Text und Textilien

NadinReschke_bangaloREsident
NadinReschke, bangaloREsident 2019 | © Goethe-Institut / Max Mueller Bhavan Bangalore

Die Künstlerin Nadin Reschke arbeitet mit Textilien, erkennt, liest und interagiert mit ihrem Umfeld, der Stadt und ihren Mitmenschen durch Textilien jedweder Art.

Meist heißt es bei ihr einfach: I’m working with textiles. Klingt zunächst einfach und nach Näherin oder Modedesignerin und viele versuchen auch, sie in diese Kategorien einzuordnen. Gerade hier in Indien, erzählt sie, mit Textilarbeit oft die Fortführung einer bestimmten Tradition oder Vertiefung einer bestimmten Expertise verbunden, wie zum Beispiel die Gestaltung der detailreichen, floralen und teilweise religiös motivierten Bilder eines Kalamkari. Nadin dagegen entzieht sich absichtlich der festen Verortung und Kategorisierung: „Ich lebe davon, dass ich eben nicht verortet bin, sondern zwischen ganz vielen verschiedenen Kontexten immer wieder Grenzüberschreitungen wage und mich irgendwo reinbegebe, wo vielleicht noch nie eine Künstlerin war – wo immer wieder die Frage auftaucht, wer bist du eigentlich, was machst du eigentlich, was ist das eigentlich? Deswegen finde ich wichtig, sich gerade nicht zu verorten. Das schließt etwas ab und das finde ich schade, weil ich in den Projekten immer wieder erlebe, dass, je nachdem, mit wem ich zusammenarbeite, die Rezeption meiner Persona immer wieder eine völlig andere ist. Wenn ich neben dem Weber sitze und wir beide den gleichen Stoff anfassen, dann sieht er mich vorrangig nicht als high above the air flying artist, sondern er begegnet mir in dem Moment einfach als eine interessierte Person. Das sind für mich die spannenden Momente, in denen diese Grenzüberschreitungen stattfinden.“

Work in progress
Work in progress | © Nadin Reschke

Wir sitzen zusammen in ihrem Studio bei 1 Shanthi Road Studio Gallery, in dem sie die sechs Wochen ihrer bangaloREsidency 2019 – Season II verbringt. Die Fenster sind gegen die Mittagssonne mit Strohmatten behangen, hinter uns hängen diverse Bahnen von karierten, gestreiften und tiefblau unifarbenen Stoffen über einer Stellwand. Auch der Boden ist mit Kohlezeichnungen und einer großen Stoffcollage auf einer Strohmatte bedeckt. „Das ist work in progress“, lacht Nadin, als sie unsere neugierigen Blicke bemerkt.

Grenzüberschreitungen und gleichzeitig menschliche Begegnungen auf Augenhöhe mit Einheimischen sucht sie durch das Medium Textil. Aber warum gerade Textil, fragen wir. „Stoff ist wie kein anderes Material, es ist unheimlich dehnbar: Man kann es klein zusammenpacken und in die Tasche stecken, man kann gleichzeitig große Räume damit bauen und bespannen, man kann damit riesige Flächen schaffen. Dieses skulpturale Moment fasziniert mich immer wieder – wie der Faltenwurf, den Stoff automatisch macht, und das Knittern, wenn er aus der Wäsche kommt. Stoff macht alles mit, ist ein genialer Partner, und das finde ich toll.“

