen ergeben. So hat sich das Festival auf drastische Weise zu einer Konstante in meinem Kalender verwandelt.

Eine restaurierte Fassung von David Cronenbergs Sci-Fi-Drama „Naked Lunch” aus dem Jahre 1991 eröffnet die Sektion Berlinale Classics. Wollen Sie sich den Film auch ansehen?

Nicht viele würden die Worte Cronenberg und Filmerbe in einem Atemzug nennen. Doch Naked Lunch ist genau das. Für mich demonstriert die Auswahl dieses Films, wie vielfältig – und oft auch jung – das Filmerbe ist. Naked Lunch lief 1992 im Wettbewerb der Berlinale. Nun kehrt der Film in restaurierter Fassung zum Festival zurück. Ich werde ihn mir auf jeden Fall ansehen.

Warum verdient das Filmerbe – inmitten der großen Fülle aktueller Erstaufführungen – einen Platz auf einem der wichtigsten Publikums- und Branchenfestivals?

Das Schöne sind die Funken, die durch die Nebeneinanderstellung  von zeitgenössischen und historischen Filmen sprühen – zwischen verschiedenen Zeitperioden, Orten, Technologien, Perspektiven und Wahrnehmungen. Nehmen wir die diesjährige Retrospektive Young at Heart. Seit den Anfängen der Filmgeschichte sind Menschen im Film – und beim Filmeschauen – erwachsen geworden. Die Frage ist, ob und wie sich diese Filme und ihre Rezeptionsweisen im Laufe der Zeit verändert haben. Auf welche Weise haben Filme früherer Generationen das aktuelle Filmschaffen, wie es in den anderen Festivalsektionen vertreten ist, geprägt? Was sagen uns die Antworten auf diese Fragen über das Kino, über Gesellschaften, über uns selbst?

Apropos Funken – die Deutsche Kinemathek begleitet die Retrospektive mit einem Streamingprogramm, das eine Auswahl von Coming-of-Age-Filmen aus unserem Archiv zeigt. Kostenfrei und ohne Geoblocking.

Auch dürfen wir nicht vergessen, dass die aufwändigen Restaurierungen zahlreiche Filme zum ersten Mal seit langer Zeit – in so hochwertiger Qualität, in ihrer vollständigen Fassung oder überhaupt – zugänglich machen. Sie feiern tatsächlich neue Premieren. Auf der diesjährigen Berlinale trifft dies nicht nur auf das Programm der Classics zu, in dem ausschließlich neue Restaurierungen laufen, sondern auch auf mehrere Filme der Retrospektive. Restaurierungen ermöglichen Wiederentdeckungen, von Filmen, die wir im wahrsten Sinne des Wortes aus den Augen verloren haben. Und Restaurierungen ermöglichen Neubewertungen aus heutiger Perspektive.

Als neue Leiterin der Abteilung Filmerbe der Deutschen Kinemathek wollten Sie sich nach eigenen Angaben darauf konzentrieren, „die Rolle von Filmarchiven als aktive gesellschaftliche Player zu fördern“. Was bedeutet diese Zielsetzung im Hinblick auf Ihre Programmgestaltung und die Einbeziehung des Publikums?

Ziel ist, das Verständnis für die (mögliche) Rolle von Filmarchiven zu fördern. Und falsche gesellschaftliche Vorstellungen abzubauen. Archive und Gesellschaften sind nicht voneinander losgelöst, sondern im ständigen Austausch miteinander. Ein Archiv ist dynamisch: Es hat die Gegenwart und die Zukunft genauso im Blick wie die Vergangenheit. Erhaltung ist nichts Passives, sondern etwas sehr Aktives. Die Deutsche Kinemathek und ihr Filmarchiv gehören zu den wichtigsten Akteuren in diesem Feld und sollen dies – so unser Plan – auch künftig bleiben. Wir müssen Archive, digital und physisch, zu den Menschen bringen und den Dialog mit verschiedenen Zielgruppen sowie mit der nächsten Generation von Filmemacher*innen suchen. Außerdem gilt es, die „menschliche Seite“ eines Archivs zu zeigen – durch einen transparenten Einblick in die Archivarbeit und den Aufbau eines (zwischen)menschlichen Kontakts zu diesem Archiv.

Für mich war es eine gute Berlinale 2023, wenn…
...ich um 2 Uhr nachts noch immer mit anderen vor einem Berlinale-Kino gestanden habe, weil unsere Gespräche über den letzten Film so spannend und inspirierend waren, dass wir einfach nicht nach Hause gehen wollten.


Das Interview mit Elisa Jochum führte Jutta Brendemühl, Programmkuratorin des Goethe-Instituts Toronto und Bloggerin bei German Film @Canada. Leicht gekürzte Fassung des englischen Originaltextes.

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