An example how textile create spaces within the city
Ein Beispiel, wie Textilien öffentlichen Raum einnehmen | © Nadin Reschke
Sie erzählt, wie sie mit dieser Textil-Brille zu Beginn ihres künstlerischen Schaffens durch die Stadt geht und versucht, sich selbst und ihre Mitmenschen wahrzunehmen und kennenzulernen: „Wenn ich durch die Stadt laufe, sehe ich zum Beispiel, wie jemand an verschiedenen Tagen angezogen ist. Manchmal frage ich die Leute auch danach, was sie anhaben, warum und welche Bedeutung das hat.“ Gleichzeitig beschreibt Nadin, welch starke Rolle Textilien gerade durch die Erschaffung der riesigen Flächen im urbanen Raum spielen und schafft es damit, eine völlig neue Perspektive auf eine Stadt und Bangalore zu vermitteln: „Egal, wo man ist, tauchen Textilien in jeder Art überall auf: Irgendwo wurde Wäsche aufgehängt und getrocknet. Dann werden Textilien oft verwendet, um Architekturen, die gebaut wurden, nach außen zu erweitern – durch halbe Baldachine, wie zum Beispiel den Schattenspendern auf dem Flower Market.“ Sie beschreibt, wie sie bei ihren Stadtrundgängen insbesondere auf temporäre Architekturen achtet – darauf, wie und für welche Zwecke sie angebracht sind, wie kompliziert oder einfach sie geschaffen sind und wie sie auf sehr schöne Art und Weise etwas sehr Temporäres und Leichtes haben. „Das Geniale an dem Material ist, dass es mit unserem Leben verwoben ist. Es berührt alle Lebensbereiche: Wir schlafen darauf, wir trocknen uns damit ab, wir ziehen uns damit an. Wir kreieren einen großen Teil unserer Identität in der Art und Weise, wie wir uns damit bedecken und welches Statement wir damit machen wollen.“

At the handloom weavers cooperation in Yelahanka
Bei der Handloom Weavers Cooperation in Yelahanka | © Nadin Reschke
Bangalore beeindruckt sie insbesondere durch seine Komplexität. So beschreibt sie, wie die Stadt für sie eher ungreifbarer als greifbarer wird, je länger sie hier ist. Ursprünglich hatte sie vor, ihre Arbeit in Bangalore auf die Personen im Textilsektor zu fokussieren, die an der direkten Produktion beteiligt sind.

Insbesondere interessierten sie dabei Weber, die mit Handwebstühlen arbeiten, die als zunehmende Minderheit diese lange Tradition bis heute fortführen. Eine Tradition, die bereits Mahatma Gandhi als eine Form des friedlichen Protestes verstand, indem die ärmere Bevölkerung durch die Herstellung eines eigenen Khadis und das Wissen um das Weben Selbstständigkeit und Unabhängigkeit erlangen sollte. Ursprünglich war also Nadins Vorhaben, Weber in Bangalore kennenzulernen, sie zu begleiten und mit ihnen zusammen ihr Projekt, das im Tun entsteht, zu entwickeln – bis sie, hier angekommen, realisiert, dass Bangalore als Stadt so groß und urban ist, dass die auf Handarbeit basierende Technik an den Rand gedrängt wurde und demnach weitere Besuche von Webern durch die weiten Strecken zeitlich nicht möglich sind: „Dann ist klar, dass man bei einem einmaligen Besuch nicht diese Art von Beziehung herstellen kann, aus der sich dann vielleicht Weiteres ergeben würde.“ Denn Nadin hat eine bestimmte Idee, die sie gerne während ihrer Residenz umsetzen würde: „So eine Grundidee war herauszufinden, ob es möglich wäre, einen Sari mit Text zu weben. Sodass der Text Teil des Textils ist, also in den Stoff selbst reingewebt wird.“ Der Text würde die Geschichte eines Webers erzählen, seine Tätigkeit und seinen Hintergrund, seine aussterbende Tradition und die finanziellen Mittel bzw. die Unterbezahlung beschreiben. Also eine Form des sozialen bzw. politischen Aktivismus à la Gandhi im kapitalistischen Zeitalter?

Auch gegen die Verortung als soziale und politische Aktivistin sträubt sich Nadin etwas, räumt aber ein, dass ihre Textilkunst kein l’art pour l’art ist und eben ein politisch und sozial motiviertes Grundinteresse ihrerseits beinhaltet: Eben das Interesse an dem Dialog mit der Stadt und mit den Anwohner*innen und das Interesse, ihnen durch das Medium Textil eine Plattform und möglicherweise neue Ausdrucksmöglichkeit einzuräumen.

Using the gallery at 1 Shanthi Road as studio space
Die Gallerie in der 1 Shanthi Road wird als Studio genutzt | © Nadin Reschke
Diesen Dialog durch die Arbeit am Textil erfährt und setzt sie bereits in 1 Shanthi Road um, die Nadin als den besten Ort bezeichnet, der ihr als Wohnort für die Residenz zuteilwerden konnte: „Ich habe das Gefühl, Teil einer temporären Gemeinschaft zu sein, die man selber für sich nutzen oder auch einfach mit dem Flow mitlaufen kann.“ So erzählt sie lebendig, wie in der letzten Woche der Ausstellungsraum plötzlich in einen gemeinsamen Co-Working-Raum umgewandelt wurde und sich dort neue Gespräche über das Nähen entsponnen:
Collaborating stitching in 1 Shanthi Road
Gemeinsames Nähen in der 1 Shanthi Road | © Nadin Reschke
„Ich habe angefangen, die ganzen Textilien aufzuhängen, auf dem Boden eine große Kokosmatte auszurollen und Sachen auszuprobieren. Die andere Künstlerin aus Australien, Sancintya Mohini Simpson, hat nebenan ihre Miniaturen gemalt und sofort hat sich so eine Art von sehr schöner Gleichzeitigkeit ergeben. Dann kam unsere Haushälterin durch und wollte schon die ganze Zeit wissen, was ich denn mit den Stoffen vorhabe, weil sie selber sehr geschickt mit den Händen ist. Sie hat sich dann sofort hingesetzt und angefangen, zu nähen. Dann kam die afghanische Künstlerin, Arshi Irshad, und meinte, ‚Ach Mensch Nadin wo hast du das denn gelernt, von deiner Mutter? ‘, und sie fing an, auch mitzunähen. So saßen wir zu dritt da und haben genäht. In dem Moment haben wir darüber gesprochen, wie schnell solche Prozesse eine Gemeinschaft herstellen, dadurch, dass man einfach am gleichen Stück Stoff sitzt.“

Found a tailor
Gestern fand ich einen Schneider, der meine Sachen in der 1 Shanthi Road näht. Er wollte alles über mein Leben wissen. | © Nadin Reschke
Das Resultat dieses Nachmittages sehen wir auf dem Boden auf derselben Kokosmatte und beginnen nun, Nadins Kommentar zu dessen Status als ‚work in progress‘ zu verstehen: Ihre Projekte weben und knüpfen nicht nur Stoffe, sondern eben auch soziale Bindungen, Geschichten und Beziehungen. Neben der Gemeinschaft bei 1 Shanthi Road und der gemeinsamen Arbeit, benennt sie dabei insbesondere auch Suresh Jayaram und Sandeep T.K. als außerordentlich wichtig für ihre Projekte in Bezug auf Materialbeschaffung und Netzwerke, wie zum Beispiel zu projektrelevanten Näher*innen und Textildesigner*innen.

Nur die Entfernung zu den Weber*innen lässt sie inzwischen umdenken: „Wenn es zu kompliziert ist, mit den Produzent*innen in Kontakt zu kommen, gehe ich vielleicht einen Schritt weiter und schaue, wo die Sachen enden. Sprich zu dem Reject-Markt in Okalipuram, wo ich inzwischen mehrmals war.“ Der Reject-Markt ist ein Stoffmarkt, auf dem der Stoffüberfluss, also zweite Ware, günstig verkauft wird, der vom Export zurückgewiesen wurde. Oder mit Nadins Worten „all der Müll, der zu viel produziert wurde, der die falsche Farbe für die neueste Fashion in Deutschland hat, der an der Seite einen Streifen hat und deshalb nicht genutzt werden kann.“ Mit Indien als dem zweitgrößten Textilproduzent der Welt und dem Textilsektor als dem zweitgrößten Arbeitgeber in Indien, mit dem Fashion-Wahn in den westlichen Ländern und dem Wunsch, die Produktionskette auch einmal vom anderen Ende her kennenzulernen, sticht Nadin auch mit ihrer zweiten Projektidee politisch kritisch hinterfragend und forschend in Themen des heute neoliberalen Markt- und Machtgefüges hinein und regt zum Nachdenken an.

Welche Form ihr Projekt in den nächsten zwei Wochen annehmen wird, werden wir bei ihrer Abschlusspräsentation am 22. November 2019 sehen. Feststeht, dass sich hinter dem Satz „I’m working with textiles“ weitaus mehr verbirgt, als eine der gängigen Kategorien.

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